Hermeneutische Polizeiforschung

Hermeneutische Polizeiforschung
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Die hermeneutische Polizeiforschung ist ein in der Entwicklung begriffenes komplexes theoretisches, methodologisches und methodisches Konzept, das im Wesentlichen auf die Arbeiten von Jo Reichertz und Norbert Schröer zurückgeht [1] und das zum Ziel hat, die gesellschaftliche Arbeit der Polizei zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären. Argumentiert wird dabei aus der Perspektive der hermeneutischen Wissenssoziologie, also aus der Perspektive einer sich wissenssoziologisch verstehenden und strukturanalytisch arbeitenden qualitativen Sozialforschung [2]. In dieser Form ist die Forschungs- und Argumentationsperspektive der hermeneutischen Polizeiforschung für die Polizeisoziologie neu.

Inhaltsverzeichnis

Ausgangspunkt

Die Perspektive der hermeneutischen Polizeiforschung kann als wissenssoziologisch und strukturanalytisch beschrieben werden.

Sie ist wissenssoziologisch, weil sie diesseits von Konstruktivismus und Realismus die Großfragestellung untersucht, wie Handlungssubjekte (in diesem Falle also Polizisten) – hineingestellt und sozialisiert in historisch und sozial entwickelte Routinen und Deutungen des jeweiligen Handlungsfeldes – diese einerseits vorfinden und sich aneignen (müssen), andererseits diese immer wieder neu ausdeuten und damit auch „eigen-willig“ erfinden (müssen). Die neuen (nach den Relevanzen des Handlungssubjekts konstituierten) Auslegungen des gesellschaftlich vorausgelegten Wissens werden ihrerseits (ebenfalls als Wissen) in das gesellschaftliche Handlungsfeld wieder eingespeist [3].

Strukturanalytisch ist die Perspektive der hermeneutischen Polizeiforschung, weil demnach das Verhalten von Polizisten erst dann verstanden ist, wenn man in der Lage ist, konkret beobachtetes polizeiliches Handeln in Bezug zu dem institutionell vorgegebenen und für den jeweiligen polizeilichen Handlungstypen relevanten Bezugsrahmen zu setzen und es in dieser Weise für diese Situation als eine (für die Akteure) sinnmachende (also nicht unbedingt gültige!) „Lösung“ eines Handlungsproblems nachzuzeichnen. Folglich geht es bei der Rekonstruktion des Handelns um die Sichtbarmachung der (als Wissen abgelagerten) strukturellen, vorgegebenen Handlungsprobleme und -möglichkeiten, die bei der Herausbildung der „egologischen Perspektive“ dem Protagonisten, also der Polizeibeamten, mit guten Gründen zugeschrieben werden können [4]. Im Zentrum steht dabei allerdings nicht die Rekonstruktion der von den jeweiligen Individuen gewussten singulären Perspektive. Angestrebt wird also die rationale Konstruktion egologischer Perspektiventypen [5].

Eine hermeneutische Polizeiforschung gewinnt ihre Erkenntnisse durchweg aus empirischer Forschung. Untersucht werden dabei im polizeilichen Praxisfeld alle Formen sozialer Interaktion sowie alle Arten von „Kulturerzeugnissen“. Da diese Forschungsstrategie nicht auf die Entdeckung allgemeiner Gesetze, die menschliches Verhalten erklären, ausgerichtet ist, sondern auf die (Re)konstruktion der Verfahren und Typisierungsleistungen, mit denen Menschen sich eine sich stets neu geschaffene Welt vertraut und verfügbar machen, gilt der systematischen „Findung“ des Neuen besonderes Interesse. Eine Reihe von methodischen Vorkehrungen soll dies erleichtern.

So soll bereits in der ersten Forschungsphase der Forscher darum bemüht sein, eine „abduktive Haltung“ [4] aufzubauen. Das heißt, er muss seine Forschung so gestalten, dass „alte“ Überzeugungen ernsthaft auf die Probe gestellt werden und ggf. „neue“, tragfähigere Überzeugungen gebildet werden können. Dieses „Programm“ lässt sich jedoch nur sinnvoll umsetzen, wenn die erhobenen Daten so beschaffen sind, dass ihre Verrechenbarkeit mit den abgelagerten Überzeugungen nicht von vorne herein gewährleistet ist. Die Daten müssen den Interpreten herausfordern, ihn quai sogar zwingen, seine überkommenen Vorurteile abduktiv ab- oder umzuschleifen - in diesem Sinne sind die Daten im Forschungsprozess der hermeneutischen Polizeiforschung also mit einem Wetztein vergleichbar.

Daten und Forschungsstrategie

Am belastbarsten dürften im Forschungszusammenhang der hermeneutischen Polizeiforschung nichtstandardisiert erhobene Daten, also audiovisuelle Aufzeichnungen und Tonbandprotokolle, sein. Da solche Daten von den Interaktanten, also den Polizisten deren Handeln untersucht wird, nicht in Anbetracht einer forschungsleitenden Fragestellung produziert und die Erhebung selbst nicht von subjektiven Wahrnehmungsschemata geprägt wurden, ist die Wahrscheinlichkeit recht groß, dass sie nicht von vornherein mit den abgelagerten Überzeugungen zur Deckung zu bringen sind. Wenn die Erhebung nichtstandardisierter Daten nicht möglich ist oder in anbetracht der forschungsleitenden Fragestellung keinen Sinn ergibt, dann ist der Forscher genötigt, selbst Daten zu produzieren: Er muss nach wissenschaftlich verbindlichen Standards Beobachtungsprotokolle anfertigen und Interviews führen - mithin produziert er Daten, die ihrerseits von (wissenschaftlichen) Standards geprägt sind.

Dabei sind folgende zwei Erhebungsprinzipien zu beherzigen: (a) Der Forscher sollte (nur!) in Bezug auf den zu untersuchenden Sachverhalt möglichst naiv ins Feld gehen und Daten sammeln. (b) Gerade in der Einstiegsphase sollte eine möglichst unstrukturierte Datenerhebung gewährleistet sein. Der Grund: Eine frühzeitige analytische und theoretische Durchdringung des Materials und eine sich daran anschließende gezielte Erhebung von Daten in der Eingangsphase würde nur dazu führen, den Datenwetzstein, an dem sich später Theorien bewähren und entwickeln lassen sollen, frühzeitig zu entschärfen. Setzt der Forscher bei der Erhebung standardisierter Daten diese beiden Prinzipien um, dann ist zumindest strukturell die Möglichkeit eröffnet, dass die Daten den Forscher anregen an Hergebrachtem zu zweifeln und zum Nachdenken anregen.

Eine Interpretation von Daten mit Hilfe der wissenssoziologischen Hermeneutik erschöpft sich nicht in der angemessenen Deskription von Beobachtungen oder der Nachzeichnung subjektiv entworfenen und gemeinten Sinns, sondern sie zielt auf die Findung der intersubjektiven Bedeutung von Handlungen. „Intersubjektiv“ heißt nun in keinem Fall „wahr“ oder „wirklich“, sondern lediglich, dass es um die Bedeutung geht, welche durch eine (sprachliche) Handlung innerhalb einer bestimmten Interaktionsgemeinschaft erzeugt wird. Die Bedeutung einer Handlung wird so (zu einem Teil) gleichgesetzt mit der antizipierbaren Reaktionsbereitschaft, welche die Handlung innerhalb einer Interaktionsgemeinschaft auslöst.

Die Interpretationstheorie schließt sich damit an die Vorstellungskraft eines typisierten typischen, in eine bestimmte Interaktionsgemeinschaft einsozialisierten Symbolbenutzers an, nicht jedoch an dessen konkrete Bewusstseinsinhalte. Kurz und plakativ: Die Bedeutung symbolischen Handelns liegt nicht vergraben im Bewusstsein des Zeichenbenutzers oder zeigt sich in einer kodifizierten Verweisung (sie liegt also nicht in der Vergangenheit), sondern die Bedeutung eines Zeichens besteht stattdessen in der antizipierbaren Reaktionsbereitschaft und den realisierten Reaktionen, die das Symbol bei der interpretierenden Gruppe auslöst (sie liegt also in der Zukunft).

Methodisches Vorgehen

Methodisch verfolgt eine hermeneutische Wissenssoziologie, der hier auch die hermeneutische Polizeiforschung entspricht, in der Datenauswertung den folgenden Weg: In der Anfangsphase wird das Datenprotokoll „offen kodiert“. Das jeweilige Dokument wird also sequentiell, extensiv und genau analysiert und zwar Zeile um Zeile oder sogar Wort für Wort. Entscheidend in dieser Phase ist, dass man noch keine (bereits bekannte) Bedeutungsfigur an den Text heranführt, sondern mit Hilfe des Textes möglichst viele (mit dem Text kompatible) Lesarten konstruiert. Diese Art der Interpretation nötigt den Interpreten, sowohl die Daten als auch seine (theoretischen Vor-) Urteile immer wieder aufzubrechen – was ein gutes Klima für das Finden neuer Lesarten schafft.

Sucht man in der Phase des offenen Kodierens nach Sinneinheiten (die natürlich immer schon theoretische Konzepte beinhalten bzw. mit diesen spielen und auf sie verweisen), so sucht man in der zweiten Phase der Interpretation nach höher aggregierten Sinneinheiten und Begrifflichkeiten, welche die einzelnen Teileinheiten verbinden. Außerdem lassen sich jetzt gute Gründe angeben, weshalb man welche Daten neu bzw. genauer nach erheben sollte. Man erstellt also im dritten Schritt neue Datenprotokolle, wenn auch gezielter. So kontrolliert die Interpretation die Datenerhebung, aber zugleich, und das ist sehr viel bedeutsamer, wird die Interpretation durch die nach erhobenen Daten falsifiziert, modifiziert und erweitert.

Am Ende einer hermeneutischen Polizeiforschung steht ein hoch aggregiertes Konzept, in das alle untersuchten Elemente zu einem sinnvollen Ganzen integriert werden können und dieses Ganze im Rahmen einer bestimmten Interaktionsgemeinschaft verständlich (sinnvoll) macht. In diesem Sinne soll eine Sinnfigur gefunden bzw. konstruiert werden. Die Frage, ob die so gewonnene Deutung mit der „Wirklichkeit im Text“ tatsächlich korrespondiert, ist sinnlos, da eine wissenssoziologische Forschung sich stets und immer nur mit der „sozialen Realität“ beschäftigt (Beispiele finden sich in Reichertz & Schröer 1992).

Perspektivenneutralität

Für diese Forschungsperspektive lässt sich eine gemeinsame Abstinenz feststellen: Das Verhalten der Polizeibeamten wird nicht vorab einer normen-, ideologie- oder praxiskritischen Betrachtung unterzogen, sondern es geht vor allem – und damit stehen diese Forschungsarbeiten auch in der Tradition der working-place-studies – um die perspektivenneutrale Deskription und Analyse der Arbeit von Schutz- und Kriminalpolizisten [6].

Anwendung

Empirische Ergebnisse, die mit dem Konzept der hermeneutischen Polizeiforschung entsprechenden Forschungen von Jo Reichertz, Norbert Schröer und Ute Donk erzielt wurden, betreffen unter anderem die Differenz zwischen rechtlicher Grundlage und Handlungspraxis der Polizei und die Kommunikation zwischen deutschen Beamten und türkischen Migranten in Vernehmungssituationen.[7] Ein weiteres Beispiel für die Anwendung der hermeneutischen Polizeiforschung ist eine am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz durchgeführte und 2009 von Bianca Volk veröffentlichte Studie zur Polizeiarbeit in Ghana, die ihre Forschungsperspektive auf dieses Konzept stützt.[8]

Literatur

  • Hitzler, Ronald & Jo Reichertz & Norbert Schröer (Hrsg.) (1999): Hermeneutische Wissenssoziologie. Standpunkte zur Theorie der Interpretation. Konstanz: Universitäts Verlag Konstanz.
  • Lange, Hans-Jürgen & H. Peter Ohly & Jo Reichertz (Hrsg.) (2008): Auf der Suche nach neuer Sicherheit. Fakten, Theorien und Folgen. Wiesbaden: VS Verlag.
  • Reichertz, Jo (1991): Aufklärungsarbeit. Kriminalpolizisten und Feldforscher bei der Arbeit. Stuttgart: Enke.
  • Reichertz, Jo (2009): Kommunikationsmacht. Was ist Kommunikation und was vermag sie? Wiesbaden VS Verlag.
  • Reichertz, Jo & Norbert Schröer (Hrsg.) (1992): Polizei vor Ort. Studien zur empirischen Polizeiforschung. Stuttgart: Enke.
  • Reichertz, Jo & Norbert Schröer (Hrsg.) (1996): Qualitäten polizeilichen Handelns. Beiträge zu einer Verstehenden Polizeiforschung. Opladen.: Westdeutscher Verlag.
  • Reichertz, Jo (Hrsg.) (1998): Die Wirklichkeit des Rechts. Rechts- und sozialwissenschaftliche Studien. Opladen: Westdeutscher Verlag.
  • Reichertz, Jo & Norbert Schröer (Hrsg.) (2003): Hermeneutische Polizeiforschung. Opladen: Leske und Budrich.
  • Reichertz, Jo & Manfred Schneider (2007): (Hrsg.). Sozialgeschichte des Geständnisses. Wiesbaden: VS Verlag.
  • Schröer, Norbert (1992): Der Kampf um Dominanz. Hermeneutische Fallanalysen einer polizeilichen Beschuldigtenvernehmung, Berlin, New York.
  • Schröer, Norbert (1998): Kommunikationskonflikte zwischen deutschen Vernehmungsbeamten und türkischen Migranten, in: Soziale Probleme H. 2, S. 154-181.
  • Schröer, Norbert (2000): Interkulturelles Patt. Kommunikationsprobleme zwischen deutschen Vernehmungsbeamten und türkischen Migranten in polizeilichen Beschuldigtenvernehmungen, in: Polizei & Wissenschaft H. 1, S. 31-44.
  • Schröer, Norbert (2002): Verfehlte Verständigung? Kommunikationssoziologische Fallstudie zur interkulturellen Kommunikation. Konstanz: UVK.
  • Soeffner, Hans-Georg (1989): Auslegung des Alltags - Der Alltag der Auslegung. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Einzelnachweise

  1. vgl. Reichertz & Schröer 2003
  2. Soeffner 1989, Reichertz 1991, Hitzler & Reichertz & Schröer 1999
  3. vgl. Soeffner 1989
  4. a b vgl. Reichertz 1991
  5. Schröer 1994
  6. vgl. Reichertz 1991 und 2009; Schröer 1992 und 2002, Reichertz & Schröer 1996 und 1998; Reichertz & Schneider 2007
  7. Anja Mensching 2003: Überzeugende Zweifel statt zweifelhafte Überzeugungen – ein verstehender Blick auf die Hermeneutische Polizeiforschung. Review Essay: Jo Reichertz & Norbert Schröer (Hrsg.) (2003): Hermeneutische Polizeiforschung. Forum: Qualitative Sozialforschung, Volume 4, No. 3. abgerufen am 21. Oktober 2010
  8. Bianca Volk 2009: „Talking about Marriage…“. Polizeiarbeit in Upper West, Ghana. Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Arbeitspapiere Nr. 102, S. 9. abgerufen am 21. Oktober 2010

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