Hermeneutische Ethnologie

Hermeneutische Ethnologie

Interpretative Ethnologie ist ein wissenschaftstheoretisches Paradigma der Ethnologie und grenzt sich gegen die Analytische Ethnologie ab.

Inhaltsverzeichnis

Raum-Zeitliche Eingrenzung

Die Entkolonialisierung konfrontierte Ethnologen bereits früh mit einer genaueren Hinterfragung der vielschichtigen Beziehungen zwischen Ethnologen auf der einen, und Ethnien auf der anderen Seite. Es wurden besonders das Problem der Autorität (beispielsweise Verknüpfungen des Ethnologen mit Machtstrukturen) und das Problem der Authentizität (Kritik an den Feldforschungsmethoden) diskutiert. Die Diskussion um diese "Krise der Ethnologie" erlebte ihren Höhepunkt in den 1940er und 1950er Jahren.

Im Umfeld der Veröffentlichungen des US-amerikanische Anthropologen Clifford Geertz und der ihm entgegengebrachten Kritik kann eine postmoderne Wende in der wissenschaftstheoretischen Diskussion der Ethnologie grob um 1980 konstatiert werden. Diese Wende wurde auch durch zeitnahe Diskussionen in der Philosophie und Soziologie beeinflusst. (Stellrecht 93)

Terminologische Vielfalt

Die Vielzahl der Veröffentlichungen und Diskussionen welche die "Krise der Ethnologie" zu überwinden suchten, brachte mehrere Begriffe hervor welche - von Marcus und Fischer 86 indirekt vorgeschlagen - unter dem Begriff der Interpretativen Ethnologie zusammengefasst werden könnten: Hermeneutische Ethnologie, Symbolische Ethnologie (vor allem in den 70ern), Dialogische, Semantische, Kritische, Reflexive, Humanistische, Dekonstruktivistische, Radikale oder Experimentelle Ethnologie bzw. Ethnographie. (Stellrecht 93)

Grundposition

Abgrenzend zur Analytischen Ethnologie bezweifelt die Interpretative Ethnologie die Existenz einer objektiv von außen wahrnehmbaren Realität bei ihrem Forschungsgegenstand. Gegenstände, Gesagtes und soziale Akte erhalten erst durch die Interpretation durch Teilnehmer einer bestimmten Kultur einen Sinn. Die Bedeutungen der Gegenstände entstehen erst in einem Handlungs- und Kommunikationskontext. Beobachterferne Phänomene an sich kann es nicht geben.

Der interpretative Ethnologe akzeptiert diese Welt der Bedeutungen und versucht sie aus dem Kontext von Reden und Verhalten während der Feldforschung wahrzunehmen. Das Beobachtete muss interpretiert werden um verstanden werden zu können. Dieser Prozess ist beobachternah und wird durch Kommunikation zwischen dem Ethnographen und selber deutenden Kulturteilnehmern ausgetragen. Dadurch werden keine objektiven Wahrheiten erkannt, sondern sachadäquate Perspektiven im Verständnis des Ethnographen erstellt. In einem zweiten Schritt werden diese Feldforschungsergebnisse als Text inskribiert, was wiederum eine weitere Stufe von Interpretation darstellt. (Stellrecht 93)

Interpretative Ethnologie in der Feldforschung

Die Feldforschung teilen sich sowohl Anhänger der Interpretativen als auch der Analytischen Ethnologie. Während analytisch vorgehende Ethnologen allerdings eher mit vorher definierten, möglichst systematischen, generalisierten Verfahren an den Forschungsgegenstand herantreten, wechselt der interpretative Ethnologe eher seine Methoden (Teilnehmende Beobachtung, (un-)strukturierte Interviews, die Aufnahme von Dialogen, Beschreibung von sozialem Alltagshandeln, uvm.) um sich der jeweiligen Position innerhalb des Hermeneutischen Zirkels anzupassen. (Stellrecht 93)

Zitate

"Interpretative Ethnologie stellt diejenigen Fragen, die nicht gestellt zu haben die Erfolgsbedingung der Analytischen Ethnologie ist, und das gilt auch umgekehrt." (Stellrecht,I. 93, S. 64)

"Während analytisches Erkennen zergliedert und erst abschließend die Ergebnisse zum Ganzen zusammensetzt, wird im hermeneutischen Verfahren vermeintlich verstandenes Sinnganzes an die Deutung des Einzelnen, im Vorgriff auf einen ganzheitlichen Verstehensprozeß, von Anfang an herangeführt." (Stellrecht,I. 93, S. 40)

"Diese Interdisziplinarität ist für die Interpretative Ethnologie fundamental: sobald Interpretation nicht durch einen dogmatisch vorgegebenen Rahmen eingegrenzt ist, kann sie über Fachgrenzen hinausgreifen und Kenntnisse anderer Wissenschaften vom Menschen einbeziehen. Nur so kann man innerhalb der Interpretativen Ethnologie zu Deutungen kommen, die ihrem komplexen Erkenntnisgegenstand - Kultur - angemessen sind." (Stellrecht,I. 93, S. 44f)

"In finished anthropological writings, including those collected here, this fact - that what we call our data are really our own constructions of other people's constructions of what they and their compatriots are up to - is obscured because most of what we need to comprehend a particular event, ritual, custom, idea, or whatever is insinuated as background information before the thing itself is directly examined." ( Geertz, C. 93, S. 9)

Literatur

  • Bachmann-Medick, Doris: Interpretive Turn, in: Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 3. neu bearb. Aufl. Reinbek: Rowohlt 2009, S. 58-103.
  • Clifford, James/Marcus,George E. (Hg.): Writing Culture: the Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 1986.
  • Geertz, Clifford: The Interpretation of Cultures. New York: Fontana Press 1993.
  • Stellrecht, Irmtraud: Interpretative Ethnologie: Eine Orientierung. In: Kokot, Waltraud (Hg.): Handbuch der Ethnologie. Berlin: Reimer 1993, S. 29-73.

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