Musikgrafik

Musikgrafik

Die Musikgrafik ist primär eine Partitur, ein Zeichensystem für musikalische Ereignisse mit Handlungsanweisungen für den Interpreten. Die Zeichen sind mehr oder weniger eindeutig festgelegt. Die präzise Notation und Eindeutigkeit der Zeichen, wie man sie aus der traditionellen Notenschrift her kennt, wird jedoch zugunsten einer erweiterten Interpretationsfreiheit aufgegeben.

Die grafische Gestaltung spielt dabei eine bedeutende Rolle: Je beliebiger und freier die Musikzeichen werden, umso wichtiger wird die assoziative Komponente und umso stärker wird sie die Realisierung der Grafik durch den Interpreten beeinflussen. Gestaltung der Partitur und Anordnung der Zeichen können schließlich vollkommene Selbständigkeit erlangen und die musikalisch-akustische Funktion der Grafik kann schließlich zugunsten der optisch-visuellen mehr oder weniger, im Extremfall sogar ganz, zurücktreten. Solche Grafiken können - in gewissen Grenzen - jeweils beliebig und immer neu interpretiert werden.

Auch der Schritt zur Visuellen Musik, wie sie besonders von dem Berliner Komponisten Dieter Schnebel entwickelt wurde, ist für geübte Augen und Ohren von hier aus nicht mehr weit: Rein optisch provozieren viele Bilder bereits einen Höreindruck. Das Aufgezeichnete braucht nicht mehr zu erklingen, es lebt bereits in der Imagination des Betrachters (»Hörbilder», «Hörtexte«). Die Dauer sowie die instrumentale Besetzung der Kompositionen sind häufig freigestellt. Die Thematik der Werke bleibt teils immanent musikalisch, teils bewegt sie sich aber auch in außermusikalischen Bereichen. Positiv ist zu verzeichnen, dass sich immer mehr typische Zeichenmuster durchsetzten, an die sich Komponisten wie Interpreten halten mussten, soll nicht die ganze Idee in einer babylonischen Sprachverwirrung zusammenbrechen.

Einen großen Anteil daran hatte die Verbreitung von Erhard Karkoschkas Lexikon „Das Schriftbild der Neuen Musik“ (1966, Moeck-Verlag Wolfenbüttel): Schwarze Farben bedeuten mittlerweile durchweg große Lautstärken (im Gegensatz zu Weiß). Verdichtungen bedeuten ein Schnellerwerden, Kreise sind punktuelle Aktionen. Rechtecke definieren Klang-Flächen, um nur einige Zeichen zu nennen.

Musikalisch war die Musikgrafik der 60er und 70er Jahre ein Hauptzweig der künstlerischen Aleatorik und eine Gegenreaktion auf den seriellen Konstruktivismus der fünfziger Jahre. Dessen Material-Strukturierung beschränkte sich auf Kunstgriffe in betont mathematisch-abstrakter Weise. Wesentliche Aufgabe des Zuhörers war es, diese Kunstgriffe der konstruktiven Werkgestaltung im Lesen und Hören intellektuell nachzuvollziehen.

Zu kurz kam häufig dabei das emotionale Mit - und Nacherleben der Aussage eines Menschen, welcher sich in der Gesamtheit seiner Existenz nicht nur mit Zahlen und abstrakten Formproblemen auseinandersetzen will. Mit der Musikgrafik kommen dank der eingeplanten improvisatorischen Elemente wieder Spontaneität und Ausdruckswille des Interpreten zur Geltung, die zwar - gemessen an dem traditionellen Hörverständnis - immer noch abstrakt und subjektiv vermittelt, vom Publikum aber dennoch leichter nachzuvollziehen waren.

Abzugrenzen sind Musikgrafiken von Musik-Nachzeichnungen, die recht genaue Aufzeichnungen akustischer Ereignisse liefern und auch von Computern durchgeführt werden können. Im Gegensatz zur Musikgrafik, welche die zu erklingende Struktur vorgibt, zeichnet die Musikzeichnung eine vorgegebene Struktur nach oder überträgt, um eine modische Variante zu nennen, akustische Schwingungen etwa einer Mozart-Sinfonie auf Textilien.

Musikgrafiken sind außerdem nicht zu verwechseln mit Collagen aus dem Bereich von Grafik und Malerei, wo einzelne musikalische Zeichen oder ganze Partitur-Ausschnitte collagenhaft in das Gesamtbild mit einbezogen werden. Diese Arbeiten verstehen sich nicht als Partituren für Musiker, sondern verwenden die musikalischen Zeichen primär für außermusikalische Zwecke - ein wichtiges Abgrenzungskriterium gegenüber dem Bereich der visuellen Kunst.

Historisch scheint die Musikgrafik mittlerweile seit den 80er Jahren ein abgeschlossenes Phänomen zu sein. Erstmals verwendet wurde sie im Jahre 1952 vom amerikanischen Komponisten Earle Brown. In Europa machte sie der Österreicher Roman Haubenstock-Ramati bekannt. Auch der amerikanische Komponist John Cage hat Musikgrafiken veröffentlicht. Zeitweise komponierten mit musikgrafischen Elementen auch Komponisten wie Christoph Penderecki, György Ligeti und andere.

Eine Endstufe markieren solche Formen der Visuellen Musik, die im Sinne der musikalischen Concept-Art eine Musik erfinden, welche nicht mehr aufgeführt werden kann, um so die Materialisierung der Idee auszuschließen. Auch meldeten sich Musiker wie Mauricio Kagel oder Sylvano Bussotti zu Wort, die das Erreichte wieder ironisch in Frage stellten, wenn sie an bestimmten Stellen der Partitur bildnerische oder sprachliche Elemente zersetzend einbauten. Für die Befreiung der Musik aus ihren konstruktiven Zwangen war die Musikgrafik jedoch wichtig und damit richtungweisend bei der Entwicklung einer Musik, die wieder mehr auf den Hörer zugeht. Und nicht nur auf den Hörer, wie etliche Ausstellungen beweisen, wo Musiker ihre Werke in Galerien oder Kunsthäusern präsentierten.

So geschehen erstmals im Oktober 1980 im Stuttgarter Kunsthaus Schaller: Erhard Karkoschka und Reinhold Urmetzer zeigten in Zusammenarbeit mit dem Amerika-Haus und dem Kulturamt der Stadt Stuttgart Werke von Earle Brown (sein »December 1952« gilt als die erste grafisch notierte Partitur überhaupt), Roman Haubenstock-Ramati, John Cage, Anestis Logothetis, Erhard Karkoschka, Reinhold Urmetzer, Klaus Feßmann u.a., die auch in Konzertveranstaltungen in Musik umgesetzt wurden.

Literatur

  • Erhard Karkoschka, „Das Schriftbild der Neuen Musik“ (1966)

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