- Fatrasie
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Fatrasie und der daraus entstandene Fatras sind mittelalterliche Formen der Unsinnspoesie, die in Frankreich ab dem 13. Jahrhundert auftraten.
Inhaltsverzeichnis
Fatrasie
Die Fatrasie besteht aus elf Versen, die nach dem Schema aab aab babab gereimt sind. Dabei hatten die ersten sechs Verse fünf, die letzten fünf bis sieben Silben.[1] Die ersten Beispiele enthielten die anonymen Fatrasies d’Arras, eine aus fünfundfünfzig Gedichten bestehende, in einem einzigen Manuskript erhaltene Sammlung des 13. Jahrhunderts.[2] Ein zweites Korpus besteht aus den elf Fatrasien des Philippe de Beaumanoir.[3]
Der Name Fatrasie geht auf die lateinischen Wörter farcire (vollstopfen) und farsura (Füllung) zurück, von denen auch die Farce abstammt, vermutet wird aber auch eine Verballhornung der Fantasie (von griech.-lat. phantasma / phantasia). [4]
Alles, was in der Fatrasie geschieht, hat „unmöglich“ oder „unvernünftig“ zu sein. Die starren Gesetze von Zeit und Raum sind aufgehoben, Gegenstände, Tiere und Menschen vollführen einen grotesken Reigen. Lyrisches und Zartes findet sich neben Derbem und Obszönem, die Schranken zwischen Hohem und Niedrigem werden bewusst abgeschafft. Die Gedichte reihen Widersinn und Absurditäten (Paradoxa, Oxymora), ihr Ziel ist es, Verblüffung, Verwirrung und Lachen hervorzurufen. Sie sind Ausdruck der „Verkehrten Welt“, der „karnevalistischen“ Lachkultur im Sinne Michail Bachtins.[5]
Fatras
Im 14. Jahrhundert wurde das Genre weiterentwickelt zum Fatras (frz. fatras „Plunder, Durcheinander“), vornehmlich von Watriquet Brassenel de Couvin (um 1325), von dem dreißig, zum Teil obszön-skatologische Motive häufende Fatras erhalten sind. Der Fatras folgt dem Reimschema AB AabaabbabaB, d. h. es sind nun 13 Verse. Es wird zunächst ein lyrischer Zweizeiler möglichst süßlich-kitschigen Inhalts vorangestellt, dem der eigentliche, weiterhin aus 11 Versen bestehende Fatras folgt. Dabei werden zwischen die beiden Verse des Zweizeilers 9 Verse eingeschoben, die den Inhalt des Distichons durch komischen Gegensatz parodieren.
Ein Beispiel aus den Fatras Watriquet de Couvins[6]:
- Doucement me reconforte
- Celle qui mon cueur a pris.
- Doucement me reconforte
- Une chate a moitié morte
- Qui chante touz les jeudis
- Une alleluye si forte
- Que li clichés de nos porte
- Dist que siens est li lendis,
- S’en fu uns leus si hardis
- Qu’il ala, maugré sa sorte,
- Tuer Dieu en paradis,
- Et dist : « Compains, je t’aporte
- Celle qui mon cuer a pris. »
- Sanft tröstet und ermutigt mich
- Sie, die mein Herz erobert hat.
- Sanft tröstet und ermutigt mich
- eine halbtote Katze,
- die jeden Donnerstag so laut
- ein Halleluja singt,
- dass die Klinke an unsrer Tür
- sagt, dass ihr der Montag gehöre,
- und ein Wolf kam her so wagemutig,
- dass er gegen seinen Willen
- lossprang, Gott im Paradies zu töten,
- und sagte noch: „Kumpel, ich bringe dir
- Sie, die mein Herz erobert hat.“
- A
- B
- A
- a
- b
- a
- a
- b
- b
- a
- b
- a
- B
Im 15. Jahrhundert wird unterschieden zwischen dem „unmöglichen“, irrationalen Fatras und dem „möglichen“, der nun vorwiegend religiös-erbauliche Themen transportiert. Baudet Herenc (Doctrinal de la Seconde Rhétorique, 1432) und Jean Régnier (1432/33) sind die letzten Vertreter des irrationalen, an die ursprüngliche Zelebration des Widersinns anschließenden Fatras.
Die französischen Surrealisten schätzten diese Gedichtform, auch wenn in ihrer Epoche nur wenige Beispiele bekannt waren. Paul Eluard nahm einige Muster in seine Erste lebendige Anthologie der Poesie der Vergangenheit auf (Première Anthologie de la poésie du passé, 1951), Jacques Prévert gab einem seiner Gedichtbände den Titel Fatras (1966). In der Fatrasie und im Fatras wurde eine der Wurzeln der modernen Dichtung und der absurden Literatur vermutet (so Ralph Dutli, 2010).
Literatur
- Lambert C. Porter: La fatrasie et le fatras. Genf 1960
- Martijn Rus: Die Fatrasie: eine kleine Unbekannte der französischen Unsinnspoesie des Mittelalters. In: Th.Stemmler, Stefan Horlacher (Hg.): Sinn im Unsinn. Tübingen 1997, S. 43-56
- Patrice Uhl: La constellation poétique du non-sens au moyen âge: Onze études sur la poésie fatrasique et ses environs. Paris 2000
- Sylvie Mougin, Marie-Geneviève Grossel (Hg.): Poésie et rhétorique du non-sens. Littérature médiévale, littérature orale. Reims 2004
- Gisela Febel: Poesia ambigua oder vom Alphabet zum Gedicht. Aspekte der Entwicklung der modernen französischen Lyrik bei den grands rhétoriqueurs. Habilitationsschrift. Frankfurt 2001
- Poésies du non-sens. XIIIe-XIVe-XVe siècles. Tome I: Fatrasies. Fatrasies de Beaumanoir. Fatrasies d'Arras. Hrsgg., übersetzt und kommentiert von Martijn Rus. Orléans 2005
- Ralph Dutli: Im Schlaf dichten wir den Eierkuchen aus Nichts. Am Ende des dreizehnten Jahrhunderts wurde in der nordfranzösischen Stadt Arras der Surrealismus erfunden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Bilder und Zeiten, 17. Juli 2010, Nr. 163
- Ralph Dutli: Fatrasien. Absurde Poesie des Mittelalters. Wallstein, Göttingen 2010 (enthalten sind - altfranzösisch und deutsch - die anonymen Fatrasien aus Arras, die Fatrasien von Philippe de Beaumanoir, die Fatras von Watriquet Brassenel de Couvin, Anonymus, Baudet Herenc und Jean Régnier).
Einzelnachweise
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