Golodomor

Golodomor
Karte der Opfer in der Ukraine

Holodomor (Ukrainisch Голодомор; russisch Golodomor), früher teilweise auch „Hungerholocaust“ genannt, ist der Name einer großen Hungersnot der Jahre 1932/33 in vielen agrarisch geprägten Teilen der Sowjetunion. Die Bevölkerung der damaligen Ukrainischen SSR wurde dabei überdurchschnittlich hart getroffen, weshalb dieser Teil der Hungersnot heute besonders bekannt ist. Laut neuesten Berechnungen der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften, die im November 2008 veröffentlicht wurden, betrugen die Opferzahlen in der Ukraine ca. 3,5 Millionen Menschen.[1] Andere betroffene Regionen waren unter anderem Südrussland, Gebiete an der mittleren und unteren Wolga, Südural, Nordkasachstan und Westsibirien. Hauptsächlich betroffen waren landwirtschaftliche Räume, die eigentlich zur Produktion eines Überschusses an Getreide in der Lage waren. Andere Quellen sprechen von gut 10 Millionen Toten innerhalb von 2 Jahren. Der Historiker Robert Conquest bezifferte 1986 auf Basis sowjetischer Volkszählungen die Gesamtopferzahl auf bis zu 14,5 Millionen Menschen, die die Hungertoten und die Opfer von Kollektivierung und Kulakenverfolgung zusammenfasst.[2]

Inhaltsverzeichnis

Politischer Hintergrund

1932 erhielt Stalins Schwager Stanislaw Redens, der seit Juli 1931 Leiter der ukrainischen GPU war, zusammen mit dem dortigen Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei der Ukraine, Stanislaw Kossior, die Aufgabe, als Bestandteil der Kollektivierung einen Plan zu entwickeln, um die „Kulaken und die petljurschen Konterrevolutionäre“ zu liquidieren. Zweitausend Kolchos-Vorsitzende wurden daraufhin verhaftet. Als im Januar 1933 das Getreidesoll nicht erreicht war, löste man Redens in der Ukraine ab [3].

Die Hungerkatastrophe in der Ukraine wurde von den Journalisten Gareth Jones und Malcolm Muggeridge im Frühjahr 1933 an die Weltöffentlichkeit getragen, sowjetfreundliche Journalisten wie Walter Duranty von der The New York Times stellten aber die Lage als weniger dramatisch dar und das Thema wurde vom gleichzeitigen Aufstieg Hitlers zum Diktator Deutschlands medial überlagert.

Etymologie

Das Wort Holodomor setzt sich aus den zwei ukrainischen Wörtern „Holod“ und „Mor“ zusammen. „Holod“ („голод“, Russisch Golod) heißt „Hunger“, „Mor“ ist ein altes ostslawisches Wort und bedeutet „Tod“, „Seuche“, „Massensterben“, in den modernen Sprachen (sowohl Ukrainisch als auch Russisch) bedeutet das „Vertilgung“. Holodomor/Golodomor heißt somit wörtlich „Hungerstod“. Mit dem Wort Holocaust besteht kein etymologischer Zusammenhang.

Forschungskontroversen

Gedenkstätte in Kiew

Über die Ursachen des Holodomor gibt es höchst unterschiedliche Auffassungen. Insbesondere ukrainische Geschichtswissenschaftler betonen, dass es sich um eine systematische und vom Regime Stalins organisierte Hungersnot handelte. Der ungarische Historiker Miklós Kun meint: „Es war eine bewusst und systematisch durchgeführte Ermordung von Millionen Menschen. (...) Während in ukrainischen Dörfern die verzweifelten, vor Hunger irre gewordenen Menschen die grünen Zweige der Bäume aßen, wurden ukrainische Lebensmittel auf Stalins Befehl in anderen sowjetischen Republiken im Rahmen des sogenannten „sowjetischen Dumpings“ zu günstigen Preisen verkauft ...“

Kind zur Zeit des Holodomor

Demgegenüber argumentieren vor allem russische Historiker, dass die Hungersnot die Folge einer schlechten Ernte gewesen sei, welche durch die Kollektivierung der Landwirtschaft und den damit verbundenen Widerstand der ukrainischen Bauern verschlimmert worden sei. Dies allerdings hat die Sowjetunion nicht davon abgehalten, sogar größere Mengen Getreide zu exportieren. Gunnar Heinsohn stellt fest, dass in der Ukraine, in Kasachstan und einigen Kaukasusgebieten, in denen starker Widerstand gegen die durch Zwangskollektivierung durchgeführten Enteignungen vorhanden war, dieser mit dem Mittel der absichtlich herbeigeführten und durch Zwangsrequirierungen verschlimmerten Hungersnot gebrochen werden sollte. Auch die Unabhängigkeitsbewegungen dieser Völker sollten auf diese Weise getroffen werden. So unterband die kommunistische Partei auch die Versorgung der Hungernden und die Ausreise von Ukrainern aus den Hungergebieten. Dieses gesamte Vorgehen wird von Heinsohn als Mischung von Politizid und Genozid bezeichnet, dessen wahrheitsgemäße Darstellung oft aus politischen Gründen als „böswilliger Antikommunismus diffamiert wurde“. [4] Andere kritisieren den Begriff Holodomor. In ihren Augen wird er von einigen Ukrainern verwendet, um die tragischen Folgen der über die Ukraine hinaus gehenden Kollektivierung für nationalistische Zwecke politisch zu missbrauchen.

Neuere westliche Forschungen gehen inzwischen – nicht zuletzt nach der Öffnung vieler Archive in den 1990er Jahren – davon aus, dass der Holodomor als eine Verkettung von Folgen und Nebenfolgen äußerst rücksichtsloser und brutaler Politik der Zwangskollektivierung, Herrschaftskonsolidierung und Widerstandsunterdrückung sowie zusätzlich hinzukommender wetterbedingter Ernteausfälle erklärt werden könne. [5]

Anerkennung des Holodomor als Völkermord

Karte der Länder, die den Holodomor als Völkermord an Ukrainern anerkennen

Die ukrainische Führung unter Präsident Wiktor Juschtschenko arbeitet seit Jahren daran, dass der Holodomor weltweit als Genozid am ukrainischen Volk anerkannt wird. Neben der Ukraine haben Argentinien[6], Australien[7], Aserbaidschan, Belgien, Brasilien, Ecuador, Estland, Georgien[8], Italien, Kanada[9], Lettland, Litauen[10], Moldawien, Paraguay, Peru, Polen[11], Spanien, Ungarn[12], die USA [13] und der Vatikan[14] den Holodomor offiziell als Völkermord anerkannt.

Russland lehnt die Bezeichnung „Genozid“ für den Holodomor ab. Dem Außenministerium der Russischen Föderation nach seien dem Hunger in der Sowjetunion 1932-1933 nicht nur Angehörige eines Volkes zum Opfer gefallen. In Russland überwiegt die Ansicht, dass der Holodomor von „bestimmten politischen Kreisen“ in der Ukraine für ihre Zwecke missbraucht werde.[15] Der russische Präsident Dmitri Medwedew lehnte eine Einladung zu einer Gedenkveranstaltung in Kiew im November 2008 ab, da diese dazu diene, das "ukrainische Volk dem russischen zu entfremden"[16].

Rezeption

Photographie

Filme

  • 1983, Kanada, Neznanyj holod (Der unbekannte Hunger) (Незнанный Голод) [10], [11]
  • 1984, Kanada, Zhnyva rozpatschu (Ernte der Verzweiflung) (Жнива розпачу)
  • 1989, Ukraine, '33, svidtschennya otschewydtsiw ('33, Augenzeugenberichte) (33-й, свідчення очевидців)
  • 1990, Ukraine, Pid znakom bidy (Unter dem Zeichen des Unglücks) (Під знаком біди)
  • 1991, Ukraine, Holod - 33 (Hunger - 33) (Голод — 33) [12]
  • 1993, Ukraine, Velykyj slam (Der große Umbruch) (Великий злам)
  • 1994, Ukraine, Pieta (Пієта)
  • 2002, Ukraine, Ukrajins'ka nitsch 33-ho (Ukrainische Nacht von 1933) (Українська ніч 33-го)
  • 2003, Ukraine, Tschas temrjavy (Die Zeit der Dunkelheit (Час темряви)
  • 2004, Ungarn, Holodomor 1932-1933 r.r. (Голодомор 1932-1933 р.р.)
  • 2005, Ukraine, Velykyj Holod (Der große Hunger) (Великий Голод) [13]
  • 2005, Russland, Tajna propavshej perepisi (Das Geheimnis der verschollenen Volkszählung (Тайна пропавшей переписи)
  • 2005, Ukraine, Holodomor. Tehchnologiji genozydu (Holodomor. Technologien des Genozids) (Голодомор. Технології геноциду)
  • 2005, Ukraine, Holodomor. Ukrajina (Holodomor. Ukraine) (Голодомор. Україна)
  • Holodomor. Ukrajina 20-ho stolittja (Holodomor. Ukraine im 20. Jh.) (Голодомор. Україна ХХ століття)
  • Zhyty zaboroneno (Zu leben ist verboten) (Жити заборонено)

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Голодомор 1932-1933 годов в Украине унес жизни 3,5 млн человек - НАН Украины. Korrespondent.Net. Abgerufen am 12.11.2008. (russisch)
  2. DIE ZEIT 48/2008: Stalinismus - Stille Vernichtung, 20.11.2008
  3. Реденс Станислав Францевич. Abgerufen am 21. Januar 2007. (russisch)
  4. Gunnar Heinsohn: Lexikon der Völkermorde, Rowohlt rororo 1998
  5. Davies, Robert W.; Wheatcroft, Stephen G., The Years of Hunger. Soviet Agriculture 1931-1933, Houndmills 2004; Wheatcroft, Stephen G., Towards Explaining the Soviet Famine of 1931-1933: Political and Natural Factors in Perspective, in: Food and Foodways Vol. 12 (2004), Nr. 2-3, S. 104-136; Penner, D’ann R., Stalin and the "Ital’ianka" of 1932-1933 in the Don Region, in: Cahiers du Monde Russe 39 (1998), S. 27-67.
  6. [1]
  7. [2]
  8. [3]
  9. [4]
  10. [5]
  11. [6]
  12. [7]
  13. [8]
  14. [9]
  15. http://rus.newsru.ua/ukraine/20nov2007/golod.html
  16. FAZ vom 20.08.2008: Viktor Juschtschenko im Gespräch „Vielleicht die größte humanitäre Katastrophe“

Literatur

  • Levon Chorbajian, George Shirinian (Hrsg.): Studies in Comparative Genocide. New York 1999. ISBN 0-312-21933-4
  • Robert Conquest: The Harvest of Sorrow: Soviet Collectivization and the Terror — Famine. Edmonton: The University of Alberta Press in Association with the Canadian Institute of Ukrainian Studies, 1986.
  • Robert Conquest: La grande terreur, précédé des "Sanglantes moissons : Les purges staliniennes des années 30". R. Laffont, Paris 1995. ISBN 2-221-06954-4
  • Robert Conquest: Ernte des Todes. Stalins Holocaust in der Ukraine 1929 - 1933. Langen Müller, München 1988, 1997. ISBN 3-7844-2169-5
  • Robert W. Davies, Stephen G. Wheatcroft: The Years of Hunger. Soviet Agriculture 1931-1933. Houndmills 2004. ISBN 3-412-10105-2
  • Robert W. Davies, Stephen G. Wheatcroft: Stalin and the Soviet Famine of 1932-33 - A Reply to Ellman. in: Europe-Asia Studies. Abingdon 58.2006, 4, S.625-633. ISSN 0038-5859
  • G. De Rosa, F. Lomastro (Hrsg.): La morte della terra. La grande «carestia» in Ucraina nel 1932-33. Atti del Convegno (Vicenza, 16-18 ottobre 2003). Viella, Roma 2005. ISBN 88-8334-135-X
  • Miron Dolot: Who Killed Them and Why? In Remembrance of Those Killed in the Famine of 1932-1933 in Ukraine. Cambridge Mass 1984. ISBN 0-9609822-1-3
  • Miron Dolot: Execution by Hunger. The Hidden Holocaust, a survivor's account of the Famine of 1932-1933 in Ukraine. New York City 1985. ISBN 0-393-30416-7
  • Miron Dolot: Les affames - l'holocauste masque, ukraine 1929-1933. Paris 1986. ISBN 2-85956-514-0
  • Barbara Falk: Sowjetische Städte in der Hungersnot 1932/33. Staatliche Ernährungspolitik und städtisches Alltagsleben. Beiträge zur Geschichte Osteuropas. Bd 38. Böhlau, Köln 2005. ISBN 3-412-10105-2
  • Andrea Graziosi: The Great Soviet Peasant War: Bolsheviks and Peasants, 1917-1933. Cambridge Mass 1997. ISBN 0-916458-83-0
  • Wsevolod W. Isajiw (Hrsg.): Famine-Genocide in Ukraine, 1932-1933. Western Archives, Testimonies and New Research. Toronto 2003. ISBN 0-921537-56-5
  • Eugene Lyons: Assignment in Utopia. Harcourt, Brace & Co, New York 1937. (Auszug)
  • E. Mace James: Soviet Man-Made Famine in Ukraine. in: Samuel Totten u.a. (Hrsg.): Century of Genocide. Eyewitness Accounts and Critical Views. New York 1997, S.78-112. ISBN 0-8153-2353-0
  • E. Mace James: Communism and the Dilemmas of National Liberation: National Communism in Soviet Ukraine, 1918-1933. Cambridge Mass 1985. ISBN 978-0-916458-09-6
  • Anna Kaminsky (Hrsg.): Erinnerungsorte an den Holodomor 1932/33 in der Ukraine; Berlin 2008; ISBN 978-3-86583-261-0
  • Robert Kusnierz: Ukraina w latach kolektywizacji i Wielkiego Głodu (1929-1933). Torń 2005.
  • Rudolf A. Mark, Gerhard Simon, Manfred Sapper, Volker Weichsel, Agathe Gebert (Hrsg.): Vernichtung durch Hunger. Der Holodomor in der Ukraine und der UdSSR. Berlin 2004. ISBN 3-8305-0883-2
  • Stephan Merl: War die Hungersnot von 1932-1933 eine Folge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft oder wurde sie bewußt im Rahmen der Nationalitätenpolitik herbeigeführt? in: G. Hausmann, A. Kappeler (Hrsg.): Ukraine - Gegenwart und Geschichte eines neuen Staates. Baden-Baden 1993, S.145-166. ISBN 3-7890-2920-3
  • D’ann R. Penner: Stalin and the "Ital’ianka" of 1932-1933 in the Don Region. in: Cahiers du Monde Russe. Paris 39.1998, S.27-67. ISSN 0008-0160
  • Oksana Procyk, Leonid Heretz, E. Mace James: Famine in the Soviet Ukraine 1932-1933. A Memorial Exhibition. Cambridge Mass 1986. ISBN 0-674-29426-2
  • Georges Sokoloff: 1933, L'année noire - Témoignages sur la famine en Ukraine. Albin Michel, Paris 2000. ISBN 2-226-11690-7
  • Douglas Tottle: Fraud, Famine and Fascism. The Ukrainian Genocide Myth from Hitler to Harvard. (stellt den Holodomor als „Lüge“ dar)
  • Stephen G. Wheatcroft: Towards Explaining the Soviet Famine of 1931-1933. Political and Natural Factors in Perspective. in: Food and Foodways. Chur 12.2004, H.2-3, S.104-136. ISSN 0740-9710
  • Dmytro Zlepko (Hrsg.): Der ukrainische Hunger-Holocaust. Stalins verschwiegener Völkermord 1932/33 an 7 Millionen ukrainischer Bauern im Spiegel geheim gehaltener Akten des deutschen Auswärtigen Amtes. Eine Dokumentation. Wild, Sonnenbühl 1988. ISBN 3-925848-03-7

Weblinks


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