Nomothetische versus idiographische Forschung

Nomothetische versus idiographische Forschung

Die wissenschaftstheoretische Unterscheidung zwischen nomothetischer und idiographischer Forschung geht zurück auf die Rede „Geschichte und Naturwissenschaft“ Windelbands, die dieser 1894 zum Antritt seines Rektorats an der Universität Straßburg hielt.

Windelband unterschied zunächst Mathematik und Philosophie als rationale Wissenschaften von den Erfahrungswissenschaften. Letztere teilte er dann nochmal in die nomothetischen Naturwissenschaften und die idiographischen Geisteswissenschaften.[1]

Nomothetisch (von griechisch nomos ‚Gesetz‘ und thesis ‚aufbauen‘) bezeichnet eine Forschungsrichtung, bei der das Ziel wissenschaftlicher Arbeit allgemeingültige Gesetze sind. Ihre Methoden sind experimentell, oft reduktionistisch, die erhobenen Daten quantitativ. Nomothetische Theorien abstrahieren von den Phänomenen. Diese Denkweise ist typisch für die Naturwissenschaften.

Idiographisch (von griech. idios eigen und graphein beschreiben) ist eine Forschungsrichtung, bei der das Ziel wissenschaftlicher Arbeit die umfassende Analyse konkreter, also zeitlich und räumlich einzigartiger Gegenstände ist. Ihr Hauptanwendungsbereich sind die Geisteswissenschaften.

In der Mitte zwischen beiden steht die Psychologie, die quantitative und qualitative inter- und intraindividuelle Unterschiede erforscht, um objektive Gesetze zu finden, die auf Individuen angewendet werden können. Nach Windelband untersucht die Psychologie geisteswissenschaftliche Inhalte mit naturwissenschaftlichen Methoden.[1] Die Diskussion über diese Unterscheidung wurde von Gordon Allport (1937) in die Persönlichkeitspsychologie eingeführt[2].

Für die Rechtsphilosophie übernimmt Max Ernst Mayer Windelbands Unterscheidung in das, was immer ist und das, was einmal war.

Als Beispiel aus der Ethik kann Kants Kategorischer Imperativ für die nomothetische Denkweise stehen, Sartres Gegenargument „Soll ich meine kranke Mutter pflegen oder mich der Résistance anschließen?“ für die idiographische.

Wilhelm Kamlah versteht idiographische als empirische Partikularaussagen, nomothetische als empirische Allaussagen und kritisiert Windelbands Trennung als überholt. Es habe sich gezeigt, dass auch die Geschichtswissenschaft Allaussagen („Die griechischen Koloniegründungen...“), auch die Naturwissenschaften Partikularaussagen („Der Jupiter...“) machen.[3]

Literatur

  • Gordon W. Allport: Persönlichkeit. Struktur, Entwicklung und Erfassung der menschlichen Eigenart. Klett-Verlag 1949
  • Wilhelm Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft. Straßburg: Heitz, 3. Auflage 1904

Einzelnachweise

  1. a b M. Sader, H. Weber: Psychologie der Persönlichkeit. München: Juventa 1996, S. 103ff
  2. Amelang, M. et al.: Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung, Stuttgart: Kohlhammer, 6. Auflage 2006
  3. Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens. Bibliographisches Institut, Mannheim; 2. verbess. u. erweit. Aufl. 1973

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