Das tote Brügge

Das tote Brügge

Das tote Brügge (frz. Bruges-la-Morte) ist ein kurzer symbolistischer Roman des belgischen Schriftstellers Georges Rodenbach aus dem Jahr 1892, der 1903 in die deutsche Sprache übersetzt wurde. Er erzählt die Geschichte des trauernden Witwers Hugues Viane, der Zuflucht in Brügge sucht und dort der Obsession zu einer Operndarstellerin erliegt, die seiner verstorbenen Ehefrau gleicht. Das Buch ist die berühmteste literarische Beschreibung des Niedergangs der alten Handelsstadt Brügge.

In der Art beeinflusste dieser Roman auch nachfolgende Autoren wie W.G. Sebald. Der Komponist Erich Wolfgang Korngold nahm das Buch 1920 als Vorlage für seine Oper Die tote Stadt.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Hugues Viane zieht nach dem Tod seiner geliebten Frau nach Brügge. Untröstlich wie er ist, hat er sich diese Stadt ausgesucht, die in ihrer Tristesse seinem Seelenzustand ähnelt, gleichzeitig assoziiert er das tote Brügge mit seiner toten Frau. Zurückgezogen lebt er in einem Haus an einem Kanal, der einzige Mensch, mit dem er Umgang hat, ist seine alte Hausgehilfin Barbe.

In seinem Wohnzimmer hat Hugues ein Reliquiar für die Verstorbene eingerichtet: mehrere Porträts von ihr hängen an den Wänden, und auf dem verstummten Klavier liegt ihr langer, blonder Zopf, den er vor dem Grab gerettet hat, unter einem Kristalldeckel.

An jedem Spätnachmittag streift er durch die verregneten Gassen, entlang der nebligen Kanäle und grauen Häuser von Brügge. Gelegentlich geht er auch in die Kirche, denn er hofft, seine Frau nach dem Tod wiederzusehen. Das ist auch der einzige Grund, warum er sich in seinem Kummer nicht umbringt: der katholische Glaube verbietet ihm den Selbstmord.

Eines Abends, als er aus der Kirche tritt, traut er seinen Augen kaum: er sieht eine Frau, die seiner Ehefrau aufs Haar gleicht. Er verfolgt sie ein Stück, verliert sie dann aber. Eine Woche später sieht er sie wieder und geht ihr wieder nach. Er erfährt, dass sie Jane Scott heißt, Tänzerin ist und mit ihrer Truppe zweimal die Woche aus Lille anreist, um Gastspiele im Theater von Brügge zu geben.

Nach einigen Wochen spricht er sie an und trifft sich von da an regelmäßig mit ihr. Die Ähnlichkeit mit seiner Frau ist für ihn ein Wunder, er sieht seine tote Frau zurückgekehrt, und hat deshalb auch gar nicht das Gefühl, die Geliebte mit Jane zu betrügen. Er überredet Jane, das Tanzen aufzugeben und nach Brügge zu ziehen, wo er sie fortan jeden Abend in ihrem Haus besucht. Die Stadt Brügge passt sich seiner veränderten Seelenhaltung an, wirkt fröhlicher und farbiger.

Doch mit der Zeit ist die Beziehung der beiden nicht mehr so glücklich wie zu Beginn. Hugues liebt gar nicht Jane, sondern nur das, was sie für ihn darstellt: seine Frau. In ganz Brügge redet man schon über den Witwer und seine Liaison. Die sehr fromme Barbe lässt sich von ihren Freundinnen im Kloster überzeugen, bei Hugues kündigen zu müssen, sobald er die Frau mit nach Hause bringt. Und Jane selbst hat in Brügge einige heimliche Liebschaften. Hugues beginnt sie auszuspionieren.

Mehr und mehr entdeckt er nun auch störende Unterschiede zu seiner Frau: Janes langes blondes Haar ist nur gefärbt, sie schminkt sich grell, lässt sich gehen, neigt zu Streit. Eine Predigt in der Kirche über den Tod öffnet Hugues die Augen: Er entwickelt gegenüber seiner Frau furchtbare Schuldgefühle und fürchtet, sie nun auch im Tod nie wiederzusehen. Der Versuch, Jane und seine Frau zu verschmelzen, indem Jane ein Kleid der anderen anzieht, misslingt.

Dennoch glaubt Hugues nun, Jane zu lieben und will sie um jeden Preis in Brügge halten. Sie willigt ein, überzeugt, dass Hugues ohnehin bald stirbt und sie dann sein reiches Erbe erhält. Anlässlich einer katholischen Prozession kündigt sie sich bei ihm zu Hause an, woraufhin die alte Barbe sofort kündigt. Jane amüsiert sich im Wohnzimmer über die Porträts der Frau, die ihr gleicht. Zum Spaß greift sie sich den Zopf im Kristallsarg und legt ihn sich um den Hals. Wie wahnsinnig beginnt Hugues eine Verfolgungsjagd durchs Wohnzimmer. In seiner Raserei packt er Jane und zieht den Zopf um ihren Hals zu, bis er sie erdrosselt hat.

Interpretation

Im Vorwort zu Das tote Brügge macht Rodenbach bereits eine wichtige Interpretation deutlich: „die Stadt als Hauptfigur, verbunden mit den Gemütszuständen, die berät, abbringt, zum Handeln anregt.“

Hugues Viane, der traurige Witwer, erkennt in Brügge die Stadt, die seiner unendlichen Trauer und Melancholie gleicht, sein Inneres äußerlich repräsentiert: durch verlassene Straßen, düstere Kanäle, stumme Häuserfassaden und den stets präsenten Nebel und Nieselregen.

Als Hugues Jane kennenlernt, ändert sich mit seinem Gemütszustand auch die Stadt; sie wird heller, sonniger, freundlicher, offener. Doch mit den Problemen in der Beziehung kehrt auch die düstere Melancholie nach Brügge zurück.

Fotografien

Rodenbach hat seinen Roman mit 35 Fotografien illustriert, um die Atmosphäre der Stadt dem Leser auf Anhieb nicht nur sprachlich, sondern auch optisch zu vermitteln. Fotos waren und sind in der ernsthaften Erwachsenenliteratur unüblich; Rodenbach wurde für sein Vorgehen kritisiert. In gewisser Weise hat er damit aber eine neue Kunstform geschaffen.

Rodenbachs Roman hat den Maler Fernand Khnopff zu einer Serie von Zeichnungen inspiriert. Khnopff hat außerdem ein Titelbild für Das tote Brügge gemalt.

Das tote Brügge und der Symbolismus

Rodenbachs kurzer Roman gilt als wichtiges Dokument des französischsprachigen Symbolismus. Diese Kunstströmung des späten 19. Jahrhunderts hatte zum Ziel, darzustellen, ohne zu zeigen. Das Symbol, das der Künstler darstellen will, muss der Rezipient anhand der vielen und häufig eindeutigen Umschreibungen selbst erkennen.

Das tote Brügge verwirrt in erster Linie durch die Bebilderung mit Stadtansichten, wie oben beschrieben: Wenn die Stadt Brügge das Symbol der Trauer und der Melancholie ist, war es dann noch notwendig, es explizit bildlich darzustellen?

Doch man findet noch andere für den Symbolismus typische Anzeichen im Text:

  • die Idealisierung der Frau und die Exklusivität der einen großen Liebe,
  • die morbide Atmosphäre, die durch eine irrationale Verehrung der Toten entsteht,
  • die Assoziation der toten Frau mit der toten Stadt,
  • die unterschwellige Spiritualität.

Ausgaben

Literatur

  • Paul Gorceix: Réalités flamandes et symbolisme fantastique: Bruges-la-Morte et le Carillonneur de Georges Rodenbach. Lettres Modernes, Paris 1992, ISBN 2-256-90448-2
  • Paul Gorceix: „Bruges-la-Morte“, un roman symboliste. In: L’information littéraire 37, 1985, S. 205-210. (frz.)
  • Lynne Pudles: Fernand Khnopff, Georges Rodenbach, and Bruges, the Dead City. In: The Art Bulletin, Bd. 74, Nr. 4 (Dez. 1992), S. 637-654.

Weblinks


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