- Friedrich Tietjen
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Friedrich Tietjen (* 15. Oktober 1834 in Garnholt (heute zu Westerstede); † 21. Juni 1895 in Berlin) war ein deutscher Astronom. Er war seit 1861 ununterbrochen an der Berliner Sternwarte tätig und entdeckte 1865 den Asteroiden (86) Semele. Von 1874 bis zu seinem Tode war er der erste Direktor des an der Sternwarte gegründeten Astronomischen Rechen-Instituts.
Inhaltsverzeichnis
Jugend
Friedrich Tietjen sollte nach dem Wunsch seiner Eltern nach dem Besuch der Schule die alte Hausmannstelle dieser in Garnholt übernehmen. 1839 bis 1847 besucht er die Volksschule in Hüllstede. Schon damals fallen den Lehrern seine erstaunlichen Fähigkeiten im Rechnen und sein großes Interesse an der Beobachtung des Sternenhimmels auf. Er widmet sich früh naturwissenschaftlichen Büchern, statt die ihm aufgetragenen Feldarbeiten zu erledigen.
Erst später aber kann er seinen Neigungen folgen und zur Enttäuschung seiner Eltern den Hof verlassen, um seine Zukunft entscheidend zu verändern. Die Familie beginnt bald den Wunsch ihres Sohnes ernst zu nehmen und ermöglicht ihm schließlich den kostspieligen Besuch des Gymnasiums in Oldenburg. Durch seine geringe Schulbildung in der kleinen Dorfschule muss er vor dem Beginn eines Studiums noch sein Reifezeugnis – Abitur – erlangen, was für ihn allerdings keine große Schwierigkeit ist. Trotzdem bedeutete der Schulbesuch für die Familie ein großes Risiko, weil er sehr teuer ist und nicht sicher ist, ob er sich wirklich lohnt.
Studium
Nachdem er in Oldenburg sein Abitur bestanden hat, geht Friedrich Tietjen 1853 im Alter von 21 Jahren nach Braunschweig an das Collegium Carolineum, um sich dort auf sein Studium vorzubreiten. In Göttingen studiert er dann Mathematik, Physik und Astronomie. Er bekommt dort nach kurzer Zeit seinen Abschluss.
Berufsleben
Nach dem Studium zieht es Friedrich Tietjen nach Berlin. Dort beobachtet er lange Zeit Planeten und Kometen, wobei er erstaunliche Entdeckungen macht und 1859 als junges Talent entdeckt wird. 1861 beginnt er seine Arbeiten in der königlichen Sternwarte Berlin fortzusetzen, er ist damals gerade 29 Jahre alt und wird schon zum 2. Assistenten ernannt. Zwei Jahre später promoviert er über die Methoden zur Bestimmung der Plantenlaufbahnen und wird so Professor und Doktor der Astronomie. Mit dieser Auszeichnung wird er dann auch zum 1. Asissenten der Sternwarte ernannt.
Friedrich Tietjen wird immer bekannter und baut in seiner Zeit in der Sternwarte auch Freundschaften zu Adeligen, wie dem Freiherrn von Schrenck auf. 1866 erhält er dann vom preußischen König seinen ersten großen Auftrag. Zusammen mit dem Direktor der Sternwarte soll er am südlichen Jadebusen, also in seiner Heimat, nach einem geeigneten Punkt für die Vermessung Norddeutschlands zu suchen. Er setzt den astronomischen Pfeiler von Dangast, der zur Festlegung des mitteleuropäischen Gradnetzes nach einem internationalem Abkommen dient und beginnt dort am 25. April 1866 mit der Vermessung. In dieser Zeit besucht Friedrich Tietjen oft seine Familie und seine Freunde, zu denen er immer gute Kontakte hält. Er schreibt außerdem viele Briefe, in denen er auch die Wichtigkeit einer guten Ausbildung für seine Neffen betont, denn schließlich weiß er selber um den großen Wert seiner Ausbildung für seinen gesellschaftlichen Aufstieg.
Seine Messwerte, die er in der Zeit in Dangast erhält, werden später sogar auf dem 10 DM Schein abgedruckt. Durch die Messungen findet er mit anderen Forschern heraus, dass die Erde keine Kugel sondern ein sogenannter Rotationellipsoid ist und sie können zusammen den Erdradius bestimmen. 1867 beobachtet Tietjen dann in Gotha Planeten und macht ein Jahr später dann eine besondere Entdeckung: einen bisher unbekannten Kleinplaneten, den er Semele nennt. Durch diese Leistungen nach seinem Studium wird er schnell zu einem der bedeutendsten Astronomen seiner Zeit und weit bekannt.
Erlebnisse
1868 wird Friedrich Tietjen Direktor der Sternwarte und gibt so auch das “astronomische Jahrbuch” heraus. Für seine Leistungen wird er vom Oldenburger Großherzog mit dem Ritterkreuz erster Klasse des Haus- und Verdienstordens ausgezeichnet. Im selben Jahr bekommt er auch den Auftrag einer Expedition nach Indien übertragen, dort soll er die Sonnenfinsternis beobachten. Er unternimmt dafür eine wochenlange Seefahrt, erlebt das pulsierende Leben in den orintalischen Hafenstädten auf der Durchreise und wird in Bombay vom englischen Gouverneur persönlich begrüßt. In seinem Tagebuch schreibt er von den Erlebnissen auf der Reise, die ihn tief beeindruckt hat.
“Meine diesjährige Reise nach Indien war im höchsten Grade interessant. Wenn ich mir jetzt alle Momente der selben lebhaft vergegenwärtige, so glaube ich fast zu träumen, so feenhaft tritt mir alles entgegen und wenn ich mir das Leben im Orient auch stets sehr fantastisch gedacht hatte, so hat es meine Erwartungen doch noch weit übertroffen. [...] Auf der Hinreise war schon Triest mit seinem echt italienischem Charakter für uns sehr neu, das erste orientalische leben lernten wir aber erst in Korfu kennen [...] In Alexandria sahen wir zuerst, wie die Neger von den Europäern behandelt werden. Einige Neger wollten nämlich unsere Sachen ins Hotel tragen und sich dadurch einige Piaster verdienen. Ohne ihnen zu sagen, dass sie dies nicht tun sollten, wurde ohne Weiteres ihr nackter Rücken mit Stockschlägen traktiert. Ich kann gar nicht sagen, wie tief uns diese Behandlung empörte, aber fast ebenso empörend war es, wie die Leute die Schläge als selbstverständlich hinnahmen. [...] Von Alexandria ging es nach Kairo, wo wir eine Nacht blieben. Hier war ein ungeheuer belebtes Treiben, die verschiedensten Völkerrassen trieben wich wild durcheinander. [...] Am anderen Morgen, nachdem wir einen Ritt durch die Stadt gemacht hatten, fuhren wir nach Suez. Folgende kleine Geschichte, die wir hier erlebten, möge zur Charakteristik der ägyptischen Eisenbahnbeamten dienen. Für unser Gepäck, das in einem eigenen Wagen befördert wurde, hatten wir in Kairo weiter keinen Gepäckschein bekommen, als einen Zettel von der Größe eines Quadratzolls, der nur die Nummer 3010 enthielt. Als wir in Suez ankamen, war der Konsul nicht am Bahnhof, er hatte zu spät Nachricht von unserer Ankunft erhalten. Zu unserer Bestürzung erfuhren wir überdies, dass das englische Postschiff schon in 2 Stunden abgehen sollte, dazu lag es über eine Meile von Suez entfernt. Ich lief sogleich nach den Gepäckwagen, fand aber, dass er sich nicht mehr an seinem Platze befand, sondern schon nahe vor Suez mit allen anderen Güterwagen zurückgelassen sei. Als ich bei dieser zahllosen Masse Wagen ankam, war ich erst recht in Verlegenheit, denn ich hatte wohl die Nummer des Wagens in unseren gewöhnlichen Ziffern, während die Nummern der Wagen arabisch waren. Die Eisenbahnbeamten verstanden entweder kein Französisch oder sie konnten die Ziffern selbst nicht lesen. [...] In Bombay angekommen, wurden wir gleich vom Konsul empfangen,der mit einem kleinen Dampfer kam, um uns abzuholen. Das Reisen wurde uns überhaupt sehr angenehm gemacht, sowohl in Alexandria als auch in Kairo taten die Konsulen alles Mögliche für uns. [...] Bombay ist eine sehr große Handelsstadt, wir trafen hier auch viele Deutsche. Das Leben ist hier enorm teuer, ein einzelner Mann soll jährlich nicht unter 5000 Taler leben können. [...] Die Tage, die wir in Bombay blieben wurden damit zugebracht Lebensmittel für unseren Aufenthalt im Inneren einzukaufen , Diener, Köche, etc. zu mieten. Es wurde uns gesagt, im Innern sei gar nichts zu haben, wir mussten alles von hier aus mitnehmen, höchstens könnten wir in Poona oder in Sholapoor noch Diener bekommen. Vorläufig nahm jeder nur einen Diener. Außerdem mieteten wir zwei Köche und einen Butler oder Haushofmeister. Mittlerweile war ein Schreiben vom Gouverneur aus Poona eingetroffen, dass wir ihm doch einen Besuch machen möchten. Die Eisenbahnfahrt von Bombay nach Poona ist äußerst interessant. Besonders die Fahrt über die Ghauts, die noch viel schöner ist als die über den Semmering. In Indien ist alles kolossaler, neben der Bahn steile Berge und die tiefsten Abgründe. Es gab viele Wasserfälle von mehreren hundert Fuß Höhe, das Wasser kam unten als Staub an. [...] In Poona wurden wir am Bahnhof von den Dienern des Gouverneurs empfangen, es standen Equipagen bereit, die uns nach dem Counsilhouse (Parlamentsgebäude) brachten, das ganz zu unserer Verfügung gestellt war. Unsere Zeit war stets sehr in Anspruch genommen durch die vielen Besuche, die wir teils zu machen, teils zu empfangen hatten. Die Engländer waren überhaupt von einer Liebenswürdigkeit gegen uns wie wir es nie zu hoffen gewagt hatten. Der Gouverneur bat uns gleich, uns, solange wir in Indien wären, als die Gäste der englischen Regierung zu betrachten,was uns bei unseren sehr beschränkten Geldmitteln sehr angenehm war. Von der Regierung wurde nun für alles gesorgt, was wir nötig hatten, nicht allein für den Transport der Instrumente, sondern auch für unseren eigenen Unterhalt. Es wurden uns noch Diener und Köche mitgegeben, außerdem schickte der Gouverneur seinen Privatsekretär, der zugleich sein Sohn war, mit uns. Anfangs hielten wir dies teilweise für überflüssig, später lernten wir doch den Nutzen des großartigen Apparates, der unseretwegen in Bewegung gesetzt wurde, kennen. [...] Über den Ort, wo wir unsere Beobachtungen anstellen wollten, konnten wir anfangs nicht recht ins Klare kommen, wir wollten soweit östlich wie möglich, da weiter nach Osten hin der Himmel mehr Aussicht auf Klarheit bieten sollte. [...] Da der Regen aber alle Landwege verdorben hatte, so mussten wir uns entschließen bis an den Endpunkt der Eisenbahn Scholapoor zu fahren und von hier aus auf einem Landwege südlich bis zur Zentrallinie vorzudringen. Die Mittel, die man zum Transport gebrauchte, sind nach europäischen Begriffen enorm, wir hatten nämlich einen Elefanten für zwei schwere Instrumentenkisten, 22 Kamele, 5 Ochsenwagen und gegen 70 Mann. Nach 4 Tagen hatten wir 80 englische Meilen zurückgelegt und waren am Ort unserer Bestimmung in Molwar. Die Gegend sah nicht sehr einladend aus, nur an den Wegen standen einige Bäume und nur in nächster Nähe der Dörfer erblickten wir etwas Grünes. [...] Die Männer der Eingeborenen waren sämtlich sehr hübsche, schlanke Gestalten mit angenehmen Gesichtszügen und sehr intelligenten Zügen. Die Überzeugung haben wir alle mitgenommen, dass sich bei den Eingeborenen bei vernünftiger Behandlung recht viel machen lässt. Die Frauen machten keinen so guten Eindruck wie die Männer, sie zeichneten sich besonders durch Hässlichkeit aus. [...] In der Nähe der Wohnungen der Eingeborenen kann es kein Europäer aushalten, so schmutzig ist alles. Die Wohnung der selben, darf aber kein Europäer betreten, weil sie dadurch nach Meinung der Eingeborenen gleich verunreinigt wird. In der Wohnung hausen die Menschen mit Hühnern und Schweinen zusammen, in dem kleinen Hof, der sich bei jedem Haus befindet, laufen Esel, Pferde, Ochsen und Kühe umher. [...] Der Europäer wird von den Natifs als ein höheres Wesen verehrt, besonders wurden wir natürlich angestaunt, noch mehr aber unsere Instrumente. [...] Dass unsere Expedition leider nicht so fruchtbringend war, wie wir erwarteten, werden sie schon erfahren werden. Von den beiden sichtbaren Protuberanzen erlangte nur ich gute Messungen, die Spektralbeobachtungen, die ich eigentlich machen sollte, unterließ ich weil doch keine Aussicht auf Gelingen war, denn dazu braucht man wenigstens eine halbe Minute und wir hatten nur 6 Sekunden klaren Himmel. [...]”
Die geschilderten Erlebnisse stammen aus den der Familie erhaltenen Tagebüchern und Briefen.
Nachwirkungen
In seinem letzten Lebensabschnitt arbeitet Friedrich Tietjen wieder in Oldenburg, allerdings noch immer im Auftrag der königlichen Sternwarte Berlin. Er leidet unter Herz-Affektionen, Asthma und als Folge unter schwerer Atemnot, so bereitet ihm seine Gesundheit immer mehr Schwierigkeiten. Zu seiner Erholung tritt er Reisen nach Italien an und machte lange Zeit Urlaub in Neapel, auf Sizilien und Capri. Er schreibt in Briefen an seine Familie viel über Italien, die antiken Ruinen und die abenteuerlichen Alpenüberquerungen mit der Postkutsche. Die erhoffte Genesung stellt sich allerdings nicht ein, am 21. Juni 1895 verstirbt Friedrich Tietjen infolge seiner Krankheit.
Direkte Nachfahren hinterlässt er nicht, hatte er doch sein ganzes Leben und seine Zeit der Wissenschaft gewidmet anstatt einer Familie.
Da Friedrich Tietjen immer sehr verbunden war mit seinem Heimatort und seiner Familie wird er auch in Groß-Garnholt beigesetzt. Er erhält eine große Beerdigung, wie er sie als Landwirt nie bekommen hätte, in der großen Trauergemeinde finden sich Menschen aus ganz Deutschland und sogar ein paar aus dem Ausland.
Ein Bericht aus dem Blatt der Königlichen Sternwarte Berlin vom Juli 1895 berichtet über die Beisetzung:
„[...] Die Universität war durch den Rektor Professor Pfliderer vertreten. Die philosophische Fakultät, die den Decan Professor von Richthofen entsandt hatte, ließ einen kostbaren Kranz niederlegen. Auch das geodätische Institut widmete einen schönen Kranz, ebenso das astrophysikalische Observatorium in Potsdam. Die königliche Sternwarte, die gleichfalls ihrer Verehrung durch Kranzspenden Ausdruck gegeben hat, war durch den Geheimrath Förster vertreten, dem sich die Observatoren und Beamten anschlossen. Von der Akademie der Wissenschaften erschien Geheimrath Auwers, vom meteorologischen Institut Geheimrath von Bezold, der Lehrkörper der Universität, auch die studentischen Vereine waren zahlreich vertreten... [...]“
Seine Leistungen und seine Bedeutung in der Wissenschaft werden mit einem prächtigen Obelisk gewürdigt, der auch heute noch den Friedhof des Dorfes ziert und an den Mann erinnert, dessen Leben so ganz anders verlief, als eigentlich vorgezeichnet war. Er entdeckte einen Planeten. Und nicht nur das.
Seine Beobachtungen und wissenschaftlichen Forschungen waren seinerzeit ein wichtiger Schritt zur Bestimmung der astronomischen Entfernungen und der Bewegung der Himmelskörper im Weltall. Friedrich Tietjen wurde weit über die Grenzen Deutschlands bekannt und war auch im Ausland hoch geschätzt.
Doch vor allem in seiner Heimat war man stolz auf den „Sterngucker“ aus Groß-Garnholt und auch im Berliner Volksmund war der „Sternkieker Tietjen“ bekannt. Tietjen war oft mit Bismarck zusammen getreten und er soll es auch gewesen sein, der die „Getreuen von Jever“ dazu anregte, dem Reichskanzler alljährlich zu dessen Geburtstag 101 Kiebitzeier zu überbringen. Tietjen habe daheim und in Jever erzählt, Bismarck habe sogar im Reichstag mit Vorliebe Kiebitzeier zum Frühstück verspeist. Tatsache ist jedoch, dass die Westersteder den Jeveranern nicht nachstehen wollten: Sie schickten dem Kanzler alljährlich Ammerländer Schinken nach Berlin und bei Gelegenheit sollen sie gesagt haben: „Wenn he kein Plattdütsch kann, frag’ he man de Sternkieker Tietjen, dat is ja use Landsmann!“ Bismarck soll sich an diese Empfehlung gehalten haben.
In Zeitungen und Wissenschaftsmagazinen in ganz Europa fanden sich 1895 Nachrufe und Gedenken an den Astronom und auch heute noch erinnern noch Lokalzeitungen und Fachzeitschriften alle Jahre wieder an Friedrich Tietjen und seine Entdeckungen.
Im Bericht der astronomischen Gesellschaft London heißt es (übersetzt aus dem Englischen):
„[...] Er hatte eine wunderbare Fähigkeit, instrumentale und mechanische Fragen zu erklären. Ein etwas raues Äußeres verbarg ein Herz aus Gold. Er war ein unermüdlicher Arbeiter. Bei seinen Freunden, Kollegen, Schülern und auch bei seinen Landsleuten jeden Standes war er beliebt und geachtet und die Anspruchslosigkeit und Aufrichtigkeit seines Charakters werden lange in unserer Erinnerung bleiben.“
Die Nachkommen der Familie Tietjen hüten heute über die letzten verbliebenen Stücke aus dem Leben des Astronomen, darunter auch viele Privatgegenstände und ein großes Gemälde.
Weblinks
Wikisource: Friedrich Tietjen – Quellen und Volltexte
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