Europa à la carte

Europa à la carte
Kerneuropa durch Überlappung verschiedener Vollmitgliedschaften

Das Modell des Europa der zwei Geschwindigkeiten (engl. variable geometry) bezieht sich auf ein Spannungsverhältnis innerhalb der Europäischen Integration, bei der einige Staaten ein stärker förderales Staatenbündnis anstreben, in dem die supranationalen Behörden der EU direkte Befugnis in den Bündnisstaaten erhalten. Diese Einflussnahme trifft auf den Widerstand in einigen Mitgliedsstaaten, sodass der Vorschlag entstand, ein Kerneuropa (engl. Core Europe) schneller fortzuentwickeln bis zur Gründung einer formalen Europäischen Föderation (als "Föderation innerhalb der Konföderation"). Dem steht das alternative Konzept der „abgestuften Integration“ gegenüber, die die Fortentwicklung auf multinationale Verträge verlegt, die neben den Staaten des inneren Europa je nach Möglichkeit des Integrationsfeld auch weitere Staaten hinzunimmt. Damit verwandt ist das Modell eines „Europa à la carte“, bei dem jeder Staat sich nur an denjenigen Vertragselementen beteiligt, an denen er interessiert ist.

Inhaltsverzeichnis

Kerneuropa

Der Begriff Kerneuropa („Schäuble-Lamers-Papier“) wurde im Zusammenhang mit den Bemühungen um eine europäische Einigung wiederholt in der Presse erwähnt. Er bezeichnet eine Gruppe von Staaten innerhalb der Europäischen Union unter der Wortführerschaft der deutschen und der französischen Regierung.

Diese Länder streben demnach eine verstärkte Integration und eine erhöhte Integrationsgeschwindigkeit bei der europäischen Einheit an - auch ohne aktuelle oder künftige EU-Mitgliedsstaaten mit eher europaskeptischen Regierungen wie z. B. dem Vereinigten Königreich.

In jüngster Zeit hat man von dieser Idee jedoch wieder Abstand genommen, da sie nach Meinung ihrer Gegner Europa eher spalte als einige. Insbesondere der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer, ehedem ein Verfechter dieser Idee, hat dies öffentlich bekundet.

Andererseits haben die EU-Kommissare Pascal Lamy (Frankreich) und Günter Verheugen 2003 anlässlich des 40. Jahrestages des Élysée-Vertrages von 1963 den nach ihnen benannten Lamy-Verheugen-Plan vorgelegt, der eine deutlich engere Zusammenarbeit Deutschlands und Frankreichs vorschlägt (z. B. Zusammenlegung der Streitkräfte), zumindest aber konföderative Strukturen, die weit über das im EU-Vertrag Vorgesehene hinausgehen. Ein Ziel wäre dabei die Schaffung eines handlungsfähigen Gegengewichts gegen die USA und ihre Möglichkeiten zur internationalen Einflussnahme und zum militärischen Eingreifen. Zuvor hatten sich die Handlungsmöglichkeiten europäischer Staaten etwa im Jugoslawienkrieg als begrenzt erwiesen.

Abgestufte Integration und „Europa à la carte“

Obwohl die Idee eines Kerneuropa insbesondere von Deutschland und Frankreich immer wieder diskutiert wird, so ist de facto das Modell der abgestuften Integration verwirklicht. Dieses hat mit dem Vertrag von Amsterdam 1997 auch eine formelle Grundlage in Form des politischen Instrumentes der Verstärkten Zusammenarbeit gefunden.

Über diesen politischen Mechanismus können mindestens acht Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine Vertragsinitiative vorbringen - ein entsprechender Bündnisvertrag muss dann auch nicht von allen EU-Mitgliedern ratifiziert werden, sondern nur von den teilnehmenden Staaten. Sofern die Europäische Kommission befindet, dass das Rechtsgebiet in die Kompetenz der EU fällt, kann dennoch die Ausarbeitung des Vertrages von den Behörden der EU umfänglich unterstützt sowie die anschließende Ausführung des Bündnisvertrages von den zuständigen EU-Behörden übernommen werden. De facto kann eine existierende EU-Behörde dann mit zweierlei Rechtsgrundlage in den Mitgliedstaaten agieren - mit der allgemeinen europäischen Rechtsgrundlage oder auf Basis der Bestimmungen der Verstärkten Zusammenarbeit. Sind für die Durchführung eines Vertrages neue Dienstposten notwendig, so sind die Mitgliedstaaten des Vertrages der Verstärkten Zusammenarbeit für die Finanzierung jenseits des allgemeinen EU-Haushaltes verantwortlich. Beschließt ein weiterer Mitgliedstaat später, sich an der Verstärkten Zusammenarbeit zu beteiligen, so kann er sich dieser anschließen. Historische Beispiele für eine solche abgestufte Integration sind das Schengener Abkommen, das zunächst von einigen Mitgliedstaaten außerhalb des EU-Rahmens geschlossen und später auf diesen übertragen wurde, und die Europäische Währungsunion, an der bisher nur 16 der 27 EU-Staaten teilnehmen.

Das Modell der abgestuften Integration bewirkt eine Flexibilisierung des Integrationsprozesses, ohne dass parallele Behörden neben den Behörden der Europäischen Union etabliert werden müssen, wie das für ein „Kerneuropa“ notwendig wäre. Stattdessen können Institutionen für die Durchführung der Einzelverträge nach Bedarf etabliert werden und bei fortschreitender Entwicklung erweitert werden. Problematisch ist allerdings der Flickenteppich an Rechtsbeständen innerhalb Europas, die bei grenzüberschreitenden Projekten eine Prüfung erfordert, welche Leitlinien maßgeblich sind. Im Regelfall wird jedoch die Anwendung einer Vielzahl von Rechtsbeständen auf eine überschaubare Menge reduziert.

Mit dem Modell der abgestuften Integration verwandt ist das Konzept eines Europa à la carte, das insbesondere von weniger integrationsfreundlichen Staaten wie Großbritannien wiederholt vorgeschlagen wurde: Die Mitgliedstaaten sollen sich demnach nur auf ein Minimum an Zielen einigen, die für alle beteiligten Länder verbindlich sind (z. B. den Binnenmarkt); in allen anderen Politikfeldern (z. B. Währungsunion, Außenpolitik, Verteidigungspolitik, Freizügigkeit, Flüchtlings- und Asylpolitik, innere Sicherheit, Justizpolitik) sollen nur die willigen Staaten spezifische Einigungsschritte unternehmen, während die übrigen weiterhin die nationalstaatliche Souveränität behalten. Rechtlich wäre auch dieses Modell mithilfe der Verstärkten Zusammenarbeit umsetzbar. Während jedoch die Vertreter der abgestuften Integration der Verstärkten Zusammenarbeit meist eine Vorreiterfunktion zuschreiben – der sich andere Mitgliedstaaten später anschließen können –, wird unter Europa à la carte meist ein Zustand dauerhaft ungleicher Integrationstiefe verstanden.

Inner Six und Outer Seven

"Inner Six" und "Outer Seven" (1961)

Das Europa der zwei Geschwindigkeiten gründet in der historischen Konstellation der Inner Six ("inneren sechs" Staaten) und Outer Seven ("äußeren sieben" Staaten) wie sie sich um 1960 in den beiden nichtüberlappenden Staatenbündnissen der Europäische Gemeinschaften und der Europäische Freihandelsassoziation zeigten.

Inner Six Outer Seven

Obwohl einige Staaten der EFTA schon 1961 die Mitgliedschaft in der EG beantragten, so führten Spannungen mit den wortführenden Staaten Frankreich und Deutschland immer wieder zu Verzögerungen im Erweiterungsprozess. Diese Spannungen haben sich in der Fortentwicklung der Europäischen Integration im Rahmen der EG später immer wieder gezeigt. In den Staaten des inneren Europa wird so immer wieder ein enger gefasstes Staatenbündnis diskutiert, deren bevorschlagten Gründungsmitglieder in offensichtlicher Kontinuität auch immer jene sechs Gründungsstaaten der EG umfasst.

Inneres Europa

Nimmt man neben der EU-Mitgliedschaft die Zusammenarbeit im militärischen (NATO), monetären (Europäische Währungsunion) und sicherheitspolitischen (Schengener Abkommen) Bereich zum Maßstab, so wären zur Zeit Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal, die Slowakei, Slowenien und Spanien Bestandteil eines sich halbwegs zu Recht so nennenden Kerneuropas.

Übersicht über die Organisation der EU-Staaten in NATO, Europäischer Währungsunion und Schengener Abkommen
Land EU-Mitgliedschaft NATO-Mitgliedschaft Währungsunion
Euro-Einführung als Buchgeld / Bargeld
Schengener Abkommen
Unterzeichnung / Beginn der tatsächlichen Anwendung
Belgien 1957 1949 1999/2002 1985/1995
Bulgarien 2007 2004 nein 2007
Dänemark 1973 1949 nein 1996/2001
Deutschland 1957 1955 1999/2002 1985/1995
Estland 2004 2004 nein 2004/2007
Finnland 1995 nein 1999/2002 1996/2001
Frankreich 1957 1949
seit 1966 aus mil. Strukturen ausgeschieden
1999/2002 1985/1995
Griechenland 1981 1952
1974-1979 aus mil. Strukturen ausgeschieden
2001/2002 1992/2000
Irland 1973 nein 1999/2002 nein
Italien 1957 1949 1999/2002 1990/1997
Lettland 2004 2004 nein 2004/2007
Litauen 2004 2004 nein 2004/2007
Luxemburg 1957 1949 1999/2002 1985/1995
Malta 2004 nein 2008 2004/2007
Niederlande 1957 1949 1999/2002 1985/1995
Österreich 1995 nein 1999/2002 1995/1997
Polen 2004 1999 nein 2004/2007
Portugal 1986 1949 1999/2002 1992/1995
Rumänien 2007 2004 nein 2007
Schweden 1995 nein nein 1996/2001
Slowakei 2004 2004 2009 2004/2007
Slowenien 2004 2004 2007/2007 2004/2007
Spanien 1986 1982
1986-1999 aus mil. Strukturen ausgeschieden
1999/2002 1992/1995
Tschechien 2004 1999 nein 2004/2007
Ungarn 2004 1999 nein 2004/2007
Vereinigtes Königreich 1973 1949 nein nein
Zypern 2004 nein 2008 2004
Albanien nein 2009 nein nein
Andorra nein nein 2002 1995
Island nein 1949
nur mit med. Hilfe
nein 1996/2001
Kroatien Beitrittskandidat 2009 nein nein
Liechtenstein nein nein nein 2005
Mazedonien Beitrittskandidat Beitrittskandidat nein nein
Monaco nein nein 2002 1995
Norwegen nein
(Ablehnung der Mitgliedschaft in Referenden 1972 und 1994
1949 nein 1996/2001
San Marino nein nein 2002 1997
Schweiz nein nein nein 2005/2008
Türkei Beitrittskandidat 1952 nein nein
Vatikan nein nein 2002 1997

Literatur

  • Fritz Breuss u. Stefan Griller (Hrsg.): Flexible Integration in Europa, Einheit oder „Europa a la carte“? Wien: Springer, 1998. ISBN 3-211-83117-7
  • Kai-Olaf Lang: Polen und Kerneuropa. In: WeltTrends. Zeitschrift für internationale Politik und vergleichende Studien, 50 (2006), S. 27–39 (Volltext)
  • Simone Weske: Deutschland und Frankreich – Motor einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik? Baden-Baden: Nomos, 2006. ISBN 3-8329-1480-3

Weblinks


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