Ethnografische Interviews

Ethnografische Interviews

Das ethnografische Interview soll im Rahmen von qualitativen Interviews helfen, Einblicke in die Lebenswelt und den Alltag von Konsumenten/Personen und ihre kulturabhängige Werteorientierungen zu geben. Dabei werden Konsumenten in ihrem natürlichen Umfeld bzw. im Alltags-Setting (zu Hause, im Fahrzeug, auf der Straße etc.) beobachtet und zu Gewohnheiten und Bedürfnissen befragt. Ein spezielles Merkmal des ethnografischen Interviews ist, dass das Interview erlaubt, sich bei den Antworten überraschen zu lassen. Es ist also nicht elementar, dass schon vorher Vorannahmen und Vermutungen über Erkenntnisse aus dem ethnografischen Interview bestehen, vielmehr lebt das Interview auch von einem gewissen "Nicht-Wissen". Trotzdem hat das Interview im Ablauf eine gewisse Struktur und zählt somit zu der Kategorie der Leitfadeninterviews.

Inhaltsverzeichnis

Theoretische Grundlagen

Definition der Ethnografie: Die Ethnografie ist ein Teilbereich der Ethnologie oder Völkerkunde, die Wurzeln liegen in der Sozialanthropologie. Ethnografie ist eine spezielle Form der völkerkundlichen Forschung, deren zentrales Anliegen es ist, das Leben fremder Gruppierungen aus deren Sichtweise zu verstehen. Dabei geht es nicht unbedingt um die Betrachtung von Völkern oder Kulturen, sondern auch um kleinere, oftmals multikulturelle Gruppen wie die Bevölkerung eines Stadtteiles oder die Belegschaft eines Büros. Im angelsächsischen Sprachraum, wird der Begriff Ethnografie manchmal auch gleichbedeutend mit „qualitativer Forschung“ verwendet.

Die Ethnografische Forschungsmethodik

Inhalt eines Ethnografischen Interviews ist die Erforschung von Motiven und Einstellungen zu unterschiedlichen Themen des Alltags oder der Lebenswelt des Befragten. Als grundlegendes Ziel sieht man, dass man die untersuchte Teilgruppe aus Sicht des Informanten, d.h. des Interviewten, kennen lernt. Es geht darum zu verstehen, welche Fakten und Kenntnisse für den Interviewten wichtig sind und wie sein Wissen mit dem Kontext der Gemeinschaft oder Kultur zusammenhängt. Aus diesem Grund muss man alle Erkenntnisse aus Ethnografischen Interviews immer auch in ihrem weiteren kulturellen Kontext sehen.

Die meisten Erkenntnisse erhält man, indem man teilnehmende Beobachtung und ein erkundendes Gespräch, das Interview selbst, miteinander verknüpft. Durch die Beobachtung können Diskrepanzen zwischen einer Aussage im Interview und der tatsächlichen Handlung aufgedeckt werden. Wichtig ist jedoch, dass der Fokus stets auf dem Interviewten in seinem natürlichen, alltäglichen Umfeld liegt, z.B. Wie geht die Person mit bestimmten Geräten im Haushalt um? Was macht die Person während einer Autofahrt im Fahrzeug? Videoaufzeichnungen gehören zu den gängigen Aufzeichnungsmethoden der Ethnografie und haben sich insbesondere in der Feldforschung bewährt, vor allem aufgrund der Möglichkeit der Dokumentation von Emotionen, Handlungsvorgängen, Bildern etc.. Weitere Aufzeichnungsmethoden sind „notetaking“ und Aufzeichnungen mittels Diktiergerät.

Kennzeichen ethnografischer Interviews

  • das Interview ist meist halbstrukturiert mit einigen zuvor festgelegten Leitfragen
  • der Interviewte führt das Gespräch mit seinen Antworten (ähnlich dem narrativen Interview, siehe narratives Interview)
  • das Interview will Tatsachen aufdecken, ist allerdings nicht an deren statistischer Validität oder Häufigkeit interessiert
  • es geht viel mehr darum zu verstehen, was genau für den Interviewten wichtig ist und wie sein Wissen Kontext der Gemeinschaft oder Kultur zu betrachten und zu bewerten ist
  • das Interview basiert auf der Methode des aktiven Zuhörens. Dabei ermutigt der Interviewer den Informanten, dass er seine Erfahrungen, Erlebnisse etc. wiedergibt.

Mit der Annahme, dass es sich bei den Mitgliedern einer bestimmten Untersuchungsgruppe um eine eigene gesellschaftliche Teilkultur handelt, die sich z.B. in der Sprache oder Wertvorstellungen von anderen Teilkulturen unterscheidet, ist es notwendig, neue Methoden für die spezifischen Bedürfnisse und Anforderungen zu finden.

Anwendungsbereiche ethnografischer Methoden

  • Softwareentwicklung: Software-Ergonomen setzen ethnografische Methoden mit dem Ziel der Veränderung und Verbesserung von Computerunterstützung ein (vgl. Simonsen, Kensing, 1997); dies dient der Ermittlung von Anwenderbedürfnissen
  • Marktforschung: eignet sich zur Erschließung von detailliertem Konsumentenverhalten (Einfluss persönlicher Werte auf Markenloyalität, Einfluss des Lebensstils auf Konsumentenbedürfnisse) und wird vor allem von marktpsychologisch orientierten Instituten angewandt (z.B. Sinus Sociovision [1], Spiegel Institut [2])
  • Sozialpädagogik und Milieustudien: dies dient der Untersuchung von sozialen Gruppen und deren Verhaltensmustern

Vor- und Nachteile ethnografischer Methoden

Vorteile

  • besseres Verständnis für die Bedürfnisse, Arbeitsabläufe und Präferenzen der Konsumenten
  • durch die offene Interviewführung wird nur über das gesprochen, was dem Konsumenten wirklich wichtig ist
  • durch die Interviewführung unter realen Bedingungen werden viele sonst nicht erfasste Faktoren mit einbezogen
  • der Kontext des Verhaltens sowie Ideen, Gedanken und Glaubenssätze werden ebenfalls betrachtet

Nachteile

  • zeit- und arbeitsaufwendig

Fazit

Über Ethnografische Interviews ist man in der Lage, Einstellungen und Alltagsroutinen des Befragten zu erfassen. Diese sind oft nicht bewusst, werden somit in einem reinen Gespräch auch nicht verbalisiert. Dadurch öffnet diese Methode der Marktforschung viele Möglichkeiten, denn das Aufdecken von Gewohnheiten und Einstellungen liefert wichtige Erkenntnisse über das Konsumentenverhalten, beispielsweise die Nutzungsgewohnheiten von Produkten oder auch die kontextuelle Bedeutung verschiedener Marken im Alltag. Darüber hinaus kann man vergleichen, welche kulturellen Unterschiede es zwischen den Konsumenten gibt. All diese Erkenntnisse geben die Möglichkeit, sich bei Produktkonzeptionen oder Markenkommunikationen in unterschiedlichen Märkten eine Ausrichtung basierend auf den Bedürfnissen der Zielgruppe vorzunehmen.

Geschichte der Ethnografie

Seit der Antike sind Aufzeichnungen über fremde Kulturen, im heutigen Sprachgebrauch Ethnografien, bekannt. Diese Aufzeichnungen über ethnische Einheiten wurden auf verschiedene Weise erarbeitet, z.B. aus historischen Reiseberichten, alten Fotos oder mitgebrachten Gegenständen. Die moderne Ethnografie hat mit der Ethnologie der Kolonialzeit, die meist ganze Völkergruppen betrachtete, nicht mehr viel gemeinsam. Heute werden meist Kleingruppen, die oftmals Zweckgemeinschaften bilden, untersucht. Weiterhin wird Ethnografie nicht mehr um der Forschung selbst Willen, sondern aus volkswirtschaftlichen Gründen betrieben (Produktivitätssteigerung, Produktverbesserung und -veränderung). Die Anwendung der Ethnografie als Forschungsansatz wird in der Literatur nicht einheitlich beschrieben. Allerdings lassen sich einige Gemeinsamkeiten ableiten, die keine Regeln sind, sondern Empfehlungen. Laut Bloomberg, Mosher und Swenton-Hall (1993) wird die ethnografische Feldforschung mit vier Prinzipien charakterisiert:

  1. Natural Settings: Sie findet in der natürlichen Lebensumgebung statt, d.h. der Ethnograf betrachten die Leute nicht losgelöst von ihrer natürlichen Umgebung sondern sucht sie in ihrem alltäglichen Umfeld auf.
  2. Holism: Sie basiert auf dem Prinzip der Ganzheitlichkeit. Einzelnes Verhalten muss in seinem jeweiligen Kontext verstanden werden, d.h. der Ethnograf versucht alle Faktoren, die das zu untersuchende Problem beeinflussen könnten in die Betrachtung mit einzubeziehen (Gegenstände, Personen, Handlungsabläufe).
  3. Descriptive: Die ethnografische Forschung entwickelt beschreibendes Verständnis im Gegensatz zu verordnetem. Der Ethnograf muss also stets objektiv sein.
  4. Member’s Point-of-view: Sie basiert auf der Betrachtungsweise der Mitglieder, d.h. der Ethnograf muss sich in die zu betrachtende Gruppe integrieren, um die Welt mit den Augen der Gruppenmitglieder zu sehen (das persönliche Wertungsschema muss zur Seite gedrängt werden).

Literatur

  • Bloomberg, J.G., Mosher, A. Swenton-Hall, P. (1993): Ethnographic Field Methods and their Relation to Design. Participatory Design Principles and Practice.
  • Rose, A. Shneiderman, B, Plaisant, C. (1995) : An applied Ethnographic Method for redesigning User Interfaces. University Maryland.
  • Spradley, J.P. (1997): The Ethnographic Interview. New York.

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