Indianerdorf

Indianerdorf
Völkerschau – Kolonialausstellung in Stuttgart (1928)

Völkerschau bezeichnet eine Zurschaustellung von Angehörigen eines fremden Volkes. Blütezeit der Völkerschauen in Europa war zwischen 1870 und 1940. Allein in Deutschland wurden in dieser Zeit über 300 außereuropäische Menschengruppen vorgeführt. Teilweise lebten in diesen "anthropologisch-zoologischen Ausstellungen" gleichzeitig über 100 Menschen.[1]

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Im Römischen Reich war es gängig, Fremde und Andersartige zur Schau zu stellen und auch zu vernichten, vor allem in den Gladiatorenspielen. Das Christentum hingegen verurteilte diese Art von Öffentlichkeit: der gekreuzigte Christus, die gesteinigte Ehebrecherin sind Symbole öffentlicher Willkür. Diese christliche Ablehnung stand dann einer Zurschaustellung im Mittelalter im Wege, dennoch gibt es immer Beispiele dafür, wie Andersartige oder auch Verbrecher ausgestellt wurden.

Der europäische Absolutismus versuchte Öffentlichkeit mit einem neuen Konzept zu rechtfertigen: Aufgrund der unüberwindlichen Standesgrenzen innerhalb des eigenen Volks konnte die Abgrenzung gegenüber einem Fremden einerseits zum neuartigen Gemeinschaftserlebnis gemacht und andererseits mit der "Würdigung" dieses Fremden verbunden werden, solange es nur schwächer blieb. "Indianerdörfer" mit "echten" Indianern gibt es in Europa seit dem 17. Jahrhundert. Diese Verbindung von Absolutismus, Unterwerfung und Anerkennung durch Veröffentlichung zeigt sich noch etwa in dem Wiener "hochfürstlichen Mohren" Angelo Soliman, der Mitglied des Hofstaats und auch Freimaurer war, aber nach seinem Tod 1796 nicht beerdigt, sondern ausgestopft und im Naturalienkabinett ausgestellt wurde.

Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts erhielten die Völkerschauen in Europa einen großen Aufschwung, als die Ausbeutung der Kolonien tiefgreifender wurde und überhaupt der Austausch zwischen den Kontinenten zunahm. Hier konnten exotische Menschen aus fremden Kulturen im Zoo oder im Zirkus sowie auf Jahrmärkten, Volksfesten, in Varietés und auf Gewerbe- und Kolonialausstellungen in möglichst naturgetreuer Kulisse besichtigt werden.

Nach dem Ersten Weltkrieg brach der Geschäftszweig zunächst ein. Die Geschäftsbeziehungen in alle Welt wurden bei vielen Unternehmen zerstört. In den Zwanziger-Jahren nahmen die Völkerschauen wieder zu. Um gegen die Konkurrenz von Funk und Fernsehen anzukämpfen, wurden die Ausstellungen immer größer und kostspieliger. 1931 fand John Hagenbecks letzte Ausstellung „Kanaken der Südsee“ auf dem Münchner Oktoberfest statt. Im Nationalsozialismus trat 1940 ein Verbot für Schaustellung von Menschen fremder Völker in Kraft, um die Europäer vor der „Rassenverschmutzung“ zu schützen. Der Hauptgrund für das Ende der Völkerschauen war jedoch die Verbreitung des Kinos.

Erfolgreiche Schausteller

Somalische Frauen im Hamburger Zoo Hagenbeck um 1910.

Carl Hagenbeck

1875 öffnete Carl Hagenbecks erste Völkerschau nach einer Idee des befreundeten Tiermalers Heinrich Leutemann (1824-1905). Während des Aufenthalts in Hagenbecks Ausstellungsgelände konnten Besucher den Lappländern bei ihrem alltäglichen Leben zusehen. Hagenbecks Schau feierte große Erfolge. Die kleine Lappländerschau wanderte von Hamburg aus weiter nach Berlin. Anschließend reiste sie nach Leipzig. Um die Ausstellungen aus dem Umfeld von Schaubuden und Vergnügungslokalitäten zu lösen, versuchte man von nun an seriöse Ausstellungsorte zu finden, damit die Schauen auch vom Bürgertum respektiert wurden.

Äthiopier im Tierpark Hagenbeck, 1909

Nach dem unerwarteten großen Erfolg der ersten Völkerschau Carl Hagenbecks plante dieser schnell weitere. Mithilfe seiner Verbindungen zu Tierfängern auf der ganzen Welt brachte er 1876 drei „Nubier“ nach Europa und gleich darauf eine Eskimofamilie aus Grönland. 1883 und 1884 veranstaltete er eine Kalmücken- und eine Singhalesen- bzw. Ceylonschau. Mit der Eröffnung seines Tierparks in Stellingen 1908 vor den Toren Hamburgs stand Carl Hagenbeck ein eigenes Ausstellungsgelände zur Verfügung, wo Somalier, Äthiopier und Beduinen auftraten.

Andere Schausteller

Konkurrenten Hagenbecks waren zu der Zeit Eduard Gehring, Carl, Fritz und Gustav Marquardt, Willy Möller, Wilhelm Siebold, die Firmen Ruhe und Reiche sowie Carl Gabriel.

Die Firmen von Ludwig Ruhe und Carl und Heinrich Reiche waren die größten Konkurrenten Hagenbecks. Beide waren ansässig in Niedersachsen und wetteiferten mit Hagenbeck unter anderem durch Nubier- und Irokesen-Schauen, „Wild-Afrika“ (1926) und die „Riesenpolarschau“ (1930).

Carl Gabriel war selten überregional, sondern meist nur in München auf dem Oktoberfest tätig. Er besaß ein Wachsfigurenkabinett, ein Lichtspieltheater und später ein Kino. Mit seinen „Riesen-Schauen“, die oft über einhundert ausgestellte Menschen zeigte, lockte er viele Besucher auf das Oktoberfest und machte es so zu einem mehrfachen "Exoten-Schauplatz".

Organisation

Die Organisation der Völkerschauen war mit großem Aufwand verbunden. Insgesamt mussten für eine Völkerschau bis zu fünf Jahre zur Vorbereitung und Umsetzung eingeplant werden. Bereits die Anwerbung begann ein halbes Jahr vor der eigentlichen Tournee. Anwerber des Tierhändlers Carl Hagenbeck waren zum Beispiel der Nordpolargebiet-Reisende Johan Adrian Jacobsen oder Mitglieder aus Hagenbecks Familie.[2]

Es wurde stark darauf geachtet, möglichst Kinder und Erwachsene beiden Geschlechts und verschiedenen Alters vorzuführen, damit die Besucher mehr über das „Familienleben“ der Völker erfahren konnten. Mit einem Vertrag zwischen Organisator und den fremden Menschen wurde die Länge des Aufenthalts, die Verpflichtungen während der Schau und das Gehalt festgelegt. Einige Schauen verzeichneten Verluste durch verschiedene Krankheiten, wodurch eine medizinische Untersuchung Pflicht wurde.[3]

Werbung und Inszenierung

Schon die Ankunft der Teilnehmer erregte viel Aufsehen unter anderem mit Umzügen durch die Stadt. Die Schauen profitierten von Ereignissen wie Tod, Hochzeit oder Geburt der Ausgestellten und dem dadurch entstehenden Besucherandrang.[4] Auch prominente Besucher der Schauen wie zum Beispiel Otto von Bismarck lockten noch mehr Publikum zum Ausstellungsort. Durch zahlreiche Verbindungen zur Presse erschienen hunderte von Artikeln über derartige Ereignisse. Auch Post- und Sammelkarten, Film und Radio trugen zur Vermarktung bei. Plakate waren sehr wichtige Werbemedien: Sie mussten farbenfroh, bildgewaltig und groß sein. Am begehrtesten waren die Plakate der Hamburger Druckerei Adolph Friedländer.

Die Inszenierung der Ausstellungen konnte man teilweise mit Theateraufführungen vergleichen. Deshalb wurden bevorzugt Artisten, Gaukler und Handwerker nach Deutschland gebracht. Alle Teilnehmer mussten gesund und kräftig sein. Es gab drei Typen der Völkerschauen: Zum einen das „Eingeborenendorf“, das der Zuschauer durchlaufen konnte, dann Schauen mit geregelten Abläufen der Vorführungen und den freak shows, bei denen stark auf die körperliche Andersartigkeit gegenüber den Europäern hingewiesen wurde. Oft gab es aber auch Mischformen. Wichtig waren auch passende Kostüme und aufwendig gestaltete Bühnen und Kulissen, die ein Bildnis der Heimat darstellten.

Die Völkerschauen entsprachen meist nicht der Wirklichkeit und der wahren Lebensweise der Völker, sondern vielmehr ein Abbild der europäischen Klischees zu den fremden Menschen, die durch Bücher und Erzählungen (z. B. von Karl May) entstanden waren. So zum Beispiel wurden die Feuerländer als Kannibalen dargestellt und mussten rohes Fleisch essen, Kämpfe und Kriegstänze vorführen. Indien zeichnete sich durch seine malerischen Kulissen, die prachtvollen Kostüme und bunt geschmückte Elefanten aus. Völkerschauen haben so wohl nicht unwesentlich zu einer Verfestigung rassistischer Haltungen beigetragen. Es handelte sich oft um eine erniedrigende Darstellung fremder Kulturen.

Kritik

Zur Zeit der Völkerschauen waren viele Menschen in Europa der Meinung, es wäre berechtigt, fremde Völker in dieser Weise auszustellen. Die Wenigsten begriffen, dass Völkerschauen nur Inszenierungen waren und nicht die fremde Kultur zeigten. Die Ausstellungen wurden so organisiert, dass die Wahrnehmung der Ausgestellten den Klischees der Europäer gegenüber diesen Völkern entsprach. Die „Überlegenheit“ der Bürger in Europa gegenüber den Völkern auf der ganzen Welt drückte sich auch sprachlich in den Werbemedien aus.

Auch heute noch sorgen diverse Veranstaltungen für Kritik, weil sie im historischen Kontext von Völkerschauen gesehen werden. Als der Augsburger Zoo seine Veranstaltung "African Village" vom 9. Juni 2005 bis zum 12. Juni 2005 plante, musste sich die Zoodirektorin Barbara Jantschke mit Rassismusvorwürfen konfrontieren lassen.

Die Protestierenden befanden in einem offenen Brief:

Die Reproduktion kolonialer Blick-Verhältnisse, in denen Schwarze Menschen als exotische Objekte, als Un- oder Untermenschen in trauter Einheit mit der Tierwelt in einer offenbar zeitlosen Dörflichkeit betrachtet werden können und den Mehrheitsdeutschen als Inspiration für künftige touristische Reiseziele dienen, ist wohl kaum als gleichberechtigte kulturelle Begegnung zu verstehen.

Zoodirektorin Barbara Jantschke meinte:

Diese Tage sollen die afrikanische Kultur, afrikanische Produkte den Menschen näher bringen. Natürlich wird dies von farbigen Afrikanern gemanagt, und zwar sehr gerne - wir haben mehr Anfragen für Standplätze als wir befriedigen können. Wenn Sie das mit "Zur-Schau-Stellen" meinen, dann dürften auch keine internationalen Sportveranstaltungen mehr stattfinden, bei denen farbige Menschen zu sehen sind. Diese Veranstaltung soll im Gegenteil die Toleranz und Völkerverständigung fördern und den Augsburgern die afrikanische Kultur näher bringen.

Belege

  1. Dreesbach, Anne: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870 – 1940, Frankfurt/Main 2005, Seite 11 ff.
  2. Dreesbach, Anne: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870 – 1940, Frankfurt/Main 2005, Seite 64 ff
  3. http://www.voelkerkundemuseum-muenchen.de/inhalt/html/salon-03.html
  4. Niemeyer, Günter H. W.: Hagenbeck. Geschichte und Geschichten, Hamburg 1972, Seite 215 ff

Literatur

  • Volker Mergenthaler: Völkerschau - Kannibalismus - Fremdenlegion. Zur Ästhetik der Transgression (1897-1936). Tübingen 2005, 270 S., ISBN 3-484-15109-9
  • Hilke Thode-Arora: Für fünfzig Pfennig um die Welt. Die Hagenbeckschen Völkerschauen. Frankfurt/Main, New York 1989
  • G. Eißenberger: Entführt, verspottet und gestorben – Lateinamerikanische Völkerschauen in deutschen Zoos, Frankfurt/Main 1996, ISBN 3-88939-185-0
  • Sylke Kirschnick: Koloniale Szenarien in Zirkus, Panoptikum und Lunapark. In: Ulrich van der Heyden, Joachim Zeller (Hrsg.) „... Macht und Anteil an der Weltherrschaft.“ Berlin und der deutsche Kolonialismus. Unrast-Verlag, Münster 2005, ISBN 3-89771-024-2
  • Anne Dreesbach, Helmut Zedelmaier (Hrsg.): Gleich hinterm Hofbräuhaus waschechte Amazonen. Exotik in München um 1900. München und Hamburg: Dölling und Galitz, 2003.
  • Anne Dreesbach: Gezähmte Wilde : die Zurschaustellung "exotischer" Menschen in Deutschland 1870 - 1940 / Anne Dreesbach. - Frankfurt/Main ; New York : Campus-Verl. , 2005. - 371 S. : Ill. ISBN 3-593-37732-2
  • Stefanie Wolter: Die Vermarktung des Fremden. Exotismus und die Anfängen des Massenkonsums, Frankfurt/Main 2005.
  • Cordula Grewe (Hg.): Die Schau des Fremden. Ausstellungskonzepte zwischen Kunst, Kommerz und Wissenschaft, Stuttgart 2006.
  • Susann Lewerenz: Völkerschauen und die Konstituierung rassifizierter Körper. In: Torsten Junge, Imke Schmincke (Hg.): Marginalisierte Körper. Beiträge zur Soziologie und Geschichte des anderen Körpers. Münster 2007, ISBN 978-3-89771-460-1
  • Hartmut Lutz (Hg.): Abraham Ulrikab im Zoo - Tagebuch eines Inuk 1880/81. von der Linden, Wesel. 2007, ISBN 3926308109 (Tagebuch einer der ausgestellten Personen; engl. 2005 - The Diary of Abraham Ulrikab, ISBN 0776606026)

Radio

  • Karin Sommer: Die Wilden kommen. Völkerschauen und andere Kuriositäten. Sendung vom 2. Juni 1996, Bayerischer Rundfunk

Siehe auch

Weblinks

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