Mehrgenerationale Psychotraumatologie nach Franz Ruppert

Mehrgenerationale Psychotraumatologie nach Franz Ruppert

Der Theorieansatz der mehrgenerationalen Psychotraumatologie wird seit 1998 von dem Münchner Psychotherapeuten und Psychologieprofessor Franz Ruppert entwickelt. Diese Theorie erklärt die Symptome psychischer Störungen als die Folgen von unterschiedlichen Formen von Traumatisierungen und bildet die Grundlage für ein eigenes psychotherapeutisches Interventionsverfahren.

Inhaltsverzeichnis

Trauma-Begriff

Nach Ruppert liegt ein Trauma vor, wenn nach einem Erlebnis eine dauerhafte Spaltung in der Psyche eines Menschen zu beobachten ist. Ruppert unterscheidet vier Arten von Traumata:

Existenz-Trauma

Ein Existenz-Trauma entsteht durch eine lebensbedrohlich Situation, in der ein Mensch sich der potentiellen Vernichtung der eigenen Existenz hilflos ausgeliefert erlebt. Das hervorstechenste Symptom bei dieser Traumaart ist die Todesangst, die sich u.a. in Panikattacken symptomatisch zeigen kann.

Verlust-Trauma

Ein Verlust-Trauma entsteht bei Verlust oder Trennung von Personen, zu denen einen seelische Bindung besteht. Das schwerwiegendste Verlusttrauma ist der Tod der Mutter für ein Kind bis zum Alter von etwa 18 Jahren oder der Tod eines kleinen Kindes für seine Mutter. Das deutlichste Merkmal für Verlusttraumata sind Depressionen.

Bindungstrauma / Symbiosetrauma

Ein Bindungstrauma entsteht, wenn ein Mensch in dem Bindungssystem, in dem er lebt, zurückgewiesen und abgelehnt wird. Dies kann als Mobbing in einer Schulklasse oder am Arbeitsplatz geschehen. Auch die Ausgrenzung von Menschen mit besonderen ethnischen oder religiösen Merkmalen in einer Gesellschaft, kann für diese zu einem Bindungstrauma führen. Als besondere Form des Bindungstraumas hat Ruppert 2010 den Begriff des Symbiosetraumas geprägt. Er sieht hierin das Ur-Trauma eines Menschen, das durch die Frustration der kindlichen Bedürfnisse nach Körperkontakt, Nahrung, Liebe, Zugehörigkeit, emotionale Zuwendung oder emotionalen Halt entsteht. Das Kind erlebt aufgrund seiner existenziellen Abhängigkeit von seinen primären Bindungspersonen, also in erster Linie von seiner Mutter, Todesangst und Verzweiflung, die sich später in einer Tendenz zu Selbstaufgabe und extremem Rückzug äußern. Nach Ruppert gehen Formen der unsicheren Bindungen nach Bowlby und Ainsworth vor allem auf Symbiosetraumata zurück. Symbiosetraumata entstehen aus dem Kontakt eines Kindes mit traumatisierten Eltern. Die Folgesymptome der Bindungstraumata sind vielfältig. Sie umfassen Identitätsprobleme, emotionale Instabilität, Suchtmittelkonsum und süchtige Verhaltensweisen, Verlassenheitsängste und vor allem Beziehungsprobleme.

Bindungssystemtrauma

Ein Bindungssystemtrauma entsteht, wenn durch schwerwiegende Vorfälle in einem System von Bindungsbeziehungen das gesamte System traumatisiert wird. Dies ist zum Beispiel der Fall bei einem Mord oder schweren Gewalttaten, einer Vergewaltigung oder einem Inzest innerhalb einer Familie. Grundlage für die Entstehung eines Bindungssystemtraumas ist es in der Regel, dass sich zwei bindungstraumatisierte Menschen zu einem Paar zusammenfinden. Das Hauptmerkmal des Bindungssystemtraumas die die Täter-Opfer-Spaltung bei den beteiligten Personen. Jeder trägt dann irgendwann Täter- und Opferstrukturen in sich. Auf der Symptomebene können sich Bindungssystemtraumata auch in Psychosen und Schizophrenien ausdrücken.

Persönlichkeitsmodell

Zum Überleben einer Traumasituation ist es nach Ruppert notwendig, psychische Strukturen durch Abspaltung preiszugeben: Bewegungsimpulse erstarren, Wahrnehmungen verschwinden, Gefühle frieren ein und Gedanken werden inhaltsleer und wirr. Durch den Prozess der Spaltung entstehen nach Ruppert drei Persönlichkeitsanteile: Überlebens-Anteile (ÜA), Trauma-Anteile (TA) und gesunde Anteile (GA).

Modell der nach einem Trauma gespaltenen Persönlichkeit

Überlebens-Anteil

Der Überlebens-Anteil ist der Schutzmechanismus der Psyche, der in der traumatisierenden Situation das Überleben gesichert hat. So groß sein Nutzen in dieser bedrohlichen Situation ursprünglich war, steht er nun der Auflösung des Traumas am meisten im Wege, da er die vergangene Bedrohung immer noch für real hält. Der Überlebens-Anteil entwickelt daher komplexe Strategien zur Verdrängung der Trauma-Anteile, die von kontrollierendem Verhalten, Verleugnung und Sucht über esoterische Heilslehren und gewaltsame Unterdrückung anderer Menschen reichen.

Traumatisierter Anteil

Der Trauma-Anteil beinhaltet, je nach Art des Traumas, die Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit, Angst und Schmerz, die in der bedrohlichen Situation nicht zu bewältigen waren und daher abgespalten wurden. Er verursacht unbewusste Konflikte und wiederholt Situationen, die an die traumatisierende Situation erinnern. In Form von Panikattacken, plötzlichen Wutausbrüchen und kurzen, aber meist heftigen Weinkrämpfen kann er sich manifestieren.

Gesunder Anteil

Nachfolgend einige Eigenschaften, die Ruppert den gesunden Anteilen zuschreibt: Wille zur Wahrheit und Klarheit, Wunsch nach gesunden Beziehungen, Eigenverantwortlichkeit, Realitätsbezug, Willensstärke, Bereitschaft zur Anerkennung traumatischer Erfahrungen. Seine Liste umfasst noch weitere Eigenschaften und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, vielmehr lädt er professionell Arbeitende wie Klienten dazu ein, selber solche Listen anzufertigen. Nur mit Hilfe der gesunden Anteile eines Menschen können traumatische Gefühle wieder integriert werden.

Grundsatz der Therapie

Das wesentliche Ziel einer Psychotherapie im Sinne der Mehrgenerationalen Psychotraumatologie ist die Überwindung der Persönlichkeitsspaltung. Dazu sind im Prinzip drei Prozesse wesentlich: - Zurückdrängen der Überlebensstrategien, damit die gesunden Anteilen mehr Raum bekommen, - Stärken der gesunden Anteile und ihre Vorbereitung für eine Traumakonfrontation, - Begegnung zwischen den gesunden und den traumatisierten Anteilen, um diese schrittweise - gewissermaßen auf Augenhöhe - zu integrieren. Je nach Art des zu Grunde liegenden Traumas – ein Klient kann auch unter mehreren Traumatisierungen leiden – sind unterschiedliche Psychodynamiken bei der Therapie zu berücksichtigen.

Methode - Aufstellen des Anliegens

Franz Ruppert begann 1995, Erfahrungen mit der Methode der Familienaufstellung zu sammeln. Ab 1998 erkannte er, dass diese Methode zwar in der Lage ist, Traumata ans Licht zu bringen, aber bei weitem nicht ausreicht, um Traumata zu heilen. Auf der Basis seines Spaltungsmodells entwickelte er die Aufstellungsmethode zur Traumaaufstellung weiter. Das von ihm seit 2009 bevorzugt verwendete Aufstellungsformat „Aufstellen des Anliegens“ ist besonders dafür geeignet, symbiotische Verstrickungen als Folge eines Symbiosetraumas sichtbar zu machen.

Vorgehen

Die Therapie findet in Gruppen an 2 bis 3-tägigen Wochenendseminaren oder in Einzeltherapiesitzungen statt. Der Klient schildert zunächst seine aktuelle Situation und wird dann vom Therapeuten aufgefordert, sein Anliegen für eine Aufstellung zu formulieren. In seinem Anliegen kommt zum Ausdruck, wo er in seinem Entwicklungsprozess gerade steht und welcher nächste Schritt in seiner inneren Entwicklung möglich ist. Es folgt ein explorierendes Gespräch zur Familiengeschichte, in dem der Therapeut für die Aufstellung relevante Informationen und vor allem den möglichen traumatischen Hintergrund des Anliegens erfragt.

Der Klient wird anschließend vom Therapeuten aufgefordert, einen Stellvertreter für sein Anliegen auszuwählen und aufzustellen. Der Aufstellungsprozess im eigentlichen Sinne beginnt, indem der Klient in Kontakt und Interaktion mit dem Anliegen tritt. Während der Aufstellung sind die Stellvertreter frei, ihre Gefühle, Gedanken und Wahrnehmungen auszudrücken. Außer körperlicher Gewalt ist jede Art von Interaktion erlaubt.

Der Therapeut lässt die Aufstellung solange laufen, bis er eine Intervention für angemessen und hilfreich hält. Er interveniert, indem er dem Klienten z.B. seine Interpretation der Aufstellung mitteilt (z.B. „daran siehst Du, wie verstrickt Du noch mit Deiner Mutter bist“) oder – häufiger – indem er ihm Sätze vorgibt, die Teile der eigenen Bindungsgeschichte und die Folgen daraus ausdrücken (z.B.„unsere Mutter war immer unerreichbar, und wir suchen immer noch nach ihr“). In der Interaktion mit den Stellvertretern kann der Klient die Sätze des Therapeuten auf ihre Richtigkeit prüfen und gegebenenfalls modifizieren oder ablehnen.

Wesentlich ist, dass der Klient am Ende der Aufstellung in einen guten Kontakt mit seinem Anliegen kommt. Dies zeigt den erreichten inneren Fortschritt an und schützt den Klienten auch vor einer Re-Traumatisierung.

Literatur

  • Franz Ruppert: Berufliche Beziehungswelten. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg 2001.
  • Franz Ruppert: Verwirrte Seelen. Der verborgene Sinn von Psychosen. Kösel Verlag, München 2003.
  • Franz Ruppert: Trauma, Bindung und Familienstellen. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005.
  • Franz Ruppert: Seelische Spaltung und innere Heilung. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2007.
  • Franz Ruppert: Symbiose und Autonomie. Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010.

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