Ungemalte Bilder

Ungemalte Bilder

Ungemalte Bilder nannte Emil Nolde seine kleinformatigen Aquarelle, die in der Zeit zwischen 1938 und 1945 entstanden.

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund

Mit dem Begriff entartete Kunst wurden während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland alle Kunstwerke belegt, die dem Schönheitsideal und der Rassenpolitik des Regimes nicht entsprachen. Darunter fielen Kunstrichtungen wie Expressionismus, Kubismus, neue Sachlichkeit und viele andere, die mit den nationalsozialistischen Ideen nicht in Einklang standen. Diese Bilder wurden aus Museen und öffentlichen Sammlungen entfernt, die Künstler mit Berufsverbot belegt, zur Emigration gezwungen oder sogar ermordet.

Befürwortete Nolde in den Anfangsjahren nationalsozialistischer Politik deren Ziele, wandte er sich von ihnen aber bald ab, nachdem seine Werke mehr und mehr das Missfallen der damaligen Kulturpolitiker erregten. Auch seine Werke wurden in der Diffamierungsausstellung Entartete Kunst gezeigt. Über tausend Bilder wurden beschlagnahmt oder zerstört. Emil Nolde wurde 1941 mit Berufsverbot belegt, jede künstlerische Tätigkeit wurde ihm untersagt. Das diktierte Malverbot traf den Künstler schwer. „Als dieses Mal- und Verkaufsverbot ankam, stand ich mitten im schönsten, produktivsten Malen. Die Pinsel glitten mir aus den Händen. […] Mit einem Schwert über dem Kopf hängend, waren mir Bewegung und Freiheit genommen“.[1]

Seit der Ausstellung Entartete Kunst fühlte er sich immer mehr in die innere Isolation getrieben. Bereits 1938 hatte Nolde angefangen in der Abgeschiedenheit seines Hauses in Seebüll kleine Formate in Aquarellfarbe zu malen. Diese Bilder waren in mehrfacher Beziehung „ungemalt“. Zum einen, weil sie nach Maßgabe des damaligen Polizeistaates überhaupt nicht entstanden sein durften und andererseits weil Nolde vor hatte, diese Blätter später in großformatige Ölbilder umzusetzen, sie also seinem Vorhaben gemäß bis dahin noch gar nicht gemalt waren. Als Vorläufer dieser Ungemalten Bilder können die Hooge-Aquarelle gelten, die einige Jahre vorher auf der nordfriesischen Hallig Hooge entstanden sind. Sie malte Nolde in einer ähnlichen Situation, nämlich in großer Einsamkeit. Eine weitere Parallele ist, dass Nolde diese Hooge-Entwürfe später großflächig in Öl ausführte.

Seit 1941 malte Emil Nolde seine kleinen Aquarelle im Geheimen und in größter Zurückgezogenheit. „Verstohlen hatte ich bisweilen in einem kleinen, halbversteckten Zimmer gearbeitet. Ich konnte es nicht lassen. Material beschaffen war mir jedoch entzogen, und es waren fast immer nur meine kleinen, besonderen Einfälle, die ich auf ganz kleine Blättchen hinmalen und festhalten konnte, meine 'ungemalten Bilder', die wirkliche Bilder werden sollen, wenn sie und ich es können.“[2] Viele dieser wurden Freunden zur Aufbewahrung gegeben.

Die äußeren Umstände zwangen Nolde zu einem anderen Malduktus. Er konnte nicht mehr in der Natur oder vor Modellen malen. Er war nun auf seine inneren Bilder angewiesen, auf seine Erinnerung und seine Vorstellungskraft. „Meistens sind es Entwürfe für figürliche Bilder, oft grotesk und wild, natürlich und auch naturfern, alle Möglichkeiten: Bewußtes und Zufälliges, Veständliches und Gefühltes nutzend.“[3]

Die Bilder

Noldes Ungemalte Bilder wurden zwar mit Wasserfarbe gemalt, sind aber keine Aquarelle im eigentlichen Sinn. Sie sind in Mischtechnik entstanden. Als Grund nahm er die Aquarellfarbe, die er auf leichtsaugendes Japanpapier auftrug, das er in großen Mengen zur Verfügung hatte. Darauf setzte er eine weitere Schicht mit Gouache und Tuscheumrissen. Die kleinen Formate hatten den Vorteil, dass sie bei eventuellen Hausdurchsuchungen schnell versteckt werden könnten. Die verwendete Wasserfarbe hatte im Gegensatz zur Ölfarbe keinen verräterischen Geruch.

Der enge, persönliche Umkreis in dem diese Bilder in einem Zimmer abseits der anderen entstanden, prägte seinen Arbeitsstil und die Wahl seiner Mittel. Mit freiem Strich, den Pinsel mit Farbe getränkt, trug er sie in verschiedenen Schichten auf das Papier und erreichte auf diese Weise höchste Farbintensität. Oft übermalte er einzelne Stellen mehrmals, manchmal auch die Rückseite des Blattes, so dass seine Farben tiefgründig zu strahlen begannen und eine Präsenz von hoher Dichte erreichten. Daneben sparte er Stellen aus, um die Struktur des Papiers hervortreten zu lassen, setzte Akzente mit zum Teil trockenen Pigmenten, oder zerschnitt ältere Papierarbeiten, um sie neu koloriert in ganz anderen Formen entstehen zu lassen. Lineare, zeichnerische Elemente mit Tuschepinsel und Feder bilden Linien und Konturen. Mit Deckweiß und Temperafarbe setzte er Akzente, hob Details hervor, gab damit einzelnen Bildteilen eine besondere Prägnanz.

Mit den Ungemalten Bildern, die sich aus etwa 1300 Arbeiten zusammensetzen, hat der damals über siebzigjährige Künstler ein reichhaltiges Alterswerk geschaffen, das sich auch heute noch durch eine außerordentliche Frische und Aktualität auszeichnet. „Die Einflüsse von Noldes Werk, besonders die der Ungemalten Bilder auf die Kunst nach 1945 reichen mit der gleichen Kraft weiter bis in die künstlerischen Bestrebungen der jüngsten Gegenwart.“[4]

Malprozess

Jolanthe Nolde, seine zweite Frau, beschreibt die Arbeitsweise des Künstlers aus eigener Anschauung. Aus seinem Vorrat an unterschiedlichen Japanpapieren, „teils dicke weiche Bögen, saugfähig wie Löschpapier, teils auch dünnere Arten, schnitt er sich die Aquarellformate aus freier Hand mit der Schere zurecht, ohne abzumessen und ohne Lineal. Für die kleinen Aquarelle, so auch die 'Ungemalten', sind die Stücke verwandt, die beim Zuschneiden übrigblieben.“

„Während des Malens geht er mit seinen Aquarellen großzügig um. Er kümmert sich wenig darum, ob von seinen Pinseln Kleckse fallen.[…] Er nimmt die Gefahr in Kauf und hat dafür die Freiheit, in ungehemmtem Fluss arbeiten zu können.“ Nolde hatte immer in mehreren Bechern fertig angerührte Farbe und mehrere Pinsel parat, um jederzeit mit der Arbeit beginnen zu können. „Die Pinsel […] sind fast alle schief, weil sie jahraus, jahrein darin [in den Farbtöpfen] stehen und dadurch verbogen wurden. Mögen die Spitzen noch so schief in der Gegend stehen, er malt mit ihnen. Manchmal sind sie auch ganz gespalten. Und doch malt er mit ihnen, auch die feinsten Striche.[…] Will er Farben mischen, so malt er entweder übereinander erst die eine Farbe und dann die andere auf das Papier, oder er nimmt den Pinsel mit der einen Farbe, taucht einen unbenutzten Pinsel in den andern entsprechenden Farbtopf und mischt auf den Pinseln.“

„Er malt so naß, daß er manchmal ein angefangenes Blatt eine Zeitlang fortlegen muß, um es erst trocknen zu lassen… Inzwischen beginnt er ein neues. Ist ihm eine Farbe nicht konzentriert genug[…], dann nimmt er wieder und wieder den Pinsel und durchtränkt an der Stelle das Papier mit der triefnassen Farbe. So kommt es, daß ein Aquarell, wenn man es gegen das Licht hält, verschieden durchsichtig ist.[…] Und plötzlich kann dann vor Licht eine ganz andere Farbwertigkeit erscheinen beim Durchsehen.[…] Da manche Farbe fünf-, sechs- und noch mehrmals wiederholt wird, kommen auch ganz merkwürdige Tiefenwirkungen zustande.“

„Er hat eine unglaublich glückliche Hand. Er malt, das Papier saugt die Farbe auf, die Farben fließen, die Grenzen wachsen, man glaubt, die Materie mache sich selbständig – und doch glückt ihm das Bild.[…] Es fließt ihm aus der Hand, eingerechnet aller Veränderungen, die ohne sein Zutun im Papier geschehen. Die Bilder ereignen sich; sie entfalten sich wie gelenkte und zugleich eigenständige Lebewesen.“[5]

weblinks

Einzelnachweise

  1. Emil Nolde, Mein Leben, Köln, 2000, S. 394 ISBN 3-7701-0913-9
  2. Emil Nolde, Mein Leben, Köln, 2000, S. 394
  3. Emil Nolde, Mein Leben, Köln, 2000, S. 403
  4. Manfred Reuther in Emil Nolde-Ungemalte Bilder, Ostfildern, o.J., ISBN 3-7757-0838-3
  5. Jolanthe Nolde in Emil Nolde-Ungemalte Bilder, Ostfildern, o.J.

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