Eurozentrisch

Eurozentrisch

Unter Eurozentrismus versteht man die Beurteilung außereuropäischer Kulturkreise nach europäischen (westlichen) Vorstellungen und auf der Grundlage der in Europa entwickelten Werte und Normen. Eurozentrismus ist somit eine Einstellung, die Europa unhinterfragt in den Mittelpunkt des Denkens und Handelns rückt.

Besonders deutlich werden die Auswüchse des Eurozentrismus in den Erklärungen alter Enzyklopädien zum Lemma Europa. So schreibt beispielsweise Zedler 1741:

„Obwohl Europa das kleinste unter allen 4. Teilen der Welt ist, so ist es doch um verschiedener Ursachen willen allen übrigen vorzuziehen. […] Es hat an allen Lebensmitteln einen Ueberfluß. Die Einwohner sind von sehr guten Sitten, höflich und sinnreich in Wissenschaften und Handwerken.“

In der Brockhaus Enzyklopädie von 1854 beinhaltet bereits der erste Satz zum Stichwort Europa eurozentrisches Gedankengut. Hier heißt es, Europa sei seiner

„[…] terrestrischen Gliederung wie seiner kulturhistorischen und politischen Bedeutung nach unbedingt der wichtigste unter den fünf Erdtheilen, über die er in materieller, noch mehr aber in geistiger Beziehung eine höchst einflussreiche Oberherrschaft erlangt hat.“

Auch 1963 war es noch möglich, die Welt in „Zivilisationen“ und das „Land der Barbaren“ einzuteilen - was William McNeill in seinem The Rise of the West ganz selbstverständlich tat. Die Erkenntnis, dass die Begriffe Osten und Westen ohne Nennung eines Bezuges keinen Sinn ergeben, ist bis heute alles andere als verbreitet. Das Begriffspaar Abendland/Morgenland wird allerdings mittlerweile überwiegend als veraltet empfunden.

Gegner des Konzepts relativieren den Eurozentrismus als eine Variante des Ethnozentrismus, der (in diversen Schattierungen) bei allen menschlichen Gesellschaften zu beobachten sei, beispielsweise im Selbstbild des chinesischen Kaiserreichs als „Reich der Mitte“, das sich als überlegener Mittelpunkt der Welt betrachtet und auf die umgebenden „barbarischen Völker“ herabgesehen habe (Sinozentrismus). Dabei fallen allerdings konstitutive Merkmale des Eurozentrismus (europäische Expansion, koloniale Penetration, imperialistische Herrschaft, weltweite Dominanz) unter den Tisch.

Dagegen hat beispielsweise James M. Blaut die geistig-produktive Sphäre der globalen Führungsgesellschaften mit ethnografischen Mitteln untersucht und so die europäische Weltsicht als qualitativ mehr als „just another ethnocentrism“ kenntlich gemacht, nämlich als das aus Expansion und Herrschaftsanspruch erwachsene „colonizer’s model of the world“. Charakteristisch ist allerdings auch bei Blaut die Veräußerung von Irrationalität, Passivität oder Stagnation ans nichteuropäische „Outside“.

Samir Amin hat sich grundlegend dem „projet d’une critique de l’eurocentrisme“ (dt. Projekt zur Kritik des Eurozentrismus) gewidmet. Er untersucht Eurozentrismus als „une reconstruction mythologique récente de l’histoire de l’Éurope et du monde“ (dt. eine neue mythologische Rekonstruktion der Geschichte Europas und der Welt) im Kontext legitimatorischer „construction idéologiques d'ensemble du capitalisme“ (dt. ideologischer Konstruktionen der Gemeinschaft des Kapitalismus), die bei aller Selbstpräsentation als menschlicher Universalismus wesentlich „anti-universaliste“ (dt. anti-universal) und herrschaftssichernd motiviert sind.

Der Rechtswissenschaftler und Politologe Peter Pernthaler charakterisierte einen spezifischen Zeitabschnitt der Europäischen Gemeinschaft (EG) als „eurozentrisch“, wobei er für diese Phase einen stark ausgeprägten Zentralismus diagnostizierte. Pernthaler konstatierte, dass die EG bis 1988 ein System gewesen sei, „dessen Dynamik in Richtung ständig weitergehender Zentralisierung ging“.[1]

Inhaltsverzeichnis

Siehe auch

Literatur

  • Samir Amin: L’eurocentrisme, critique d’une idéologie. Paris 1988, engl. Eurocentrism, Monthly Review Press 1989, ISBN 0853457867
  • Sebastian Conrad, Shalini Randeria (2002): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. ISBN 3-593-37036-0
  • J.M. Blaut: The Colonizer's Model of the World: Geographical Diffusionism and Eurocentric History . Guilford Press 1993. ISBN 0898623480
  • J.M. Blaut: Eight Eurocentric Historians. Guilford Press 2000. ISBN 1572305916
  • Gerhard Hauck, Die Gesellschaftstheorie und ihr Anderes : wider den Eurozentrismus der Sozialwissenschaften, Münster 2003, ISBN 3896915517
  • Vassilis Lambropoulos, The rise of eurocentrism : anatomy of interpretation, Princeton, NJ : Princeton Univ. Press, 1993
  • Ella Shohat; Robert Stam, Unthinking Eurocentrism: multiculturalism and the media, Routledge 1994, ISBN 0415063256
  • Ngugi wa Thiong'o: Die Befreiung der Kulturen vom Eurozentrismus. In: Moving the Centre. Essays über die Befreiung afrikanischer Kulturen, Münster: Unrast, 1995, ISBN 3-928300-27-X

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Peter Pernthaler: Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre. 2., völlig neubearb. Aufl., Wien / New York 1996, S. 312, ISBN 3-211-82818-4.

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