Holocaust-Forschung

Holocaust-Forschung

Die Holocaustforschung unternimmt die historische Erforschung des Holocausts an etwa sechs Millionen Juden Europas (Shoa), weiteren ermordeten (Porajmos, Aktion T4) und zur Ermordung vorgesehenen Opfergruppen (u.a. Slawen, siehe Generalplan Ost) in der Zeit des Nationalsozialismus. Als Teil der umfassenderen NS-Forschung bezieht sie sich auf Entstehungsbedingungen, Entscheidungsprozess, Organisation, Durchführung, Täter, Mittäter, Opfer, Auswirkungen und Besonderheiten des Holocaust. Holocaustforschung gibt es weltweit, jedoch besonders in den USA, Großbritannien, Israel, Polen und Deutschland.

Yad Vashem, Jerusalem, gegr. 1953

Inhaltsverzeichnis

Anfänge

Pioniere

Jackson (1892-1954), ehemals Hauptanklagevertreter beim IGN

Es waren vor allem Holocaustüberlebende und während der NS-Zeit aus Europa emigrierte Historiker, die die Grundlagen der angelsächsischen Holocaustforschung schufen. Diese begann 1945 unmittelbar nach Kriegsende im Zusammenhang der ersten NS-Prozesse. Wesentliche Voraussetzung dafür war die Sicherung von NS-Archiven durch die Alliierten und die Sammlung von Zeitzeugenberichten durch Institute zur Jüdischen Geschichte. So baute Jacob Robinson das 1925 in Berlin gegründete Institute for Jewhish History (YIVO) in New York City ab 1940 neu auf. Er war 1945 als Mitglied der UN-Menschenrechtskommission Berater des US-Chefanklägers Robert H. Jackson und half 1952 beim Aushandeln des Reparationsvertrages zwischen Israel und der Bundesrepublik Deutschland.

Sein Mitarbeiter, der polnische Holocaustüberlebende Philip Friedman, hatte bis zur deutschen Besetzung Polens eine Zweigstelle dieses Instituts in Warschau geleitet. Er emigrierte nach dem Krieg in die USA und veröffentlichte die ersten historischen Werke zum Holocaust aus der Opferperspektive:

  • Martyrs and Fighters: The Epic of the Warsaw Ghetto (1954)
  • Their Brothers Keepers: The Christian heroes and heroines who helped the opressed to escape the Nazi terror. (New York 1957)

Robinson und Friedman veröffentlichten dann gemeinsam das erste regelmäßige Journal zum Holocaust:

  • Guide to Jewish History Under Nazi Impact (1960).

Es wurde dann ergänzt durch umfassende Bibliographien:

  • Friedmans Bibliography of Books in Hebrew on the Jewish Catastrophe and Heroism in Europe (1960)
  • Robinsons The Holocaust and After: Sources and Literature in English (1973)
  • Friedmans The Catastrophe of European Jewry: Antecents, History, Reflections (Hrsg.: Yad Vashem, Jerusalem 1976)

Diese Sammlungen vornehmlich jüdischer Holocaustliteratur gelten als Grundlagenwerke für die Holocauststudien, die seit 1967 als spezieller Wissenschaftszweig entstanden sind. Dabei spielen Zeugnisse der Opfer eine ebenso entscheidende Rolle wie Zeugnisse der Täter.

Vorangetrieben wurde die Holocaustforschung zum einen durch das epochale Werk Raul Hilbergs 1961 (s.u.), zum anderen durch den Eichmann-Prozess in Jerusalem 1963, die These der Prozessbeobachterin Hannah Arendt von der „Banalität des Bösen“ und die Auschwitzprozesse 1963-66 in Deutschland. Dabei wurde nun auch der bisher vernachlässigte jüdische Widerstand gegen den Holocaust stärker beachtet.

Grundlagenwerke

Zahlreiche Werke befassten sich zunächst mit Einzelepisoden und Einzelaspekten des Holocaust. Sie lieferten die Basis für spätere Gesamtdarstellungen. Von diesen sind in der internationalen Forschergemeinschaft weitgehend anerkannt:

Léon Poliakov, 1952
  • Léon Poliakov: Breviaire de la haine (1951), englisch erschienen als Harvest of Hate (1979). Der französisch-jüdische Autor stützte sich auf die damals zugänglichen Dokumente der Nürnberger Prozesse und andere Primärquellen aus dem Center for Contemporary Jewish Documentation in Paris. Trotz heute erheblich verbesserter Quellenlage folgt die Forschung nach wie vor weitgehend seinen damaligen Fragestellungen.
  • Gerald Reitlinger: Die Endlösung (1953). Sein Buch basiert auf denselben Quellen, die auch Poliakov auswertete, analysierte sie aber ausgiebiger und bezieht die Judenretter stärker in das Gesamtbild ein. Seine Schätzung der Opferzahlen auf 4,5 Millionen ist inzwischen widerlegt.
  • Raul Hilberg: The Destruction of the European Jews (1961), deutsch: „Die Vernichtung der europäischen Juden“. Das dreibändige Werk, eine Promotionsarbeit, wurde zum Hauptwerk der Erforschung zur „Endlösung“, auf das sich viele weitere Forschungen stützen. Hilberg sichtete dafür ab 1945 zahllose Quellen des NS-Regimes in Deutschland und in den USA. Er untersuchte die Vorgeschichte und ideologische Kontinuitäten ebenso wie die Funktionsweise des NS-Regimes und stellte die bürokratischen Entscheidungsabläufe und das Zusammenwirken der verschiedenen NS-Behörden ins Zentrum seiner Analyse. Die gebundene Originalausgabe enthält detaillierte Karten der Vernichtungslager, Ghettos und Deportationen aus den einzelnen Ländern. In der gekürzten Studienausgabe fehlen die Fußnoten.
  • Nora Levin: The Holocaust (1968). Das Werk beschreibt detailliert die Judenverfolgung ab 1933 und die Reaktionen auf das Bekanntwerden der NS-Massenverbrechen in den besetzten, neutralen und gegnerischen Einzelländern ab 1940. Die Autorin beschreibt das Zusammenwirken von Opfern und Tätern in den betroffenen Gebieten, speziell die Haltung der Judenräte, vergleicht die Bedingungen für die Rettung der meisten Juden Italiens und Frankreichs mit der Auslieferung der meisten Juden der Niederlande und unterzieht die Kollaborateure der NS-Herrschaft einer umfassenden Kritik. Sie berücksichtigt auch das Schicksal der überlebenden KZ-Häftlinge nach ihrer Befreiung, das die meisten Holocaustwerke bislang übergingen.
  • Lucy Davidowicz: The War against the Jews (1975). Die Autorin analysiert wie Levin zunächst die antisemitische Gesetzgebung im Dritten Reich, ihre Ausdehnung und Radikalisierung in den eroberten Gebieten und die Gründe dafür. Der Hauptteil vergleicht die Lebensumstände der Juden vor und nach ihrer Ghettoisierung und beschreibt die Rolle jüdischer Organisationen, die den Nationalsozialisten teilweise unabsichtlich in die Hände gespielt hätten. Für Osteuropa sind die Quellen sehr genau angegeben; aber die Situation in einzelnen Ländern wird nicht gründlich untersucht, und die Opferzahlen werden nur im Anhang präsentiert. Die Rettungsaktionen in Dänemark und Schweden sowie die Kollaboration in den übrigen Ländern werden nicht dargestellt.
  • Yehuda Bauer: A History of the Holocaust (1982). Der israelische Autor geht den Wurzeln des Antisemitismus nach und beschreibt die Wanderungsbewegungen der Juden in Europa als einen Mitgrund dafür. Er gibt dem Scheitern der Weimarer Republik als Aufstiegsgrund der NSDAP breiten Raum. Seine Kritik an Mitläufern und dem Versagen der Großkirchen gegenüber der nationalsozialistischen Judenverfolgung ist zurückhaltender als die seiner Vorgänger. Stattdessen zitiert Bauer Beispiele damaliger christlicher Hilfs- und Rettungaktionen für Juden und nennt Namen von Judenrettern, die in der Holcaustforschung bisher nicht erwähnt worden waren. Dabei bezieht er sich auch auf Täterquellen, z.B. SS-Akten, oder Diplomaten neutraler Länder. Als erster Historiker erwähnt er eine Intervention des Vatikans gegen die Deportation der ungarischen Juden 1944, ohne diese auf päpstliche Initiative zurückzuführen. Die in Israel verfügbaren Primärquellen, vor allem Berichte Überlebender, hat Bauer dagegen kaum ausgewertet.
  • Martin Gilbert: Der Holocaust (1985). Anders als Bauer stützt sich dieser britische Autor vor allem auf Primärquellen der NS-Zeit, die er chronologisch anbietet, und Interviews mit Überlebenden, die er unkommentiert für sich sprechen lässt. Als erster Historiker stellt er schon die Massenmorde im Polenfeldzug 1939 als Beginn des Holocaust dar. Diese sieht er als bewusste Beschleunigung des allmählichen Sterbens der parallel oder später ghettosierten Juden durch Verhungern und Seuchen. Seine Darstellung mit Fotos und Augenzeugenberichten von Tätern, Opfern und Beobachtern ist bewusst anschaulich und bezieht die gesamte Breite der Massenverbrechen auch außerhalb der Vernichtungslager ein.
  • Leni Yahil: The Holocaust (1987). Ergänzend zu Bauer wertet die israelische Autorin die in Yad Vashem inzwischen gesammelten Materialien aus. Sie erwähnt erstmals die bislang unbeachteten Karaiten und Krimtschaken auf der Krim, von denen nur die zweite Gruppe rassisch verfolgt wurde. Sie betont den jüdischen Widerstand und beschreibt den Glauben der orthodoxen Juden als Hindernis dafür (ohne deren tatsächliche Debatten darüber während der NS-Zeit darzustellen). Sie beschreibt die Rettungsaktionen aller neutralen Länder außer der Türkei und Portugal. Den Antisemitismus beschreibt sie erst ab 1932. Die angebotenen Karten lassen die Unterschiede zwischen deutschen KZs für politische Häftlinge, Arbeits- und Vernichtungslagern nicht erkennen.

Deutschsprachige Nachkriegsforschung

Auch in Deutschland begann die historische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit sofort nach Kriegsende. Dabei war eine empirische Grundlagenforschung wegen der Beschlagnahmung der NS-Archive durch die Alliierten und mangelnder zeitgeschichtlicher Distanz noch kaum möglich. Unter dem Eindruck der nun bekannten Details aus den Vernichtungslagern stand die Frage nach den Schuldigen im Vordergrund; die Antworten darauf standen unter apologetischen Vorzeichen.

Ab 1950 standen der Forschung die Akten der ersten Nürnberger Prozesse zur Verfügung. Ab 1960 verbesserte sich die Quellenlage zum Holocaust allmählich mit der schrittweisen Rückgabe von Archivbeständen. Damit kamen vermehrt empirische Untersuchungen auch zu den NS-Massenverbrechen in Gang, häufig auch als Gerichtsgutachten und Gutachten für Wiedergutmachungsbehörden. Diese standen anders als in den USA, Israel und Großbritannien jedoch noch hinter den deutschen Forschungsschwerpunkten zu Aufstiegsbedingungen, „Machtergreifung“, Herrschaftskonsolidierung und Kriegführung des NS-Regimes zurück und wurden überlagert von der Neuauflage von Faschismustheorien im Gefolge der Studentenbewegung.

Deutungskontroverse

Um 1969 begann der bis heute fortwirkende Grundsatzstreit um die Gesamtdeutung der NS-Politik. Im Zentrum stand die Frage, ob 1933-1945 eher programmatisch-ideologische Absichten durchgeführt wurden (Intentionalisten, Programmologen) oder die Eskalation zum Holocaust sich aus widersprüchlichen und chaotischen Strukturen entwickelte (Strukturalisten, Funktionalisten). Die empirische Detailforschung zum Holocaust war von diesem Streit anfangs kaum berührt, doch um 1975 wurde die Erforschung der nationalsozialistischen Rassen- und Vernichtungspolitik zunehmend in die Kontroverse einbezogen.

Hitlers Rolle und der Führerbefehl

In das Zentrum der internationalen, besonders der deutschen Holocaustforschung rückte ab etwa 1970 - parallel zu verstärkten Angriffen des Geschichtsrevisionismus auf das bisherige Geschichtsbild - die Frage, welcher Stellenwert die Ideologie und die konkreten Befehle Hitlers bei der Durchführung des Holocaust hatten.

Gerald Reitlinger hatte einen im Frühjahr 1941 erteilten „Führerbefehl“ zum Holocaust 1953 noch fraglos als gegeben vorausgesetzt. Auch der Hitler-Biograf Alan Bullock (Hitler. Eine Studie über Tyrannei, englisch 1952, deutsch 1977) betonte die treibende Kraft Hitlers bei der gesamten Judenpolitik des Dritten Reiches.

Dieser Sicht folgten u.a. Eberhard Jäckel (Hitlers Weltanschauung, 1969) und Joachim Fest (Hitler. Eine Biographie, 1973), die auf die kontinuierliche Radikalität öffentlicher Drohungen Hitlers gegen die Juden verwiesen. Lucy Dawidowicz vertrat sogar die Ansicht, Hitler habe die Judenvernichtung bereits seit Beginn seiner politischen Laufbahn geplant und daran unbeirrbar festgehalten (Der Krieg gegen die Juden, 1975).

Im Gefolge Hilbergs betonte Uwe Dietrich Adam (Judenpolitik im Dritten Reich, 1972) auf breiterer Quellenbasis dagegen den „Prozess der Vernichtung“, die Hitler zwar abgesegnet, aber nicht von langer Hand geplant habe. Vielmehr sei der Holocaust Folge einer selbstgeschaffenen Zwangslage gewesen: Die Judendeportationen und Massenerschießungen seien unter teilweise chaotischen Begleitumständen nach der militärischen Niederlage im Russlandkrieg ausgeweitet und verschärft worden. Dies habe auch Hitler selbst in seinen Entscheidungsspielräumen eingeengt.

Der britische Geschichtsrevisionist und spätere Holocaustleugner David Irving gab den Anstoß zur weiteren Vertiefung dieser Frage. Er behauptete, Hitler habe erst im Oktober 1943 von der organisierten Judenvernichtung erfahren; Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich seien deren eigenmächtige Initiatoren gewesen (Hitlers Krieg. Die Siege 1939-1942, englisch 1977).

Die Antwort der Strukturalisten

Darauf antwortete zuerst Martin Broszat mit einer differenzierten Analyse der Quellen im Kriegsverlauf. Er kam zu dem Ergebnis, dass Hitlers fanatischer Judenhass und seine Gesamtverantwortung für den Holocaust unbestreitbar seien. Aber der Holocaust sei „nicht nur aus vorgegebenem Vernichtungswillen“ zu erklären, „sondern auch als 'Ausweg' aus einer Sackgasse, in die man sich selbst manövriert hatte“. Es sei wahrscheinlich, „dass es überhaupt keinen umfassenden allgemeinen Vernichtungsbefehl gegeben hat, das 'Programm' der Judenvernichtung sich vielmehr aus Einzelaktionen heraus bis zum Frühjahr 1942 allmählich und faktisch entwickelte“ (Hitler und die Genesis der Endlösung, 1977, S. 63 + Anmerkung 27).

Hans Mommsen wurde 1976 Hauptvertreter dieser „strukturalistischen“ Deutung des Holocaust in Deutschland: Er sieht diesen als Ergebnis einer „kumulativen Radikalisierung“, für die Hitler, die Berliner Machtzentralen des NS-Regimes und die regionale Verwaltungsbürokratie in den eroberten Gebieten gleichermaßen verantwortlich gewesen seien. Er bekräftigte 1979, der ständige Konkurrenzkampf untergebener NS-Stellen um die „Gunst des Führers“, das Eigengewicht „sekundärer bürokratischer Apparaturen“ und die „Segmentierung der Verantwortlichkeiten“ habe eine Eigendynamik bewirkt, so dass es keines „förmlichen, geschweige denn schriftlich fixierten Befehls von seiten Hitlers“ mehr bedurft habe (Hitlers Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, in: Gerhard Hirschfeld (Hrsg.): Der „Führerstaat. Mythos und Realität, 1981, S. 43-72). 1983 betonte er nochmals, die „politisch-psychologische Gesamtstruktur“ des NS-Systems müsse rekonstruiert werden, um den Holocaust angemessen erklären zu können (Die Realisierung des Utopischen: Die „Endlösung der Judenfrage“ im „Dritten Reich“, 1983).

Der Entscheidungszeitraum

Diese Sicht stieß auf Widerspruch. Der Brite Gerald Fleming (Hitler und die Endlösung. „Es ist des Führers Wunsch…“, 1982) vollzog eine Rückwendung zur „programmologischen“ Holocaustdeutung: Er zeichnete eine Kontinuitätslinie von Hitlers frühem Antisemitismus „bis zu den ersten Massenerschießungen reichsdeutscher Juden“ (ebd. S. 14) und konnte nachweisen, dass Hitler sich in der ersten Jahreshälfte 1941 intensiver als zuvor mit der „Judenpolitik“ befasste. Deshalb deutete er den Holocaust als Vollzug eines lange gehegten Planes.

Damit konzentrierte sich die weitere Forschung auf das Jahr 1941 und den Entscheidungsprozess zum Holocaust. Christopher Browning setzte sich vor allem mit Broszats These auseinander und wertete dabei die Aktenbestände des Auswärtigen Amtes genau aus. Vor allem belegte er die Ausweitung der Massenerschießungen seit Juni 1941 und widerlegte damit Broszats Annahme, der Holocaust habe sich erst 1942 aus einer „Sackgasse“ der militärischen Kriegsplanung, von der die Deportationen abhängig gewesen seien, entwickelt. Er hält es zudem für wahrscheinlich, dass Hitler im Juli 1941 in die konkrete Vorbereitung des Holocaust durch Himmler und Heydrich einwilligte und die dadurch ausgelösten Durchführungspläne im Oktober und November 1941 billigte (Zur Genesis der „Endlösung“. Eine Antwort an Martin Broszat, 1981).

Relativierung der Kontroverse

Peter Longerich hat als Gerichtsgutachter für einen Prozess David Irvings gegen Deborah Lipstadt (London 1996-2000) nochmals alle Dokumente zusammengestellt, die Hitlers Wissen vom und Intitiative beim Holocaust belegen. Aufgrund zahlreicher Aussagen und Hinweise höchster NS-Amtsträger werden mündliche „Führerbefehle“ zur Judenvernichtung heute kaum noch bestritten. Nur mit Hitlers Erlaubnis, Billigung und Anordnung, so der weitgehende historische Konsens, konnten untergebene NS-Tätergruppen die Juden systematisch ausrotten.[1]

Gleichwohl ist weiter umstritten, welche Faktoren diese Eskalation maßgeblich verursachten. Christopher Browning zufolge hat sich der Forschungsgegensatz zwischen Intentionalisten und Strukturalisten heute stark relativiert und ist einem grundlegenden Konsens in folgenden Punkten gewichen:

  • Der Holocaust wurde nicht an einem einzelnen Datum beschlossen, sondern entwickelte sich in Wechselwirkung mit der Kriegslage.
  • Dieser Prozess radikalisierte sich stufenweise von unorganisierten Massakern im Polenfeldzug über umfassende Deportationspläne bis zu Massenerschießungen und dem Bau und Betrieb von Vernichtungslagern.
  • Die wichtigsten Entscheidungen zum Holocaust fielen in der zweiten Jahreshälfte 1941.[2]

Im Rahmen dieses Konsenses setzen einige Historiker eigene Akzente, deuten und gewichten bestimmte Dokumente und Faktoren verschieden. Nach Longerich schlug die Vertreibung der Juden schon im Herbst 1939 zum Massenmord um. Alle seit dem Polenfeldzug geplanten und ansatzweise durchgeführten Judendeportationen hätten mittelfristig ihre Vernichtung angestrebt und einkalkuliert. Diese sei dann nur noch zunehmend ausgeweitet und beschleunigt worden. Dabei habe es vier Eskalationsstufen gegeben. Seit Juli 1942 seien die Deportierten sofort nach Ankunft am Zielort ermordet worden; damit sei der Entschluss zur „Endlösung“ unumkehrbar geworden.[3]

Magnus Brechtken vertrat eine ähnliche Kontinuitätsthese: Er deutet den Madagaskarplan als Todesurteil für das europäische Judentum. Dieses Konzept habe sich nur in Ort und Methode von der Vergasung in Auschwitz unterschieden.[4]

Richard Breitman zufolge kalkulierten die Planer des Russlandfeldzugs Anfang 1941 bereits die Vernichtung großer Bevölkerungsteile der zu erobernden Gebiete ein. Dieser Grundsatzentscheidung seien Ende August/Anfang September 1941 die Entscheidungen zur praktischen Durchführung der Judenmorde gefolgt.[5] Dem widersprach Philippe Burrin: Die sowjetischen Juden seien erst infolge des gescheiterten Blitzkrieges zur unterschiedslosen Ermordung freigegeben worden. Seit Oktober 1941 habe Hitler seinen am 20. Januar 1939 artikulierten bedingten Vorsatz zur Judenvernichtung in die Tat umgesetzt.[6]

Browning betont im Anschluss an frühere Thesen von Christian Streit[7] und Alfred Streim[8], die Befehle zur Ermordung auch der jüdischen Frauen und Kinder in den sowjetischen Gebieten seien nicht aus Enttäuschung über den ausgebliebenen Blitzsieg, sondern noch während der Siegesgewissheit ergangen. Anfang Oktober sei der Mordbeschluss dann auf alle europäischen Juden ausgedehnt worden; dabei habe Himmlers Drängen auf mehr Kompetenzen für die SS eine wichtige Rolle gespielt.[9] Auch Dieter Pohl[10], Götz Aly[11] und Peter Witte[12] sehen im Oktober 1941 den kritischen Wendepunkt der NS-Judenpolitik.

Dem widersprachen Hans Safrian, L.J. Hartog und Christian Gerlach: Sie sehen den Dezember 1941 als Schlüsselzeitraum und den Kriegseintritt der USA als auslösenden Faktor. Safrian zufolge wurde die Vertreibung der sowjetischen Juden Anfang Dezember unmöglich, so dass die Wannseekonferenz verschoben wurde, um andere Optionen auszuarbeiten.[13] Für Hartog setzte der japanische Angriff auf Pearl Harbor Hitlers eigentliches Streben nach Judenvernichtung frei: Es sei obsolet geworden für ihn, die deutschen Juden als Geiseln zum Erpressen der USA zu benutzen, um deren Kriegseintritt zu verzögern. Er habe die Juden unter allen Umständen ausrotten wollen und dazu auch den Weltkrieg geführt.[14]

Gerlach datiert Hitlers Entscheidung exakt auf den 12. Dezember 1941: An jenem Tag habe Hitler seinen engsten Vertrauten mitgeteilt, dass er die Judenfrage endgültig durch Ermordung aller europäischen Juden lösen wolle. Dies bestätigten Tagebucheinträge von Goebbels am 16. Dezember und andere, bislang unbeachtete Dokumente.[15]

Saul Friedländer datiert den Übergang zum Holocaust auf den Spätherbst 1941 und erklärt ihn mit Burrin und Gerlach als Reaktion auf das Scheitern des Blitzkrieges und den Kriegseintritt der USA. Zugleich betont er die ideologische Konstante in Hitlers Denken: Er habe daran geglaubt, die Welt von „dem Juden“ als dem absolut Bösen befreien zu müssen. Die „Endlösung“ sei somit als Versuch einer „Erlösung“ zu deuten.[16]

Singularitätsdebatte

Als Singularität bezeichnet man seit etwa 1986 jene Bestandteile und Bedingungen des Holocaust, für die es in der Geschichte sonst kein weiteres Beispiel gibt. Nach Ansicht der meisten deutschen, angelsächsischen und israelischen Historiker war die Vernichtung von etwa sechs Millionen Juden und die Art ihrer Durchführung historisch beispiellos: sowohl hinsichtlich der Dimension der realen und angestrebten Opferzahlen wie auch der staatlichen Planung als gesellschaftliches Gesamtprojekt und der Systematik ihrer Durchführung.

Dies bedeutet jedoch nicht, den Holocaust der vergleichenden Forschung mit anderen Völkermorden zu entziehen: Vielmehr ist die Feststellung seiner Besonderheiten gerade auch Ergebnis solcher vergleichenden Genozidforschung. Zweck der Holocaustforschung ist dabei nicht, psychologische Entlastungswünsche der Täternachfahren zu erfüllen.

Historikerstreit als Auslöser

Über die historische Ausnahmestellung des Holocaust wird in der Geschichtswissenschaft vor allem seit den umstrittenen Thesen von Ernst Nolte von 1986 diskutiert. Danach seien die Arbeitslager Stalins die unmittelbaren Vorbilder für die nationalsozialistischen Arbeits- und Vernichtungslager gewesen. Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941–1945 sei als Präventivkrieg geführt worden. In seinem Verlauf sei auch der Holocaust als vorbeugende Vernichtung von zu Feinden erklärten Menschengruppen zustande gekommen.

Diese Thesen führte in Deutschland zu einem ausgedehnten Historikerstreit. Im Geschichtsrevisionismus werden sie aufgegriffen, um die Singularität der Shoa zu bestreiten und sie als gewöhnlichen Massenmord zu relativieren, der sich nicht qualitativ von anderen Großverbrechen anderer Völker unterschieden habe.

Ideologisch-politische Besonderheiten

Nicht das Ausmaß der Opferzahlen für sich, sondern bestimmte Aspekte der Planung und Durchführung dieses Massenmords werden von Historikern als singulär betrachtet. Der israelische Botschafter in Deutschland Avi Primor erklärt die Problematik in seinem Buch “…mit Ausnahme Deutschlands“ mit Blick auf die Verbrechen Stalins, den Völkermord an den Armeniern, die Inquisition, Ausrottungsfeldzüge Dschingis Khans usw. so:

Gab es in der Menschheitsgeschichte je ein ähnliches Verbrechen wie den Holocaust? […] Alle diese schrecklichen Verbrechen aber sind mit denen der Nazis nicht zu vergleichen. Dort waren es rücksichtslos verfolgte Ziele gewesen, Eroberungspläne, Machtansprüche und Rachegelüste, die unzählige Opfer gefordert hatten, manchmal auch - wie im Falle Dschingis-Khans - blinde Zerstörungswut, die sich in der Hitze der Schlacht zu primitivem Blutrausch steigerte. Nirgendwann in der Geschichte aber war es zu Verbrechen größeren Ausmaßes gekommen, für die sich als Ursachen nicht materielle Interessen finden ließen. Kein Volk hat jemals ein anderes vernichten wollen, ohne dessen Feind und ohne von ihm in irgendeiner Weise bedroht zu sein. Morde geschahen um der Vorteile willen, die sich der Verbrecher daraus versprach… [17]

Der Herausgeber der Enzyklopädie des Holocaust Israel Gutman bestimmte dessen Unterscheidungsmerkmale 1987 wie folgt:[18]

Er entsprang nicht einem wirklichen Konflikt zwischen dem deutschen Volk und den Juden in Deutschland oder in der Welt. In Wahrheit waren die Juden ein loyaler und ergebener Teil der deutschen Gesellschaft; sie leisteten einen großen Beitrag zur Entwicklung und zur Blüte der deutschen Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. […]
Es handelte sich vielmehr um einen Vernichtungsfeldzug, der sich aus der Rassenideologie der Nazis ergab und nur aus diesem Grund beschlossen wurde. […]
Doch die nationalsozialistische Rassenlehre beschränkte sich nicht darauf, den Juden als ein Wesen zu definieren, das entgegen dem von der darwinistischen Theorie festgelegten Prozess der natürlichen Auslese, Anpassung und des Überlebens minderwertige rassisch-biologische Wesenszüge angenommen hätte. Nach Hitlers Grundsätzen waren die Juden weder eine religiöse noch eine nationale Gruppe, sondern eine machthungrige, gut organisierte subversive „Rasse“, die sich das Ziel gesetzt hatte, den natürlichen Wettkampf der menschlichen Rassen aufzuheben…
Auf solchen grundlosen Behauptungen beruhte der „Krieg“ gegen die Juden, der ständig verschärft wurde, bis er das Stadium der unnachgiebigen physischen Vernichtung erreichte. […] Das Ziel war, alle Juden ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht, Anschauung, Beruf oder Stand zu fangen und zu töten.

Eberhard Jäckel nennt als entscheidenden Unterschied des Holocaust von anderen Massenmorden in der Geschichte:

Ich behaupte…, dass der nationalsozialistische Mord an den Juden deshalb einzigartig war, weil noch nie zuvor ein Staat mit der Autorität seines verantwortlichen Führers beschlossen und angekündigt hatte, eine bestimmte Menschengruppe einschließlich der Alten, der Frauen, der Kinder und der Säuglinge möglichst restlos zu töten, und diesen Beschluss mit allen nur möglichen staatlichen Machtmitteln in die Tat umsetzte.[19]

Dieter Pohl sieht folgende Besonderheiten der Shoa im Vergleich mit anderen historischen Massenmorden, auch denen der Nationalsozialisten selber:

  • ein staatliches Programm, eine Gruppe von Menschen nur wegen ihrer Herkunft restlos und in kürzester Zeit zu ermorden,
  • eine langlebige und verbreitete Judenfeindschaft mit Merkmalen einer Welt-Verschwörungstheorie,
  • die zur Staatsdoktrin des Deutschen Reiches erhoben wurde, sich daher rasant verbreiten und für große Bevölkerungsteile „handlungsrelevant“ werden konnte:
Für die Explosivität des Antisemitismus im Vergleich zu den anderen Vorurteilen sorgte vor allem der von vielen geteilte Glaube, Juden seien als Kollektiv dabei, die Welt zu beherrschen, sie seien eine Bedrohung für die Menschheit.

Dies habe den Massenmord dennoch nicht zwangsläufig verursacht:

  • Vielmehr ist die fundamentale Bedeutung der Expansionspolitik für die Eskalation der Gewalt zu unterstreichen, die generell mörderische Politik in Osteuropa wie auch die Zersetzung konventioneller Politikstrategien. Utopische Pläne zur Neugestaltung und die radikale Ausbeutung der besetzten Gebiete setzten jegliche Ansätze zu einer rechtmäßigen Politik außer Kraft. Immer mehr Extremisten wetteiferten um ein möglichst radikales Vorgehen gegen die Juden.
  • Dieses Verbrechen war zugleich von einem gigantischen Raubzug begleitet. In den Köpfen der Antisemiten geisterte die Vorstellung, Europas Juden besäßen sagenhafte Reichtümer. So war jede Verfolgungsmaßahme auch von der Enteignung begleitet…[20]

Im Vergleich zu Massenmorden unter Stalin hebt Pohl „gravierende Unterschiede“ hervor: Dort hätten Diktatur und Staatsterror die Politik schon seit 1918 bestimmt und sich vornehmlich gegen eigene Bürger gerichtet.

In Deutschland hingegen konnte man einen Absturz der Zivilisation beobachten, den wohl niemand für möglich gehalten hatte. Nachdem der Krieg von Hitler entfesselt war, ermordete das nationalsozialistische Regime in fast vier Jahren […] einen erheblichen Teil der europäischen Bevölkerung; an die 97% aller Ermordeten waren Ausländer. Spezifisch war vor allem das Ziel und das daraus resultierende Vorgehen: der Versuch, eine Minderheit mit allen Männern, Frauen und Kindern restlos auszurotten, wo man ihrer habhaft wurde. Allein schon das Verbrechen an jüdischen Kindern sucht seinesgleichen…Mindestens 1,5 Millionen jüdische Kinder wurden im Zweiten Weltkrieg umgebracht…[21]

Besonderheiten der Durchführung

Zeichen für den Vorrang der Judenvernichtung auch im Kriegsverlauf sind:

  • In den überfallenen und mit Krieg überzogenen europäischen Staaten (u.a. Polen, Frankreich, Niederlande, Tschechoslowakei, Sowjetunion) wurde sofort der Zugriff auf die jeweiligen jüdischen Bevölkerungsteile, nicht aber auf andere im Deutschen Reich verfolgte Opfergruppen wie Behinderte und Homosexuelle, organisiert.
  • Die Ghettoisierung und Deportationen in Konzentrations-, Arbeits- und Vernichtungslager erhielten bei den Plänen und Maßnahmen des NS-Regimes im Kriegsverlauf seit 1941 absolute Priorität. Von der Wehrmacht dringend benötigtes Material wurde zunächst an die Vernichtungslager geliefert; für die Durchführung der Shoa wurde also sogar eine Verzögerung beim Nachschub für die Front in Kauf genommen, ohne Rücksicht auf nachteilige Folgen für die Kriegführung.
  • Staatsbehörden, Wehrmacht und Einsatzgruppen arbeiteten Hand in Hand. Dieser Zusammenhang zwischen Vernichtungskrieg, Judenvernichtung und NS-Gesetzgebung wurde u.a. im Nürnberger Nachfolgeprozess über die „Einsatzgruppen“ aufgedeckt und detailliert nachgewiesen (siehe auch: Verbrechen der Wehrmacht).

Selbstverständnis der Täter

Saul Friedländer findet in Heinrich Himmlers Posener Reden Hinweise darauf, dass den Tätern die Singularität ihrer Judenvernichtung vollauf bewusst war. Während Massenvernichtung von Glaubens- oder Parteigegnern in Mittelalter und Neuzeit stets „mit Stolz propagiert und im Sinne einer ideologischen Notwendigkeit als verbindliches Ziel allgemein und wie selbstverständlich anerkannt“ worden sei, hätten auch die Nationalsozialisten ihre Vernichtungsideologie offen vertreten, jedoch deren Durchführung an den Juden nach außen strikt geheim gehalten. Himmlers Forderung an seine Hörer, dieses „niemals geschriebene und niemals zu schreibende Ruhmesblatt unserer Geschichte“ als Geheimnis mit ins Grab zu nehmen, erklärt Friedländer wie folgt:[22]

Hier deutet Himmler an, dass er und die Anwesenden sich - in diesem Falle - einer absoluten Grenzüberschreitung bewusst sind, was die nachfolgenden Generationen nicht verstehen werden, nicht einmal als notwendiges Mittel zum „gerechtfertigten“ Zweck. […] Die für alle Zeiten auferlegte Geheimhaltung kann nur bedeuten, dass es kein „höheres“, „stichhaltiges“ Argument gibt, dass eine derartige totale Vernichtung in den Augen der Nachwelt „rechtfertigen“ könnte. […]
Meiner Ansicht nach liegt darin ein nicht unwesentlicher Unterschied zwischen dem nationalsozialistischen und dem stalinistischen „Vorhaben“. Ganz abgesehen davon, wieviele Verbrechen von und unter Stalin begangen wurden, formal wurden sie im Namen eines universalen „Ideals“ begangen, oder - genauer - dieses Ideal wurde höchstwahrscheinlich von den Tätern selbst als Erklärung für ihr Handeln aufrechterhalten. Nehmen wir Himmlers feierlichen Wunsch nach Geheimhaltung ernst, dann wird die Ausrottung der Juden durch die Nazis zu einem Ziel, das kein „höherer, allgemein verständlicher“ Zweck rechtfertigen kann. Infolgedessen scheint die Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Vorhabens nicht nur in der Tat selbst zu liegen, sondern auch in der Sprache der Täter und in der Art und Weise, wie diese sich selbst wahrgenommen haben.

Demnach habe die für die Nationalsozialisten selbst aus keinem umfassenderen Ziel zu rechtfertigende Judenvernichtung „für eine Amoralität jenseits aller Kategorien des Bösen“ gestanden. Auch die verbreitete Verleugnung und Verdrängung der bekannten Tatsachen der Judenverfolgung in der Bevölkerung, auch bei den Opfern selber, weise auf einen „gemeinsamen Nenner“ hin:

Die „Endlösung“ war gewissermaßen „undenkbar“.

Hauptmerkmale

Die Einzigartigkeit der Shoa besteht nach Ansicht der meisten Historiker darin, dass die nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden

  • im Namen einer mörderischen rassistischen Ideologie, des Antisemitismus,
  • in einem von Christentum, Aufklärung und demokratischen Strömungen geprägten Land mit fortgeschrittener Naturwissenschaft, Industrie und Technik
  • von einem Staat mit allen seinen Teilbereichen – Exekutive, Legislative, Judikative – und einem Großteil der Staatsbehörden auf allen Ebenen,
  • im Rahmen eines Weltkrieges mit globaler Zielrichtung,
  • systematisch mit „deutscher Gründlichkeit“ und industriellen Methoden, bei denen selbst die Überreste der Toten verwertet wurden,
  • alle Opfergenerationen einbeziehend und noch die Erinnerung an sie auslöschend,
  • als Vernichtung einer Minderheit nur um ihrer Vernichtung willen

geplant, propagiert, legalisiert, verordnet, organisiert und vollzogen wurden.

Demnach besteht die Singularität der Shoa in der staatlichen Institutionalisierung und Vollstreckung eines Rassismus als totalitärer Weltanschauung, der in einer Kriegssituation zur industriell vollzogenen Vernichtung einer ganzen Menschengruppe wurde und auf ihre völlige Ausrottung zielte. Der Judenmord konnte seine genozidale Dimension erreichen, weil er von einer totalitären Diktatur in organisierte Politik umgesetzt und mit einem Krieg auf ganz Europa übertragen wurde.

Einwände

Die Singularitätsthese erfuhr von verschiedenen Seiten Kritik und Ablehnung. Eingewandt wurde unter anderem:

  • Der Begriff der Singularität sei doppeldeutig: Zum einen würde er die Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit bezeichnen, die aber schlechterdings jedem historischen Ereignis innewohnt; in diesem Sinne von der Singularität der Shoa zu sprechen, ist trivial. Zum anderen bezeichnet Singularität eine besondere Qualität oder Quantität eines Ereignisses, die den Rahmen jeder Vergleichbarkeit sprengen würde. Quantitativ wird die Shoa aber von den Opferzahlen des Stalinismus (20 Millionen oder mehr[23]) und des Maoismus (ca. 70 Millionen Tote [24]) übertroffen. Um also die Unvergleichbarkeit der deutschen Verbrechen herauszuarbeiten, laufe man Gefahr, die der sowjetischen und chinesischen herabzumindern und zu relativieren.
  • Wie „der verschlungene Weg nach Auschwitz“ (Karl A. Schleunes) zeige, sei die Entscheidung zum Völkermord an den Juden keineswegs geradlinig verlaufen, sondern vielmehr das Ergebnis von Eskalationsprozessen, Experimenten und Improvisationen gewesen, an deren Ende dann die physische Vernichtung als einzig realistisch erscheinende Option übrig geblieben sei. Priorität gegenüber den Notwendigkeiten der Kriegführung habe die Shoa auch erst in den letzten beiden Jahren der Naziherrschaft erhalten.
  • mit der Singularitätsthese würden jüdische Opfer über andere Opfer systematischer Völkermorde erhoben;
  • der Vergleich mit anderen ähnlichen Ereignissen werde dadurch erschwert oder gar verunmöglicht (z.B. Genozid der Hutus an den Tutsis in Ruanda);
  • der Rassismus der Nationalsozialisten sei durchaus auch von materiellen (Bereicherungs-) Interessen mitbestimmt gewesen, wie insbesondere Götz Aly in seinem Buch Hitlers Volksstaat nachweise.

So untersuchte Medardus Brehl, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum, die zeitgenössische Rezeption des Völkermords an Nama und Herero 1904. Er zeigte, dass der damalige Rassismus die Vernichtung bestimmter Völker und Volksgruppen propagierte, um sie aus der Volksgemeinschaft auszugrenzen, damit diese am Ende homogen und geschlossen „äußeren Bedrohungen“ gegenüberstehen konnte. Dies lasse sich neben den Aufständen in Deutsch-Südwestafrika auch im Völkermord an den Armeniern durch die Türkei und eben in der Shoa beobachten.

Vergleiche mit dem Porajmos

Sprecher der Roma und Sinti vertreten die Gleichstellung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik an ihrer Minderheit - mit einem Romanes-Wort als Porajmos bezeichnet - mit der Shoa als ein ebenso gravierendes und besonderes Verbrechen.

Manche Zeithistoriker betrachten den Porajmos nicht als gleichbedeutend mit dem Judenmord. Das Feindbild vom kollektiven „Zigeuner“ habe in der nationalsozialistischen Ideologie eine weniger gewichtige Rolle als das vom kollektiven Juden gespielt. Beide Minderheiten seien nicht in gleicher Weise zur Ausrottung vorgesehen gewesen. 1998/99 kam es darüber zwischen den israelischen Historikern Yehuda Bauer und Gilad Margalit auf der einen,[25] Romani Rose vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und dem Historiker Silvio Peritore auf der anderen Seite[26] zu einer öffentlichen Kontroverse.

Wolfgang Wippermann stellte in einer vergleichenden Studie 2005 fest, dass die Gleichstellung des Genozids an der jüdischen Minderheit mit dem Genozid an Sinti und Roma historiographisch gerechtfertigt sei.[27]

Siehe auch

Literatur

Primärquellen
  • Kriegsverbrecherprozesse vor dem Nürnberger Militärgericht nach Kontrollrats-Gesetz Nr. 10 (Akten und Verhörsprotokolle des MIT, 1947-49, 42 Bände) Microfilm-Ausgabe, Olms, Hildesheim
  • Black Book of Localities whose Jewish Population was Exterminated by the Nazis, Jerusalem 1965
  • John Mendelsohn (Hrsg.): The Holocaust. Selected document in eighteen volumes. New York 1982
  • Staat Israel, Justizministerium: The Trial of Adolf Eichmann: Record of Proceedings in the District Court of Jerusalem, Jerusalem 1992
Bibliographien
  • Emil Fackenheim: The Jewish Return into History, New York 1978
  • Harry Jams Cargas: The Holocaust: An Annotated Bibliography. American Library Association, Chicago/London 1985
  • Abraham J. Edelheit, Herschel Edelheit: Bibliography on Holocaust Literature. Westview Press, Boulder/Colorado 1986
Gesamtdarstellungen
  • Yisrael Gutman: Encyclopedia of the Holocaust. New York 1989
  • Louis S. Snyder: Encyclopedia of the Third Reich, New York 1976
Forschungsüberblick
  • Saul S. Friedman (Hrsg.): Holocaust Literature. A Handbook of Critical, Historical, and Literary Writings. Greenwood Press, Westport/Connecticut/London 1993, ISBN 0-313-26221-7
  • Ulrich von Hehl: Nationalsozialistische Herrschaft, Oldenbourg, 1. Auflage 1999, ISBN 3486550209 (Teil II: Grundprobleme und Tendenzen der Forschung)
  • Ulrich Herbert: Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939-1945. Neue Forschungen und Kontroversen. Fischer TB, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3596137721

Weblinks

Primärquellen

(Videoaufzeichnungen von fast 52.000 Holocaustüberlebenden - begrenzter Zugang, englisch)

Einzelnachweise

  1. Peter Longerich: Der ungeschriebene Befehl. Hitler und der Weg zur „Endlösung“, Piper, München 2001, ISBN 3492042953
  2. Christopher Browning: Judenmord. 2. Kapitel: Der Entscheidungsprozess im Machtzentrum - Weichenstellungen für die „Endlösung“, a.a.O., S. 47-55
  3. Peter Longerich: Die Eskalation der NS-Judenverfolgung zur 'Endlösung'. Herbst 1939 bis Sommer 1942, Vortrag auf dem Symposium on the Origins of Nazi Policy, Gainesville, Florida/USA, 1998
  4. Magnus Brechtken: „Madagaskar für die Juden“. Antisemitische Idee und politische Praxis 1885-1945, München 1997
  5. Richard Breitman: Official Secrets: What the Nazis Planned, What the British and Americans Knew, Hill & Wang Publishers, 1. Auflage 1998, ISBN 0809038196 (englisch); deutsche Erstausgabe: Staatsgeheimnisse. Die Verbrechen der Nazis - von den Alliierten toleriert, Blessing, 1999, ISBN 3896670565
  6. Philippe Burrin: Hitler und die Juden. Die Entscheidung für den Völkermord, S. Fischer, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3100463080
  7. Christian Streit: Keine Kameraden, Dietz Verlag, Bonn 1997 (Neuauflage), ISBN 3801250237
  8. Alfred Streim: Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener im Fall Barbarossa, Müller Jur.Vlg.C.F., 1981, ISBN 3811422812
  9. Christopher Browning: Judenmord. 2. Kapitel: Der Entscheidungsprozess im Machtzentrum - Weichenstellungen für die „Endlösung“, a.a.O., S. 47-55
  10. Dieter Pohl: Von der „Judenpolitik“ zum Judenmord. Der Distrikt Lublin des Generalgouvernements 1939-1944, Frankfurt am Main 1993
  11. Götz Aly: Endlösung, 1995, siehe Literatur
  12. Peter Witte: Two Decisions concerning the 'Final Solution of the Jewish Question': Deportations to Lodz and the Mass Murder in Chelmno, in: Holocaust and Genocide Studies 9/3, London/Jerusalem 1995
  13. Hans Safrian: Die Eichmann-Männer, Wien 1995
  14. L. J. Hartog: Der Befehl zum Judenmord. Hitler, Amerika und die Juden, Syndikat Buchgesellschaft Bodenheim, 1. Auflage 1997, 2. Auflage 2000, ISBN 3931705110; dargestellt in Chronologie des Holocaust: Hitlers Drohung: Die größte Geiselnahme der Geschichte
  15. Christian Gerlach: Die Wannseekonferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden, in Werkstatt Geschichte, Nr. 18/1997, S. 7-44; dargestellt in Ulrich Herbert (Neue Zürcher Zeitung, 14./15. März 1998): Eine „Führerentscheidung“ zur „Endlösung“? Neue Ansätze in einer alten Diskussion
  16. Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden, Band 1, a.a.O., S. 111-120
  17. Avi Primor: … mit Ausnahme Deutschlands. Als Botschafter Israels in Bonn. Ullstein, 2002, ISBN 3-548-35910-8, Teil IVf: Steine und Rosen
  18. Israel Gutman (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust, 2. Auflage 1998, Vorwort zur 1. Auflage 1987, S. 12
  19. Eberhard Jäckel, Die elende Praxis der Untersteller, in: Historikerstreit, München 1987, ISBN 3-492-10816-4, S. 118
  20. Dieter Pohl: Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933-1945, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2003, ISBN 3-534-15158-5, S. 109f
  21. Dieter Pohl: Holocaust. Die Ursachen - das Geschehen - die Folgen. Herder Spektrum, Freiburg im Breisgau 2000, S. 182
  22. Saul Friedländer: Die „Endlösung“. Über das Unbehagen in der Geschichtsdeutung. In: Walter H. Pehle (Hrsg.): Der historische Ort des Nationalsozialismus. Annäherungen. Fischer TB, Frankfurt 1990, ISBN 3-596-24445-5, S. 84f
  23. Robert Conquest, The Great Terror. A Reassessment. Oxford University Press, 1991; Dimitri Wolkogonow Stalin. Triumph und Tragödie. Ein politisches Porträt, Econ Taschenbuch Verlag, München 1993
  24. Jung Chang und Jon Halliday, Mao. Das Leben eines Mannes. Das Schicksal eines Volkes, Blessing Verlag 2005
  25. Yehuda Bauer: „Es galt nicht der gleiche Befehl für beide“. Eine Entgegnung auf Romani Roses Thesen zum Genozid an den europäischen Juden, Sinti und Roma. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 43 (1998), H. 11, S. 1380-1386; Gilad Margalit: Eine Antwort auf Silvio Peritore, in: GWU 50 (1999), H. 10, S. 610-616
  26. Romani Rose: „Für beide galt damals der gleiche Befehl“. Eine Entgegnung auf Yehuda Bauers Thesen zum Genozid an den europäischen Juden, Sinti und Roma, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 43 (1998), S. 467-472; Silvio Peritore: Die ‘Zigeunerfrage‘ im Nationalsozialismus. Anmerkungen zum Artikel von Gilad Margalit, in: GWU 50 (1999), H. 10, S. 605-609
  27. Wolfgang Wippermann: Auserwählte Opfer? Shoa und Porrajmos im Vergleich. Eine Kontroverse. Frank & Timme, Berlin 2005, ISBN 3865960030

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