Nachträglichkeit

Nachträglichkeit

Der psychoanalytische Begriff „Nachträglichkeit“ taucht im Laufe von Freuds Text auf: Freud benutzt das geläufige Adjektivadverb nachträglich, das er oft unterstreicht; allmählich erscheint das Substantiv die Nachträglichkeit. Der Begriff weist auf eine psychische Umarbeitung von vergangenen Erlebnissen und Erinnerungen, denen ein neuer Sinn gegeben wird. Bei «Emmas Fall» (der ist im 2. Kapitel über „die hysterische Psychopathologie“ von Freuds Entwurf zu lesen), betrifft er das «doppelte Trauma». Es handelt sich um eine psychoanalytische Auffassung der Zeit und der Kausalität, welche nicht mehr geradlinig ist.

In mehreren Publikationen hat Gerhard Dahl untersucht, dass sich hinter dem Begriff der Nachträglichkeit eine der bedeutsamsten Konzeptionen von Sigmund Freud verbirgt, die merkwürdiger Weise in Deutschland kaum gewürdigt worden ist. Denn ohne Nachträglichkeit, eine Wortneuschöpfung Freuds, kann die Wirksamkeit der Psychoanalyse weder verstanden noch erklärt werden. Stracheys englische Übersetzung als „deferred action“, die den Eingang in die Standard Edition (1953ff) und damit weltweite Verbreitung gefunden hat, konnte nur ein einseitiges, ein rein metapsychologisch-ökonomisches, Verständnis des Konzepts im Sinne eines nachträglichen Abreagierens vermitteln, was Freud nicht gemeint hatte. Diese ausschließlich linear-deterministische Konnotation hat zu Mißverständnissen und Kritik geführt, deren Folgen noch heute in der Auseinandersetzung um den Stellenwert der äußeren Realität für die psychische Entwicklung auf der einen, und um die Bedeutung der inneren Welt auf der anderen Seite ihren Ausdruck findet. Tatsächlich umfaßt Freuds Nachträglichkeits-Begriff noch einen zweiten, rückläufigen Zeitvektor, der als „après-coup“ besonders in der französischen Literatur diskutiert wird. Unter diesem Begriff bezeichnet Nachträglichkeit nicht bloß einen einfachen Aufschub von vergangenen realen Ereignissen auf die Gegenwart, wo sie „abreagiert“ werden können; sondern es kommt ebenso auch eine rückläufige Wirkung im Sinne einer hermeneutischen Sinnsuche zur Geltung: von der Gegenwart auf die Vergangenheit.

Die Rezeptionsgeschichte dieses besonderen Konzepts ist auch eine Geschichte der Schwierigkeiten, metapsychologische Begriffe in andere psychoanalytische Kulturen zu übertragen. Keine von beiden Übersetzungen, weder das angelsächsische deferred action noch das französische après-coup, trifft den vollen Bedeutungsumfang des deutschen Begriffs. Es kommen jeweils abgrenzbare Teilaspekte zum Ausdruck, deren Bedeutung unterschiedlich interpretiert wird. Im einen Fall der deferred action rekonstruiert eine Deutung nachträglich empirische Fakten infantiler Erlebnisse, in der Hoffnung, die Gegenwart von psychoneurotischen Symptomen aus der Vergangenheit kausal erklären zu können; im anderen Fall eines après-coup erscheint Deutung als Suche, der präsymbolisch-affektiven Vergangenheit aus der Gegenwart nachträglich einen Sinn geben, um sie verstehen zu können. So sind mit den Übersetzungen des Begriffs seine beiden Zeitrichtungen, wie sie Freud im Auge hatte, tatsächlich von einander getrennt worden, was für die weitere Entwicklung der psychoanalytischen Theorie - die Trennung einer Ichpsychologie (Hartmann, Kohut, Kernberg usw.) und einer Objektbeziehungstheorie (Melanie Klein, Bion, Steiner usw.) - nicht ohne Folgen geblieben ist.

Der Begriff wird in den 1950er Jahren von Jacques Lacan bemerkt und ins Französische als der «après-coup» übersetzt: im Zusammenhang mit der französischen «Rückkehr zu Freud» (1953, «Roms Bericht»).

Der Beitrag von Jean Laplanche zum geforschten Begriff als « die Nachträglichkeit im „après-coup“ » ist dann wichtig, und «etwas ganz anderes» als Lacans französischer Begriff des «Après-coup»s: die Nachträglichkeit wird ja vielleicht zum Schlüsselbegriff von Jean Laplanches Théorie de la séduction généralisée (Theorie der verallgemeinerten Verführung), bzw. von dessen entsprechender Theorie der «Übersetzung» [des psychischen Lebens], die eine konsequente Entwicklung von Freuds Brief 52/112 (an Fliess) bedeutet.

Literatur

  • Sigmund Freud et Joseph Breuer: Études sur l'hystérie(1895), PUF, 2002, (ISBN 2130530699)
  • Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fliess 1887-1904, Ungekürzte Ausgabe, hrsg. von Jeffrey Moussaieff Masson. Deutsche Fassung von Michael Schröter, Transkription von Gerhard Fichtner, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1986 ISBN 3-10-022802-2
  • Freud, Gesammelte Werke. 19 Bände mit 8759 Seiten, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999. ISBN 3-596-50300-0
  • Freud Studienausgabe in zehn Bänden mit einem Ergänzungsband. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. ISBN 3-596-50360-4
  • Jean Laplanche - Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse (1967) Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973
  • Jacques Lacan,Schriften. (1966) Ausgew. und hrsg. von Norbert Haas. 3 Bände. Olten/Freiburg im Breisgau: Walter 1973–1980; Taschenbuchausgabe bei Suhrkamp 1975 (nur Bd. 1); sowie: Weinheim/Berlin: Quadriga 1991 ff. ISBN 3-88679-903-4 (alle drei Ausgaben sind seitenidentisch)
  • Jacques Lacan, Seminar Buch I (1953–1954): Freuds technische Schriften [Das Seminar. Olten/Freiburg: Walter 1978 ff.; Weinheim/Berlin: Quadriga 1986 ff.; Wien: Turia + Kant 2000 ff.; Wien: Passagen 2007f]
  • Jean Laplanche - * Jean-Bertrand Pontalis Urphantasie: Phantasien über den Ursprung, Ursprünge der Phantasie (1964 / 1985), Frankfurt a.M.: Fischer 1992
  • Jean Laplanche Die allgemeine Verführungstheorie und andere Aufsätze, Tübingen: Edition diskord 1988
  • Jean Laplanche Problématiques VI: L'après-coup - La „Nachträglichkeit“ dans l'après-coup, Paris, PUF, 2006, ISBN 2130555195.
  • Revue française de psychanalyse, t. XLVI, 3, « L'après-coup », 1982 et t. LXX, 3, 2006.
  • Michel Neyraut: Considérations rétrospectives sur „l'après-coup“, in Revue française de psychanalyse, 1997, n0 4, ISBN 2130485014
  • Bernard Chervet: L'après-coup. Prolégomènes in Revue française de psychanalyse, 2006, n0 3
  • Jean Laplanche: Deferred Action. In: International Dictionary of Psychoanalysis.
  • Christine Kirchhoff: Das psychoanalytische Konzept der 'Nachträglichkeit'. Zeit, Bedeutung und die Konstitution des Psychischen.Gießen: Psychosozial-Verlag. 2010.
  • Gerhard Dahl: The two time vectors of Nachträglichkeit in the development of ego organization: Significance of the concept for the symbolization of nameless traums and anxieties. Int.J.Psychoanal (2010) 91, 727-744
  • Gerhard Dahl: Nachträglichkeit, Symbolisierung. Wiederholungszwang. Psyche - z Psychoanal 64, 2010, 385 -407

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