Ius commune

Ius commune

Als Gemeines Recht, lateinisch ius commune, wird heute im deutschsprachigen Raum vor allem das Römisch-kanonische Recht des Mittelalters, der Frühen Neuzeit und Neuzeit verstanden, wie es zunächst ab dem 11. Jahrhundert europaweit gelehrt wurde. Durch die modernisierende Rezeption des römischen Rechts bei den Glossatoren und Postglossatoren wurde dieses zur Grundlage für das kontinentaleuropäische Zivilrecht. Es wurde erst durch die Zivilrechtskodifikationen des 18. und 19. Jahrhunderts abgelöst, in manchen Gebieten Deutschlands galt es bis zum Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches am 1. Januar 1900.

Inhaltsverzeichnis

Römisches Recht

Zum Gemeinen Recht gehört das Römische Recht. Das Römisches Reich hatte in der Antike ein sehr hochentwickeltes Recht entwickelt, das mit dem Gesetzeswerk Corpus Iuris Civilis überliefert worden war.

In der Zeit der Völkerwanderung wurden wesentliche Teile des Römischen Rechts vergessen. Ab dem 11. Jahrhundert wurde vieles davon wieder neu entdeckt und wissenschaftlich bearbeitet (siehe: Irnerius, Glossator). Jahrhundertelang studierten angehende Juristen in ganz Europa fast ausschließlich Römisches Recht. Damit wurde also das Römische Recht allgemein (= gemein) gelehrt.

Die so am Römischen Recht ausgebildeten Juristen wurden nach dem Abschluss ihrer Ausbildung beruflich in den verschiedensten Ämtern tätig. Dort begannen sie, das Römische Recht, das sie gelernt hatten, anzuwenden. Damit begann ein Prozess, in dem das gelehrte Römische Recht in die gelebte Rechtspraxis eindrang und das dort zuvor bestehende Gewohnheitsrecht verdrängte (sog. Rezeption). Auch dieser Prozess vollzog sich in ganz Kontinentaleuropa, also wieder allgemein.

Kanonisches Recht

Zum Gemeinen Recht wird weiterhin das Kanonische Recht gezählt (= Recht der katholischen Kirche). Die katholische Kirche hatte im Mittelalter und in der frühen Neuzeit eine weitreichende Gerichtsbarkeit. Dazu schuf sie sich ein umfangreiches eigenes Kirchenrecht, den Corpus Iuris Canonici, welcher in mannigfaltiger Hinsicht aus dem Römischen Recht abgeleitet wurde. Dieses Kanonische Recht wurde an allen Universitäten Europas mit einer juristischen Fakultät parallel zum Römischen Recht gelehrt. Angehende Juristen konnten entweder Kanonisches Recht oder Römisches Recht oder beide Rechte studieren. Der Unterricht in beiden Rechtsgebierten erfolgte europaweit, somit allgemein.

Auch heute hat die Katholische Kirche noch eine eigenständige Gerichtsbarkeit, jedoch sind ihre Kompetenzen vergleichsweise deutlich eingeschränkt und beschränken sich auf kircheninterne Angelegenheiten sowie auf das Verhältnis von Kirchenangehörigen zur Kirche (zum Beispiel bei der Annullierung einer gescheiterten Ehe, um nach einer Scheidung eine kirchliche Wiederverheiratung zu ermöglichen).

Örtliches Gewohnheitsrecht

Der Gegensatz zum Gemeinen Recht, also dem Recht, das umfassend für die meisten Menschen in Europa galt, war das örtliche Gewohnheitsrecht. Dies war - anders als das Römische Recht und anders als das Kanonische Recht - nicht schriftlich niedergelegt. Es entstand durch gelebte Rechtsüberzeugung (longa consuetudo; opinio necessitatis). Dementsprechend hatten auch die unterschiedlichsten Regionen in Europa die unterschiedlichsten Gewohnheitsrechte. Die Gewohnheitsrechte galten damit also gerade nicht allgemein. Sie gingen dem gemeinen römischen Recht grundsätzlich vor. Das gemeine Recht galt also nur subsidiär. In der Praxis kehrte sich dies allerdings um; denn die Geltung des deutschrechtlichen Gewohnheitsrechts musste von demjenigen, der sich darauf berief, bewiesen werden. Somit erwarb in der Praxis das gemeine römische Recht den Vorrang, da es nicht bewiesen werden musste.

Wie bereits dargestellt, wurde das Gemeine Recht zunächst wissenschaftlich an den Universitäten gelehrt. Die Kirche wandte das Kanonische Recht schon immer an. Im weltlichen Bereich hingegen wurde jahrhundertelang Gewohnheitsrecht angewandt (und nicht das in den Universitäten gelehrte Gemeine Recht). Erst in einem Jahrhunderte andauernden Prozess gelang es den studierten Juristen, das Gemeine Recht in die Rechtspraxis zu tragen. Ein wichtiger Meilenstein war hierbei zum Beispiel das 1495 geschaffene Reichskammergericht, das damals höchste Gericht im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Das Reichskammergericht sollte grundsätzlich nach dem Gemeinen Recht seine Urteile fällen, und nur in Ausnahmefällen nach örtlichem Gewohnheitsrecht. Dieser Vorgang des Eindringens des Gemeinen Rechts in die Rechtspraxis nennt man Rezeption. In einigen Bereichen Europas geschah dies früher (Italien, Südfrankreich), in anderen später (Deutschland). England hingegen sperrte sich gegenüber der Anwendung des Gemeinen Rechts sehr stark. Ab dem 16. Jahrhundert kann man ungefähr sagen, dass das Gemeine Recht von den Gerichten ganz Europas angewandt wurde (abgesehen vom englischen Common Law).

Zurückdrängung des gemeinen Rechts

Allerdings entstanden ab dem 16. Jahrhundert auch Gegentendenzen. Ab dieser Zeit begann man, die lokalen Rechtsgewohnheiten wieder stärker in den Blick zu nehmen und diese stärker in Bezug auf das Gemeine Recht zu setzen. In der Epoche des usus modernus zum Beispiel gab es dann gemeines Recht französischer Prägung, Gemeines Recht holländischer Prägung usw. Das wichtigste gemeinrechtlich-nationale Rechtssystem war aber das Ius Romano-Germanicum, das römisch-deutsche Recht. Allerdings war der Grundbestand des gemeinen Rechts weiterhin sehr prägend.

Die Rechtsentwicklung schritt allerdings weiter fort hin zu einer Zersplitterung des gemeinen Rechts: In der Aufklärungszeit (insbes. 18./19. Jahrhundert) wurden die Regeln des Gemeinen Rechts gemäß den Maximen der Aufklärung einer Prüfung unterzogen. Die Regeln hatten den Gesetzen der Vernunft zu entsprechen. Außerdem begannen einzelne Länder, nationale Gesetze zu erlassen und damit eben nicht mehr das gemeine Recht als Grundlage ihrer Rechtspraxis anzuerkennen; auch an den Universitäten wurde dann mehr oder weniger widerstrebend das nationale Recht gelehrt. So entstanden zum Beispiel als wichtige Gesetze: der französische Code Civil, das preußische Allgemeine Landrecht (ALR), das österreichische ABGB. Eine späte Geburt dieser Zeit ist auch das Deutsche Bürgerliche Gesetzbuch (BGB). Allerdings beruhen diese Gesetze alle weithin auf dem gemeinen Recht, denn die Regeln in diesen Gesetzbüchern sind allesamt in wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Gemeinen Recht entstanden und gehen auf dieses zurück. Auch nach dem Erlass all dieser Gesetze wurde an den Universitäten das Gemeine Recht weiterhin gelehrt.

Heute gibt es nur noch wenige Gebiete, wo das gemeine Recht in Geltung ist. Als eines der letzten Gebiete lässt sich vielleicht (allerdings mit großen Vorbehalten) Südafrika nennen. Das gemeine Recht kam durch niederländische Entdecker und Kolonialherren nach Südafrika. Später verdrängte Großbritannien die Holländer und setzte teils ihr Common Law in Kraft, das das gemeine Recht (Roman Dutch Law) überlagerte und veränderte. Heute besteht in Südafrika ein Mischrechtssystem aus gemeinem Recht und common law, wobei das common law das Gemeine Recht überlagert.

Common Law

Common Law heißt in der Übersetzung ebenso „gemeines Recht“. Jedoch ist das englische Common Law ein eigenständiges Rechtssystem, das sich weitgehend unabhängig von dem römisch-kanonisch geprägten Gemeinen Recht Kontinentaleuropas (wie oben dargestellt) bildete.

Die Wurzeln des englischen Common Law liegen im Mittelalter, und zwar in der anglo-normannischen Zeit. Damals gab es auf dem Boden Englands verschiedene Gewohnheitsrechte, über deren Anwendung lokale Adlige befanden. Die normannischen Könige aber sandten berittene Richter aus, die im ganzen Land umherreisten und damit begannen, ein einheitliches (common) königliches Recht zu sprechen. Dieses einheitliche Recht konnte sich gegen die verschiedenen lokalen Rechtsgewohnheiten durchsetzen, so dass das mittelalterliche England ein einheitliches Recht, ein Common Law, erhielt.

Anders als im kontinentalen Europa vermochten es die Engländer, gestützt auf das königliche Common Law, ein umfassendes, eigenständiges Recht zu schaffen, das auch für Neuerungen hinreichend offen war. Als dann das römisch-kanonische Recht seinen Siegeszug durch ganz Kontinentaleuropa antrat, bestand in England wegen des bereits ausgebildeten Rechtssystems keine Notwendigkeit mehr, römisch-kanonische Regeln zu übernehmen. Deshalb blieb in England die Rezeption des römischen Rechts aus. (Anders gestaltete sich allerdings die Rechtsentwicklung in Schottland. Die Schotten übernahmen das römisch-kanonische Gemeine Recht.)

England wurde in der Kolonialzeit zu einer beherrschenden Weltmacht. Es führte sein Common Law auch in den Kolonien ein, so dass alsbald weltumspannend in sehr vielen Gebieten das Common Law Geltung gelangte. Dies blieb auch sehr häufig nach Ende des Kolonialismus so, als die ehemaligen Kolonien sich von dem Mutterland England lösten. Dementsprechend gilt heute überspannend in einer sehr großen Anzahl von Ländern das Common Law.


Literatur

  • Helmut Coing: Ius commune. Veröffentlicht von Vittorio Klostermann, 1979. ISBN 3465007891
  • Hermann Lange: Römisches Recht im Mittelalter. Beck Verlag, München, 1997. ISBN 3406419046
  • Johann Friedrich von Schulte: Die Geschichte der Quellen und Literatur des canonischen Rechts (Stuttgart 1875-1877).

Siehe auch


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