Erlernte Hilflosigkeit

Erlernte Hilflosigkeit

Erlernte Hilflosigkeit bezeichnet das Phänomen, dass Menschen und Tiere infolge von Erfahrungen der Hilf- oder Machtlosigkeit ihr Verhaltensrepertoire dahingehend einengen, dass sie als unangenehm erlebte Zustände nicht mehr abstellen, obwohl sie es (von außen betrachtet) könnten. Der Begriff wurde 1967 von den amerikanischen Psychologen Martin E. P. Seligman und Steven F. Maier geprägt, die auch Versuche mit Hunden durchführten.

Inhaltsverzeichnis

Erlernte Hilflosigkeit bei Menschen

Erlernte Hilflosigkeit ist ein Modell, um menschliche Depressionen zu erklären, die eine Folge sein können, wenn Lebensumstände eine Person dazu verleiten, persönliche Entscheidungen als irrelevant wahrzunehmen:

Umgebungen, in denen Personen Ereignisse erleben, bei denen sie sich hilflos fühlen oder tatsächlich hilflos sind: Wiederholtes Versagen, Behinderung, miterlebte Todesfälle, Gefängnis, Krieg, Obdachlosigkeit, Hungersnot und Dürre können erlernte Hilflosigkeit herbeiführen. Weitere Beispiele sind Gefangene von Konzentrationslagern oder Arbeitslagern. Häftlinge in Lagern wie Auschwitz, die völliger Apathie verfallen waren, wurden als Muselmänner oder lebende Tote bekannt. Moderne Beispiele sind u.a. psychiatrische Anstalten und Pflegeheime, in denen die Patienten lange Zeit handlungsunfähig waren.

Nicht alle Individuen reagieren mit Depression auf eine Situation der Hilflosigkeit; laut Seligman kennzeichnet ein bestimmter Attributionsstil Personen im Zustand der erlernten Hilflosigkeit, sie betrachten Probleme als:

  • persönlich: Sie sehen in sich selbst das Problem und nicht in den äußeren Umständen.
  • generell: Sie sehen das Problem als allgegenwärtig und nicht auf bestimmte Situationen begrenzt.
  • permanent: Sie sehen das Problem als unveränderlich und nicht als vorübergehend.

Das Learned-Helplessness-Experiment

Den Versuchsaufbau bezeichnet man auch als triadisches Design, da die Versuchstiere in drei Gruppen eingeteilt werden. Das Learned-Helplessness-Experiment läuft in zwei Phasen ab.

  • Phase 1: Während dieser Phase wird
a) Eine Gruppe von Hunden kurzen elektrischen Schocks ausgesetzt, welche sie durch eine bestimmte Reaktion verhindern können. Diese Reaktion ist in der Regel die Betätigung eines kleinen Hebels oder das Drehen eines Rades. Mit der Zeit lernen die Hunde, sofort nach Einsatz des Schocks die terminierende Reaktion zu zeigen – sie demonstrieren also Fluchtverhalten.
b) Eine zweite Gruppe von Hunden befindet sich in einer sogenannten Yoked-Bedingung. Sie befinden sich zur gleichen Zeit wie die erste Gruppe in einer ähnlichen Umgebung und werden ebenfalls den Schocks ausgesetzt. Jedoch kann diese Gruppe nichts gegen die aversiven Reize unternehmen – ihr Verhalten hat keinerlei Einfluss auf die Schocks. Yoked bedeutet, dass diese Gruppe an die erste Gruppe „angebunden“ ist: Sie erhalten jedes mal, wenn die erste Gruppe geschockt wird, ebenfalls einen Schock. Somit wird sichergestellt, dass beide Gruppen die gleiche Anzahl von Schocks erfahren.
c) Eine dritte Gruppe von Hunden wird als Kontrollgruppe eingesetzt. Während der ersten Phase befindet sie sich in einem ähnlichen Apparat wie die beiden anderen Gruppen, sie erfährt jedoch keinerlei Schocks.
  • Phase 2: Während dieser Phase werden alle drei Gruppen in einer Shuttle-Box trainiert. Eine Shuttle-Box besteht aus zwei identischen Boxen (compartments), die über einen Durchgang miteinander verbunden sind. Das Versuchstier wird in eine der beiden Boxen gesetzt und einem Schock ausgesetzt. Es kann diesem Schock nun einfach entgehen, indem es in die andere Box wechselt. Bei One-Way-Shuttle-Experimenten wird das Tier in jedem Durchgang in eine bestimmte Box gesetzt. Bei Two-Way-Shuttle-Experimenten wechselt das Tier stets von einer in die andere Box und die Schocks werden auf abwechselnden Seiten verabreicht.
Im Learned-Helplessness-Design werden alle drei Versuchsgruppen dem Two-Way-Shuttle-Training unterzogen.
  • Ergebnis: Die erste Gruppe, welche in Phase 1 den Schock mit ihrem Verhalten beenden konnte, lernt sehr schnell, dem Schock im Shuttle-Box-Training zu entgehen. Mit der Zeit lernen die Tiere nicht nur, den Schock durch einen Wechsel in die andere Box zu terminieren, sondern diesen durch einen vorzeitigen Wechsel gänzlich zu vermeiden (Vermeidungslernen).
Auch die Kontrollgruppe, die die erste Phase ohne Schocks erfuhr, demonstriert Vermeidungslernen und unterscheidet sich darin nur in der langsameren Lerngeschwindigkeit von der ersten Gruppe.
Die zweite Gruppe jedoch, welche in Phase 1 Schocks unabhängig von ihrem Verhalten erfahren hatte, lernt (wenn überhaupt) nur sehr langsames Flucht-Vermeidungsverhalten. Die Hunde bleiben oft lethargisch in einer Box liegen und lassen die Schocks über sich ergehen.

Die Übertragbarkeit auf den Menschen dieser, heute als ethisch fragwürdig angesehenen Experimente, wird von Kritikern als nicht belegt angesehen.

Hypothesen zur Erklärung

Zu den gefundenen Ergebnissen gibt es drei vorherrschende Hypothesen.

Learned-Helplessness-Hypothese

Diese Hypothese wurde von Seligman selbst aufgestellt. Es ist sehr wichtig, zwischen dem oben beschriebenen Learned-Helplessness-Experiment und der danach aufgestellten Learned-Helplessness-Hypothese zu unterscheiden. Das Experiment demonstriert ein bestimmtes Phänomen. Die Hypothese unterstellt indessen einen Versuch einer Erklärung für dieses Phänomen.

Seligman nahm an, dass die Hunde, die in der ersten Phase den unkontrollierbaren Schocks ausgesetzt worden waren, gelernt hatten, hilflos zu sein. Sie hatten gelernt, dass ihr Verhalten keinerlei Einfluss auf bzw. keinerlei Konsequenzen in der Umwelt hatten. Deshalb konnten sie in der zweiten Phase nur sehr schwer die Assoziation zwischen ihrer Reaktion und der Konsequenz der Schockvermeidung lernen.

Seligman (und andere) übertrugen diese Erkenntnisse auf menschliche Verhaltensweisen und bauten so einen Zusammenhang auf zwischen Hilflosigkeit, Angst, Depression und Apathie.

Inaktivitätshypothese

Eine zweite Hypothese unterstellt, dass die Hunde der zweiten Gruppe deshalb das Vermeidungsverhalten nicht lernten, da sie sich inaktiv verhielten. In der ersten Phase hatten sie möglicherweise verschiedene Verhaltensweisen ausprobiert – keine konnte den Schock jedoch beenden. Somit lernten sie, inaktiv zu sein, da ihnen die biologischen Kosten, eine bestimmte Reaktion zu zeigen, vergebliche Mühe zu sein schienen.

Unaufmerksamkeitshypothese

Eine dritte Theorie schreibt das Lerndefizit der Hunde deren Unaufmerksamkeit zu. Während der ersten Phase waren die Hunde noch aufmerksam und versuchten, die Konsequenzen verschiedener Verhaltensweisen auf die Umwelt zu erfassen. Jedoch führte keine Reaktion zu den angestrebten Folgen. Somit wurden die Hunde unaufmerksam. Ihr Lerndefizit während der zweiten Phase hängt demnach nur damit zusammen, dass sie ihrem Verhalten und dessen Konsequenzen in der Umwelt keine Aufmerksamkeit widmen.

Literatur

  • Martin E. P. Seligman (1975). Helplessness. On Depression, Development and Death. San Francisco: Freeman and Comp. ISBN 0-7167-0751-9
  • Martin E. P. Seligman (1979). Erlernte Hilflosigkeit. München, Wien, Baltimore: Urban und Schwarzenberg. ISBN 3-541-08931-8; ISBN 3407220162
  • L. Y. Abramson, M. E. P. Seligman, J. D. Teasdale: Learned Helplessness in Humans: Critique and Reformulation. in: Journal of Abnormal Psychology, 1978, Vol. 87, No. 1, 49 - 74.
  • Heinz Scheurer: Zur Psychotherapie der erlernten Hilflosigkeit: Ein Erkenntnis- und Behandlungsansatz der Verzweiflung. In: Kick, Hermes Andreas und Günter Dietz (Hrsg.): Verzweiflung als kreative Herausforderung. Münster: Lit-Verlag 2008, S. 41 - 57

Siehe auch


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