Die Große Mutter

Die Große Mutter

Der Mutterarchetyp (auch: "Große Mutter", "Urmutter") ist einer der wichtigsten Archetypen in Carl Gustav Jungs Analytischer Psychologie. Ihm entspricht auf männlicher Seite der Vater-Archetypus.

Inhaltsverzeichnis

Charakteristik

Er steht für die insbesondere im männlichen Unbewussten verankerte Vorstellung einer gebärenden, Schutz gewährenden Frau, hat aber auch ambivalente und negative („nefaste“) Aspekte, so etwa in der Form der zerstörenden, verschlingenden Mutter. Kennzeichnend für „das Mütterliche“ sind „das Gütige, Hegende, Tragende, das Wachstum, Fruchtbarkeit und Nahrung spendende“, „die Weisheit und die geistige Höhe jenseits des Verstandes“, „die magische Autorität des Weiblichen“. Der Archetyp steht für eine „Stätte der magischen Verwandlung, der Wiedergeburt“, für „den hilfreichen Impuls, das Geheime, Verborgene, das Finstere, den Abgrund, die Totenwelt“, aber auch das „Verschlingende, Verführende, Vergiftende, das Angsterregende und Unentrinnbare“.

Bei Jungen steht der Mutterarchetyp in enger Verbindung zur Anima, einem weiteren wichtigen Archetyp, der die weiblichen Züge in der Psyche des Mannes verkörpert. Die Herauslösung der Anima aus dem Mutterarchetyp stellt einen wichtigen Schritt im männlichen Entwicklungsprozess dar.

Erscheinungsformen

Als Erscheinungsformen auf einer alltäglichen Ebene nennt Jung neben der persönlichen Mutter Stief- und Schwiegermutter, Amme und Kinderfrau; dazu kommen die Ahnfrau, die Weiße Frau der Volksmythen. Auf einer höheren Ebene schlägt sich der mütterliche Anima-Archetyp in allen Formen weiblicher Gottheiten nieder, angefangen von Isis, Kybele, Astarte, Parvati, Mitra und Al-Lat über Gaia und Demeter, Hera und Aphrodite bis hin zur christlichen Mutter Gottes (vgl. auch Liste der weiblichen Gottheiten). Die Große Göttin von Chaldäa hieß Magna Dea.

Aber auch Abstrakta wie Kirche ("Heilige Mutter Kirche") und Universität ("Alma mater"), das (eigene) Land (bzw. Stadt) werden genannt, weiter Himmel und Erde, Wald, Meer und stehende Gewässer, die Materie, die Unterwelt und der Mond. Dazu kommen als "Geburts- und Zeugungsstätten" Acker, Garten, Fels, Höhle, Baum, Quelle, tiefe Brunnen sowie das christliche Taufbecken. Weitere Ausprägungen der Mutter-Archetyps sind nach Jung "hilfreiche" Tiere wie Kuh und Hase, aber auch viele Blumen, insbesondere wenn sie als "Gefäß" auftreten (Rose, Lotos) oder in Mandalas aufgegriffen werden, sowie überhaupt jede - an die Gebärmutter erinnernde - Hohlform wie Topf, Backofen oder auch die (Schrauben)mutter.

Ambivalente Mutter-Archetypen sind insbesondere die in vielen Kulturen anzutreffenden Schicksalsgöttinnen wie Parzen, Nornen oder Graien. Als nefaste Mutter-Archetypen werden alle verschlingenden bzw. umschlingenden Tiere wie Drachen, Schlangen und große Fische (vgl. Jonas und der Wal) betrachtet, weiter das Grab, der Sarkophag, die Wassertiefe, der Tod, Hexen und Nachtmahre sowie alle Arten von „Kinderschreck“.

Wirkungen

Der Mutter-Archetyp entfaltet seine Wirkung zum einen in Träumen, dort insbesondere auch in seiner nefasten Ausprägung, etwa als den Träumer verschlingendes Meer. Aber auch die Mythen, Sagen und Märchen aller Völker sind voll von Göttinnen, weisen Frauen, Hexen, Drachen, von verwunschenen Wäldern und Gärten, von geheimnisvollen Höhlen, Brunnen und dergleichen. Eine besondere, in gewisser Weise redundante Ausprägung erfährt der Mutter-Archetyp in der Gestalt der Wasserfrau, vgl. auch Nixe und Meerjungfrau. Die - erfolgreiche - Herauslösung der Anima aus dem Mutterarchetyp wird insbesondere in den verbreiteten Märchen und Sagen thematisiert, in denen ein Ritter einen Drachen (=Mutterarchetyp) töten muss, um die Hand einer Prinzessin (=Anima) etc. zu gewinnen.

In der neueren Belletristik wird die Große Mutter, der Mutterarchetyp insbesondere in Hermann Hesses Roman Demian thematisiert, wo er als "Frau Eva" auftritt.

Pathologische Folgen

Nach Jung projiziert das Kind häufig den im kollektiven Unbewussten der Menschheit angelegten Mutter-Archetyp auf seine persönliche Mutter bzw. deren Vertreterin und schreibt ihr dadurch Eigenschaften zu, die ihr selbst gar nicht anhaften. Dies kann zur Entwicklung kindlicher Neurosen führen und insbesondere die Entstehung eines Mutterkomplexes begünstigen. Ähnliche Wirkungen sind zu erwarten, wenn die entwicklungspsychologisch erforderliche Herauslösung der Anima aus dem Mutterarchetyp nicht gelingt.

Der so entstandene Mutterkomplex wiederum kann gemäß der ursprünglichen jungianischen Theorie bei Jungen u.a. zu Homosexualität, Donjuanismus und Impotenz führen, bei Mädchen zu einer Hypertrophie des Mütterlichen („Bemutterung“ der eigenen Kinder), zu einer Übersteigerung des Eros, zu einer übertrieben engen Bindung an die eigene Mutter, aber auch zu deren völliger Ablehnung.

Zitat

„Meine Mutter war mir eine sehr gute Mutter. Sie hatte eine grosse animalische Wärme..., eine ausgesprochene literarische Begabung, Geschmack und Tiefe. Aber das kam eigentlich nirgends recht zum Ausdruck; es blieb verborgen hinter einer wirklich lieben dicken alten Frau... Sie hatte alle hergebrachten traditionellen Meinungen, die man haben kann, aber handkehrum trat bei ihr eine unbewusste Persönlichkeit in Erscheinung, die ungeahnt mächtig war - eine dunkle grosse Gestalt, die unantastbare Autorität besass - darüber gab's keinen Zweifel.“

C.G. Jung über seine Mutter [1]

Nachweise

  1. Seiten der C.G. Jung Gesellschaft

Literatur

  • Carl Gustav Jung, Die psychologischen Aspekte des Mutter-Archetyps (1938), abgedruckt in: C.G.Jung, Archetypen, München 1990, ISBN 3-423-35125-X, S. 75ff.
  • Erich Neumann, Die große Mutter, ISBN 3-530-60862-9
  • Bernard A. Lietaer, Mysterium Geld. Emotionale Bedeutung und Wirkungsweise eines Tabus, ISBN 3-570-50009-8

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