Hottentottenwahl

Hottentottenwahl

Die Reichstagswahl 1907 war die Wahl zum 12. Deutschen Reichstag. Sie fand am 25. Januar 1907 statt und wurde von den Zeitgenossen auch als „Hottentotten-Wahl“ oder „Hottentottenwahlen“ bezeichnet.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte der „Hottentottenwahl“

Die Wahl wurde als Hottentottenwahl bezeichnet, weil ihre Ursache und der Wahlkampf durch den Hererokrieg (vor allem aber durch den Namakrieg) im Schutzgebiet Deutsch-Südwestafrika bestimmt waren. Durch den anhaltenden und mit hohen Kosten verbundenen Kolonialkrieg kam es in Deutschland zu einer politischen Krise, nachdem die deutsche Regierung am 2. August 1906 im Reichstag einen Nachtragshaushalt in Höhe von 29 Millionen Mark für den Krieg in Deutsch-Südwestafrika beantragt hatte. Vor allem die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) weigerte sich angesichts rücksichtsloser Kriegsführung mit zahlreichen Opfern unter den geschätzten 20.000 Nama (der Ausdruck „Hottentotten“ wird heute als abwertend gesehen), weiteren Geldern zuzustimmen. Zunächst hatte die Reichsleitung versucht, den Konflikt durch ein gewisses Entgegenkommen beizulegen. Vor allem der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger verschärfte durch aggressive Rhetorik im Parlament die Situation. Dies führte dazu, dass auch die Zentrumsfraktion teilweise gegen ihren Willen den Nachtragshaushalt ablehnte. Dagegen traten Konservative und Nationalliberale vehement für die Weiterführung des Kolonialkrieges ein. Die Abstimmung am 13. Dezember ergab eine knappe Mehrheit von 177 zu 168 gegen den Nachtragshaushalt.

Noch am selben Tag ließ Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow auf Verordnung Wilhelm II. – der auch inhaltlich diesen Schritt befürwortete – den Reichstag auflösen. Ein Grund für die Auflösung angesichts einer nicht sehr bedeutenden Sachfrage war, dass nicht nur beim Kaiser, sondern auch in weiten Teilen der Bürokratie die Vorbehalte gegen die bisherige starke Stellung des Zentrums immer größer geworden waren. Bülow, der diese Position nicht teilte und sich gern weiter auf das Zentrum gestützt hätte, gab nach. Er hoffte, seine angeschlagene Vertrauensposition beim Kaiser durch den Versuch, eine neue politische Regierungsmehrheit zu etablieren, wiederherzustellen. Nach Lage der Dinge kam dazu nur eine Wiederauflage der Zusammenarbeit mit den ehemaligen Kartellparteien aus Konservativen und Nationalliberalen erweitert um die Linksliberalen in Frage. Nach dem Tod von Eugen Richter im Jahr zuvor hatte sich schon seit längerem eine Bereitschaft der Linksliberalen abgezeichnet, die Regierung zu stützen. Dieses Bündnis kam tatsächlich zustande und wird allgemein als Bülow-Block bezeichnet. Nicht zuletzt durch Vermittlung der Regierung kam es zu Wahlabsprachen zwischen den beteiligten Parteien für die mittlerweile üblich gewordenen Stichwahlen.

Im Vorfeld der nun anstehenden Wahlen war es vor allem die Regierung selber, die mit ihrer Propagierung einer in „nationalen Fragen“ zuverlässigen Mehrheit und des Kampfes gegen die Sozialdemokratie, die als Feind der Monarchie, von Religion und Eigentum bekämpft wurde, sowie die national unzuverlässige Zentrumspartei den Ton angab. Ziel war es, die Kartellparteien und die Linksliberalen zu einem national gesinnten, antisozialistischen und antiklerikalen Block zusammenzuschließen. Unterstützt wurde dies durch einen neu gegründeten Reichsverband gegen die Sozialdemokratie.

Wahlausgang

Die Wahlbeteiligung lag bei fast 85 %. Sie war damit die höchste aller Reichstagswahlen bis zu diesem Zeitpunkt. Nur bei der folgenden Reichstagswahl 1912 gab es etwa dieselbe Beteiligung.

Der Bülow-Block war erfolgreich: Insbesondere den Sozialdemokraten konnten durch Wahlabsprachen Wahlkreise abgenommen werden. Zwar blieb die SPD mit Abstand von 10 % nach Stimmenanteilen die stärkste Partei, musste aber im Vergleich zur Reichstagswahl von 1903 prozentual leichte Verluste hinnehmen, auch wenn sie gegenüber 1903 noch einmal eine Viertelmillion Stimmen dazu gewinnen konnten. Dies fiel aber angesichts der hohen Wahlbeteiligung, die vor allem dem Block zugute kam, nicht ins Gewicht. Besonders für die Sozialdemokraten wirkten sich die Stichwahlabkommen der Blockparteien negativ aus. Statt auf 81 wie 1903 kam die Partei nur noch auf 43 Mandate. Damit war der seit der Reichstagswahl 1887 bestehende Aufwärtstrend der SPD vorläufig gestoppt. Das Zentrum stagnierte, konnte aber noch Mandate (105 statt 100) hinzugewinnen.

Alle Parteien des Blocks gewannen Mandate hinzu. Durch die Wahlabsprachen im Vorfeld fiel zudem die Konkurrenz untereinander weitgehend aus. Die beiden konservativen Parteien konnten so die Zahl ihrer Mandate von 75 auf 84 steigern. Geringer fielen die Gewinne der Nationalliberalen aus, die statt 51 nun 54 Parlamentssitze erhielten. Besonders deutlich waren die Gewinne der Linksliberalen. Sie konnten sich von 36 auf 49 Mandate verbessern. Insgesamt kam der Block auch unter Einschluss einiger kleiner Parteien und fraktionsloser Abgeordneter auf 220 von 397 Sitzen.

Ergebnisse

Politische Richtung Parteien Wählerstimmen Sitze im Reichstag Anmerkungen
in Mio. Anteil ggüb. 1903 absolut Anteil ggüb. 1903
Konservative Deutschkonservative Partei 1,060   9,4% - 0,6%  60 15,1%   +6 / +1,5%
Deutsche Reichspartei 0,472   4,2% +0,7%  24   6,0%   +3 / +0,7%
Liberale Rechts- Nationalliberale Partei 1,631 14,5% +0,6%  54 13,6%   +3 / +0,8%
gemäßigt Freisinnige Vereinigung 0,359   3,2% +0,6%  14   3,5%   +5 / +1,2%
Links- Freisinnige Volkspartei 0,736   6,5% +0,8%  28   7,1%   +7 / +1,8%
Deutsche Volkspartei 0,139   1,2% +0,2%   7   1,8%   +1 / +0,3%
Katholiken Zentrumspartei 2,180 19,4% - 0,3% 105 26,4%   +5 / +1,2%
Sozialisten Sozialdemokraten (SPD) 3,259 28,9% - 2,8%  43 10,8% - 38 / - 9,6%
Andere und
Unabhängige
Regionalparteien, Minderheiten 0,651   5,8% - 0,1%  29   7,3%   - 3 / - 0,8% 1
Bauernparteien/-bünde 0,195   1,7% - 0,7%   9   2,3%   +1 / +0,3% 2
Antisemitenparteien 0,353   3,1% +0,5%  21   5,3% +10 / +2,3% 3
Sonstige 0,228   2,0% +0,9%   3   0,8% unverändert 4
Gesamt 11,263 100% 397 100%

Anmerkungen:

Auswirkungen

Der Nachtragshaushalt wurde bald nach der Wahl bewilligt. Reichskanzler von Bülow wurde allerdings bereits 1908 durch die Daily-Telegraph-Affäre schwer beschädigt und musste schließlich 1909 zurücktreten, als der Bülow-Block angesichts der großen Reichsfinanzreform auseinanderbrach: Die Deutschkonservativen verhinderten gemeinsam mit dem Zentrum das neue Erbschaftsteuergesetz. Nachfolger Bülows wurde Theobald von Bethmann-Hollweg.

Die drei linksliberalen Parteien (Deutsche Volkspartei, Deutsche Freisinnige Partei und Freisinnige Vereinigung) bildeten ab 1908 eine gemeinsame Fraktion. Dies und deren Zugehörigkeit zum Bülow-Block nahm ein Kreis um Theodor Barth zum Anlass, auszutreten und die erfolglose Demokratische Vereinigung zu bilden. Die drei genannten Parteien schlossen sich nach dem Ende des Bülow-Blocks schließlich 1910 zur Fortschrittlichen Volkspartei zusammen, die sich zur Sozialdemokratie öffnete.

Weblinks

Literatur

  • Gerhard A. Ritter, unter Mitarbeit von Merith Niehuss: Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871-1918. C. H. Beck, München 1980, ISBN 3-406-07610-6. 
  • Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. Band II: Machtstaat vor der Demokratie, C. H. Beck, München 1998, ISBN 3-406-44038-X (v. a. der Abschnitt Der Bülow-Block 1907-1909, S. 729ff.). 
  • Carl-Wilhelm Reibel: Handbuch der Reichstagswahlen 1890-1918. Droste Verlag, Düsseldorf 2007, ISBN 978-3-7700-5284-4. 

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