Harry Graf Keßler

Harry Graf Keßler
Harry Graf Kessler, Fotografie von Rudolf Dührkoop (1917)

Harry Clemens Ulrich von (seit 1879) Kessler, auch Harry Graf von (seit 1881) Kessler, (* 23. Mai 1868 in Paris; † 30. November 1937 in Lyon) war ein deutscher Kunstsammler, Museumsdirektor, Mäzen, Essayist, Literat, Publizist, Politiker, Diplomat und Pazifist.

Inhaltsverzeichnis

Familie

Harry Kessler war der Sohn des Hamburger Bankiers Adolf Wilhelm Kessler und der Irin Alice Harriet Blosse-Lynch (* 17. Juli 1844 in Bombay; † 19. September 1919 in der Normandie), Tochter des irischen Baronets Henry Blosse-Lynch. Am 10. August 1867 heirateten Kesslers Eltern in Paris. 1877 wurde Kesslers jüngere Schwester Wilma Kessler (verheiratet: Wilma de Brion), geboren, deren Patenschaft Kaiser Wilhelm I. übernahm.

Es gab vielfach Gerüchte über eine Beziehung zwischen dem Kaiser und Kesslers Mutter; immer wieder wurde vermutet, dass nicht Adolf Kessler, sondern Wilhelm I. der Vater Harrys war. Jedenfalls lernte Wilhelm Harrys Mutter in den späten 1860er Jahren kennen – womöglich auf der Pariser Weltausstellung von 1867 – und blieb mit ihr zeitlebens in Kontakt.[1] 1879 wurde Harry zusammen mit seinem Vater Adolf Wilhelm von Wilhelm I. in den erblichen Adelsstand, 1881 dann durch den Fürsten Reuß j.L. in den erblichen Grafenstand erhoben.

Leben, Werk und Zeitgeist

Kessler wuchs in Frankreich, England und in Deutschland auf. Er war in mehreren Kulturen erzogen worden, unternahm zahlreiche Reisen, war als Diplomat im Ausland tätig. Er selbst betrachtete sich auch Zeit seines Lebens als Angehöriger einer europäischen Gesellschaft.

Kessler besuchte in seiner Kindheit zunächst ein Halbinternat in Paris und wechselte 1880 auf ein Internat in Ascot (England). Auf Wunsch seines Vaters trat er 1882 in die Hamburger Gelehrtenschule des Johanneums ein, wo er auch das Abitur machte. Anschließend trat er ins 3. Garde-Ulanen-Regiment in Potsdam ein und wurde Offizier. Um die Möglichkeiten, die seine gesellschaftliche Stellung ihm bot, auszunutzen, entschied sich Kessler zunächst für ein Jurastudium, das er 1888 in Bonn begann und einige Jahre später in Leipzig mit einer Promotion abschloss, später noch für ein Studium der Kunstgeschichte. 1893, nach seiner Übersiedelung nach Berlin, arbeitete er in der Redaktion der Kunstzeitschrift PAN mit, in der unter anderem Veröffentlichungen von Richard Dehmel, Theodor Fontane, Friedrich Nietzsche, Detlev von Liliencron, Julius Hart, Novalis, Paul Verlaine und Alfred Lichtwark sowie Kunstbeilagen berühmter Maler erschienen. In Berlin wurde Kessler Mitglied der 1875 gegründeten Studentenverbindung Canitzgesellschaft und verkehrte in vielen Salons, vor allem bei Marie von Schleinitz, der er in seinen Memoiren ein Andenken setzte.[2]

Am 2. März 1903 hatte Harry Graf Kessler die ehrenamtliche Leitung des Weimarer Museums für Kunst und Kunstgewerbe übernommen. Kessler hatte Weimar zum Experimentierfeld gewählt. Er wollte das Ausstellungskonzept modernisieren und eine ständige Ausstellung für Kunst und Kunstgewerbe einrichten, um in dieser relativ abgeschlossenen Sphäre einen kulturellen Reformversuch zu wagen, für den die Metropolen Berlin oder München keine Möglichkeiten boten. Neben seiner Tätigkeit im Museumsbereich hatte Kessler seit 1904 ein neues Buchkunstprogramm entworfen. Er gestaltet das Buch als Gesamtkunstwerk, indem er Typographie, Illustration und Inhalt künstlerisch aufeinander abstimmte. In Zusammenarbeit mit dem Insel-Verlag (damals Leipzig und Weimar, heute Frankfurt/Main) und dem Goethe- und Schiller-Archiv erschien zuerst eine neue Goethe-Ausgabe, der verschiedene Klassikerneuausgaben folgten. Der Verlag stellte Kessler ein Forum zur Verfügung, der mit diesen Erfahrungen den Grundstein für seine eigenen herausgeberischen Tätigkeiten legte: 1913 richtete er in Weimar unter dem Namen Cranachpresse eine eigene Presse ein, in der er u.a. Shakespeares Hamlet in der Übersetzung von Gerhart Hauptmann druckte. Es entstanden weitere Ausgaben klassischer Werke wie der Eclogen des Vergil, das Satyricon des Petronius mit Holzschnitten von Aristide Maillol, diverse Werke zeitgenössischer Schriftsteller sowie eigene Schriften. Ende der zwanziger Jahre nahm Kessler als Publizist Einfluss auf die politischen Diskussionen der Weimarer Republik. Er schrieb eine Biografie des 1922 von Rechtsextremen ermordeten Politikers Walther Rathenau, seit 1932 erschien die von ihm mitherausgegebene Zeitschrift Das Freie Wort.

Kesslers Pläne für eine Kulturreform gingen über die Bildende Kunst weit hinaus. Für das Theaterwesen hatte er ein Reformkonzept entwickelt. Hierbei inspirierten und unterstützten ihn einige der anderen Theaterreformer seiner Zeit, so Edward Gordon Craig, Max Reinhardt und Karl Gustav Vollmoeller. Letztere zwei trieben ihre Theaterreform voran und setzen sie zwischen 1910 und 1914 erfolgreich mit ihren Großrauminszenierungen um.

Unter dem Namen eines so genannten Mustertheaters wollte Kessler eine neue Institution etablieren. Den dazugehörigen Theaterneubau sollte der Architekt und Künstler Henry van de Velde entwerfen. Außerdem unternahm Kessler den Versuch, durch die Einbeziehung europäischer Dichter und Schriftsteller die literarische Moderne im „Neuen Weimar“ einzuführen und dem Ort einen neuen, europäisch geprägten, literarischen Glanz zu verleihen. Gerhart Hauptmann, Richard Dehmel und Rainer Maria Rilke waren auf Vermittlung Kesslers mit Vorträgen in Weimar zu Gast. Die Pläne seines Mustertheaters scheiterten jedoch nach einer ausführlichen öffentlichen Diskussion an den konservativ-nationalistisch-völkischen Widerständen. Die international orientierte europäische Moderne und die national-völkisch ausgerichtete Heimatkunstbewegung standen sich im Kaiserreich gegenüber. Diese Positionen prallten in Weimar zu Anfang des 20. Jahrhunderts aufeinander. Zusammen mit Friedrich Lienhard hatte gegen Ende der 19. Jahrhunderts der völkisch-antisemitische Weimarer Literaturhistoriker Adolf Bartels erste Überlegungen zur Gründung einer neuen Zeitschrift angestellt. Die erste Nummer erschien zu Beginn des Jahres 1900 unter dem Titel Heimat. Blätter für Litteratur und Volkstum im Heimatverlag Georg Heinrich Meyer (Berlin, Leipzig). Die Zeitschrift stieg zum Sprachrohr der so genannten Heimatkunstbewegung auf und wurde noch im selben Jahr in Deutsche Heimat umbenannt. Kesslers Reformpläne scheiterten und die konservativen Positionen gewannen die Oberhand. Dabei spielte der Personenkreis um die Weimarer Ortsgruppe des Bundes Heimatschutz, aus dem der Deutsche Schillerbund hervorging, eine wesentliche Rolle. Auch andere Künstlerpersönlichkeiten verließen ihre vorübergehende Wirkungsstätte Weimar. 1908 ging der Maler und Grafiker Ludwig von Hofmann, zwei Jahre später der Künstler Hans Olde, 1915 verließ schließlich auch Henry van de Velde Weimar, der mit seinen architektonischen und kunstgewerblichen Arbeiten die Voraussetzungen des Bauhauses schuf.

Über viele Jahre war Kessler eng mit Elisabeth Förster-Nietzsche befreundet, die auch auf seinen Rat hin Weimar als Sitz des 1903 von van de Velde neu gestalteten Nietzsche-Archivs gewählt hatte. Erst in den 1920er Jahren kühlte sich diese Freundschaft ab, auch wegen wachsender politischer Differenzen.

1903 gründete Kessler den Deutschen Künstlerbund (er wurde dessen erster Vizepräsident), der bis dahin weniger anerkannte Künstler wie Edvard Munch, Johannes R. Becher, Detlev von Liliencron und die Maler der Brücke unterstützte. 1906 bot ein Ausstellungs-Eklat Anlass genug, um Kessler seines Amtes zu entheben.

Mit Hugo von Hofmannsthal verband ihn seit 1898 eine langjährige Freundschaft, 1908 unternahm er mit ihm und Aristide Maillol eine Reise nach Griechenland. Am Libretto zum Rosenkavalier war Kessler ein maßgeblicher Mitverfasser. Hofmannsthal setzte dann auch die Worte voran: „Ich widme diese Komödie dem Grafen Harry Kessler, dessen Mitarbeit sie so viel verdankt.“ 1911 machte er Sergei Djagilews St. Petersburger Compagnie Ballets Russes auf Hofmannsthal aufmerksam und verschaffte ihm den Auftrag für das Ballett mit der Musik von Richard Strauss Josephslegende.

Während des Ersten Weltkriegs arbeiteten Kessler und Karl Gustav Vollmoeller intensiv für die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes, über die deutsche Botschaft in Bern, zusammen. Sie entwickelten Aktivitäten die auf Friedenspläne mit Frankreich und England abzielten (nachzulesen in den veröffentlichten Tagebüchern Kesslers). Im November 1918 wurde Kessler deutscher Gesandter in Warschau, im unabhängig gewordenen Polen. 1919 verfasste er einen Plan zu einem Völkerbunde auf Grund einer Organisation der Organisationen (Weltorganisation), der die Verfassung eines derartigen internationalen Staatenbundes enthält. Zweck dieses Bundes war vor allem die Vermeidung neuer Kriege, die Sicherung der Menschenrechte und die Regelung des Welthandels. Hauptorgan dieses Bundes ist der Weltrat, der auch einen geschäftsführenden Ausschuss wählt. Nach seinem Plan sollen ein Weltjustizhof, ein Weltschiedsgerichtshof und Verwaltungsbehörden errichtet werden. Dieser nach Paragraphen geordnete Plan hat die Form einer staatlichen Verfassung. Einen weiteren Plan für eine überstaatliche Organisation entwickelte er 1920 als Richtlinien für einen wahren Völkerbund in Form einer Resolution. 1922 übernahm er für kurze Zeit das Amt des Präsidenten der Deutschen Friedensgesellschaft, deren Mitglied er von 1919 bis 1929 war. 1924 versuchte er für die von ihm mitgegründete Deutsche Demokratische Partei ein Reichstagsmandat zu erlangen. Da dieser Versuch scheiterte, zog er sich weitgehend aus der Politik zurück. In den zwanziger Jahren war Kessler des Öfteren Gast des Berliner SeSiSo-Clubs. Nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ im März 1933 resignierte Kessler und emigrierte zunächst nach Paris, dann nach Mallorca und schließlich in die südfranzösiche Provinz. Er starb 1937 in Lyon.

Kessler führte 57 Jahre (1880–1937) Tagebuch, wobei er großen Wert auf Vollständigkeit legte. Dieses Tagebuch darf mit Recht als Kesslers literarischer Nachlass bezeichnet werden. Zur Zeit wird im Deutschen Literaturarchiv (Marbach am Neckar) an seiner Veröffentlichung gearbeitet, 7 Bände sind bereits erschienen. Sie enthalten umfangreiche Register der im Text vorkommenden Orte, Werke und Personen mit teilweise umfangreichen Erläuterungen. Am Ende werden unter anderem die Namen von etwa 12.000 mehr oder weniger bedeutenden Zeitgenossen, von Sarah Bernhardt und Jean Cocteau über Otto von Bismarck und Albert Einstein bis George Bernard Shaw und Josephine Baker, aufgelistet sein, die Kesslers Ruf als Menschensammler begründen. Kritiker halten diese Texte denn auch für ein Fest für Literaturnarren und Wissbegierige nach Geschichte und Geschichten. Kessler macht in seinen Aufzeichnungen die sinnliche Erfassung von Phänomenen zum Credo. Seine Wahrnehmungs-Erfahrungen, so die Kritik, tragen nicht selten Züge einer Experimentalsituation, einer Inszenierung und besitzen somit artifiziellen Charakter.

Schriften

  • Das Tagebuch 1880–1937. Klett-Cotta, Stuttgart 2004 ff.
    • Bisher erschienen:
    • Bd. 2: 1892–1897. ISBN 3-7681-9812-X
    • Bd. 3: 1897–1905. ISBN 3-7681-9813-8
    • Bd. 4: 1906–1914. ISBN 3-7681-9814-6
    • Bd. 5: 1914–1916. ISBN 3-7681-9815-4
    • Bd. 6: 1916–1918. ISBN 3-7681-9816-2
    • Bd. 7: 1919–1923. ISBN 3-7681-9817-0
    • Bd. 8: 1923–1926. ISBN 3-7681-9818-9
  • Tagebücher 1918–1937. 2. Aufl. Insel, Frankfurt/M. 2003. ISBN 3-458-33479-3
  • Gesammelte Schriften in drei Bänden. Fischer, Frankfurt/M. 1988. ISBN 3-596-25678-X
    • Bd 1: Gesichter und Zeiten.
    • Bd 2: Notizen über Mexiko.
    • Bd 3: Erinnerungen.

Einzelnachweise

  1. Fritz J. Raddatz: Chronist der Epoche.
  2. Gesichter und Zeiten, S. 16–18.

Literatur

  • Harry Kessler: Souvenirs d'un européen, de Bismarck à Nietzsche. Plon, Paris 1936.
  • Tamara Barzantny: Harry Graf Kessler und das Theater. Autor – Mäzen – Initiator 1900–1933. Böhlau, Köln u.a. 2002. ISBN 3-412-03802-4
  • Laird McLeod Easton: Der rote Graf, Harry Graf Kessler und seine Zeit. Aus dem Amerikanischen von Klaus Kochermann. Klett-Cotta, Stuttgart 2005. ISBN 3-608-93694-7
  • Peter Grupp: Harry Graf Kessler – eine Biographie. Insel, Frankfurt/M. 1999. ISBN 3-458-34233-8
  • Gerhard Neumann (Hrsg.): Harry Graf Kessler, ein Wegbereiter der Moderne. Rombach, Freiburg im Breisgau 1997. ISBN 3-7930-9118-X
  • Friedrich Rothe: Harry Graf Kessler. Siedler, Berlin 2008. ISBN 3-886-80824-6
  • Carina Schäfer: Maurice Denis et le comte Kessler (1903–1913). In: Europäische Hochschulschriften. Histoire de l’Art. Frankfurt/M. 28.1997, S.309. ISSN 0721-3557
  • Fritz J. Raddatz: Chronist der Epoche. In: Die Zeit. Hamburg 2004, Nr. 18 (22. April). ISSN 0044-2070

Weblinks


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