Gestaltqualität

Gestaltqualität
Nach längerer Betrachtung „kippt“ der Würfel. Man hat dieses Kippen als Gestaltwechsel bezeichnet

Als Gestaltpsychologie wird in der Regel eine Richtung innerhalb der Psychologie bezeichnet, die das Erleben (vor allem in der Wahrnehmung) als eine Ganzheit betrachtet, die auf einer bestimmten Anordnung der ihr zugrunde liegenden Gegebenheiten beruht, wobei diese Gegebenheiten als Glieder mit dem Ganzen in der Beziehung wechselseitiger Bedingtheit stehen.

Das Wort „Gestaltpsychologie“ kann nur bedingt als klar definierbarer wissenschaftlicher Begriff gelten; es ist zum Teil ein durch seinen Gebrauch organisch gewachsener Name für eine Anzahl ähnlicher Auffassungen. Die Gestaltpsychologien unterschiedlicher Richtung leiten sich jedoch aus einer einzigen Arbeit aus dem Jahre 1890 her, in der der Philosoph Christian von Ehrenfels seine Erkenntnis berichtete, die Wahrnehmung enthalte Qualitäten, die sich nicht aus der Anordnung einfacher Sinnesqualitäten ergeben. So sei die Melodie eine solche Gestaltqualität, denn die Töne als Elemente der Melodie könnten durch ganz andere Töne ersetzt werden, und es wäre dennoch dieselbe Melodie, wenn nur die Anordnungsbeziehung zwischen den Tönen erhalten bliebe.

Inhaltsverzeichnis

Klassische Gestaltpsychologie

Berliner Schule der Gestaltpsychologie (Gestalttheorie)

Aufgrund der Beobachtungen v. Ehrenfels' entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts die "Gestaltpsychologie" als eine neue psychologische Richtung. Sie wurde zuerst im deutschsprachigen, dann auch im internationalen Raum einflussreich. Als ihre Begründer und Hauptexponenten gelten drei Studenten von Carl Stumpf: Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka. In weiterem Sinne kann auch Kurt Lewin dieser Gruppe zugerechnet werden. Diese "Berliner Schule der Gestaltpsychologie" nannte sich auch "Gestalttheorie" und erweiterte ihren Gegenstand über die Wahrnehmung hinaus. Sie ist vor allem ihrer umfangreichen Experimentalforschung auf dem Gebiet der Wahrnehmung wegen bekannt und berühmt geworden und wird noch Anfang des 21. Jahrhunderts vertreten. Es werden drei Arten von Gestaltqualitäten des Wahrnehmungserlebens unterschieden (Metzger 1954, S. 62-65), ohne innerhalb dieser Arten eine Systematik anzugeben:

  • Struktur, (Gefüge, Tektonik) wie gerade, rund, symmetrisch, geschlossen, spitz, wellig;
  • Ganzbeschaffenheit wie durchsichtig, leuchtend, rau, gelb;
  • "Wesen" wie Charakter, Habitus, Gefühlswert.

In der älteren Gestaltpsychologie vom Anfang des 20. Jahrhunderts wird "Gestaltgesetz" synonym mit "Gestaltfaktor", "Faktor", "Gesetz" oder auch mit "Gruppierungsgesetz" verwendet. Ein Gestaltgesetz bezeichnet die Art des Zusammenschlusses von erlebten Teilen zu einer erlebten Ganzheit, oft neben einer Gruppe von einzelnen Gegebenheiten. "Der Zusammenschluss erfolgt derart, dass die entstehenden Ganzen in irgendeiner Weise vor anderen denkbaren Einteilungen gestaltlich ausgezeichnet sind", und zwar u. a. so, "dass möglichst einfache, einheitliche, ...geschlossene, ..symmetrische, ...gleichartige Ganzgebilde entstehen" (Wolfgang Metzger 1954, S. 108 f). Für diese und einige andere Arten des Zusammenschlusses wurden viele anschauliche Beispiele zusammengetragen, die den Betrachter unmittelbar überzeugen. Bestimmte Fakten wurden klassifiziert, so dass man von einer deskriptiven Theorie sprechen kann; eine erklärende Theorie für sie wurde jedoch nicht entwickelt.

Die Kanten des Würfels sind imaginär; sie werden von unserem Gehirn nach dem Gesetz der guten Fortsetzung erzeugt

Gestaltgesetze

  • Gesetz der Prägnanz

Es werden bevorzugt Gestalten wahrgenommen, die sich von anderen durch ein bestimmtes Merkmal abheben (Prägnanztendenz). Jede Figur wird so wahrgenommen, dass sie in einer möglichst einfachen Struktur resultiert (= „Gute Gestalt“).

  • Gesetz der Nähe

Elemente mit geringen Abständen zueinander werden als zusammengehörig wahrgenommen.

  • Gesetz der Ähnlichkeit

Einander ähnliche Elemente werden eher als zusammengehörig erlebt als einander unähnliche.

  • Gesetz der Kontinuität

Reize, die eine Fortsetzung vorangehender Reize zu sein scheinen, werden als zusammengehörig angesehen.

  • Gesetz der Geschlossenheit

Linien, die eine Fläche umschließen, werden unter sonst gleichen Umständen leichter als eine Einheit aufgefasst als diejenigen, die sich nicht zusammenschließen (D. Katz, Gestaltpsychologie, 1969).

  • Gesetz der gemeinsamen Bewegung

Zwei oder mehrere sich gleichzeitig in eine Richtung bewegende Elemente werden als eine Einheit oder Gestalt wahrgenommen.

  • Gesetz der fortgesetzt durchgehenden Linie

Linien werden immer so gesehen, als folgten sie dem einfachsten Weg. Kreuzen sich zwei Linien, so gehen wir nicht davon aus, dass der Verlauf der Linien an dieser Stelle einen Knick macht.

Zusätzlich zu diesen von Wertheimer formulierten Gesetzen fand Stephen Palmer in den 1990er Jahren drei weitere Gestaltgesetze [1]

  • Gesetz der gemeinsamen Region

Elemente in abgegrenzten Gebieten werden als zusammengehörig empfunden.

  • Gesetz der Gleichzeitigkeit

Elemente, die sich gleichzeitig verändern, werden als zusammengehörig empfunden.

  • Gesetz der verbundenen Elemente

Verbundene Elemente werden als ein Objekt empfunden.

Leipziger Schule der Gestaltpsychologie (Genetische Ganzheitspsychologie)

Der Philosoph Felix Krueger und der Psychologe Friedrich Sander gründeten die Leipziger Schule der Gestaltpsychologie. Während die Berliner Schule die Auffassung der Erlebensimmanenz vertrat, nach der Erlebnisse aus Erlebnissen hervorgehen, waren die Leipziger der Meinung, Erlebnisse seien durch erlebensjenseitige Gegebenheiten bedingt. Sie setzten einen Bereich transphänomenalen seelischen Seins an, den sie "Struktur" nannten. Konkretere Ausführungen dieser Annahme gab es nicht; bekannt sind die allgemeinen Ausführungen zum "Problem des seelischen Seins" von Albert Wellek.

Sander (und sein Institut) wurde mit Untersuchungen über visuelle Aktualgenese bekannt, die in einer Stufen-Differenzierung des Perzepts bei kontinuierlicher Reizsteigerung bestand. Weder Krueger noch Sander versuchten, die Abfolge der entstehenden Gestaltqualitäten irgendwelchen sie bedingenden strukturellen Gegebenheiten zuzuordnen. Sowohl der aktualgenetische Forschungsansatz als auch die Strukturtheorie sind der Vergessenheit anheimgefallen und werden im 'mainstream' nicht mehr diskutiert.

Würzburger Schule der Gestaltpsychologie

Hierzu zählen Oswald Külpe, Narziß Ach, Karl Bühler, Karl Marbe.

Grazer oder Österreichische Schule der Gestaltpsychologie

Philosophischer Hintergrund: Franz Brentano. Bedeutende Vertreter waren: Alexius Meinong und vor allem Vittorio Benussi - auf den die Entwicklung des Lügendetektors zurückgeht und der der allgemeinen experimentalpsychologischen Forschung auch die Methoden der Suggestion und Hypnose erschloss - sowie Stephan Witasek und Christian von Ehrenfels.

Siehe auch

Literatur

  • Christian von Ehrenfels: Über Gestaltqualitäten. Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie 4, 1890, S. 249-292.
  • Benussi, Vittorio (2002). Psychologische Schriften 1. Textkritische Ausgabe in 2 Bänden herausgegeben von Mauro Antonelli. Bd. I. Psychologische Aufsätze (1904-1914). Bd. 2 Psychologie der Zeitauffassung (1913). Amsterdam: Rodopi.
  • Erwin Lemche: Der gestalttheoretische Aspekt und sein Einfluß auf die Interventionsweise bei S.H. Foulkes
  • Wolfgang Metzger: Gesetze des Sehens. Kramer, Frankfurt/M. 1953
  • Wolfgang Metzger: Psychologie. Die Entwicklung ihrer Grundannahmen seit der Einführung des Experiments. Steinkopf, Darmstadt 1954
  • Wolf Singer: Gestaltwahrnehmung: Zusammenspiel von Auge und Hirn. In: H. Kettenmann und M. Gibson: Kosmos Gehirn. Neurowissenschaftliche Gesellschaft e. V. und BMBF, Berlin 2002
  • Albert Wellek: Das Problem des seelischen Seins. Die Strukturtheorie Felix Kruegers: Deutung und Kritik. 2. erweiterte Auflage, Hain, Meisenheim/Glan 1953

Weblinks

Beispiele für Gestaltwahrnehmungen

Einzelnachweise

  1. Palmer, S.E. (1999) Vision Science. MIT Press, Cambridge (USA)

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