- Karzerstrafe
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Der (bis ins 19. Jahrhundert auch das) Karzer (v. lat.: carcer = Umfriedung, Kerker) war bis ins frühe 20. Jahrhundert eine Arrestzelle in Universitäten.
Inhaltsverzeichnis
Die besondere Rechtsstellung der Universitätsangehörigen
Der Karzer ist der wohl folkloristischste Teil, der zum Bereich akademische Gerichtsbarkeit zu rechnen ist und heute nur noch als wohl ehemals amüsante Disziplinarstrafe wahrgenommen wird. Dazu tragen vor allem Schilderungen aus dem 19. Jahrhundert und die farbenfrohe Ausgestaltung der Karzerräume bei. Doch diese Wahrnehmung greift zu kurz und betrifft nur die Endphase, vor allem die Zeit nach Abschaffung aller Sondergerichte im Deutschen Reich durch das Gerichtsverfassungsgesetz von 1879.
Die „pädagogische“ Freiheitsentziehung
Noch im 19. Jahrhundert war die Festsetzung (Haftverbüßung) von Studenten durch ihre Universität und von Gymnasiasten durch ihre Schule zulässig. Die meisten deutschen Universitätskarzer wurden in den Jahren um 1910-1914 aufgelöst. Karzerstrafe war an einigen Universitäten noch bis in die frühen 1930er Jahre zugelassen; erst die Disziplinarvorschriften aus der NS-Zeit sahen offiziell und reichsweit Karzerhaft als Strafmaßnahme gegen Studierende nicht mehr vor. An Schulen lebt der 'Karzer' aber noch in der Pädagogischen Maßnahme des Nachsitzens fort. Die Universitäts- bzw. Schulkarzer wurden in der Universität vom Pedellen bzw. vom Karzerwärter bewacht.
Die Verwässerung des „Erziehungsinstruments“
Während die Karzerstrafe in der Frühzeit der akademischen Gerichtsbarkeit noch ein Strafinstrument war, das als schwerer Eingriff in die persönliche Freiheit der Studenten verstanden wurde, sank besonders im Laufe des 19. Jahrhunderts der Respekt vor dieser Einrichtung rapide. Es galt als Ehrensache für einen Studenten, während seiner Studentenzeit wenigstens einmal eine Karzerstrafe abgesessen zu haben. Dieses Ereignis wurde dann auch gebührend begangen, wie die wenig besinnlichen Wand-, Tisch- und Türmalereien belegen, die noch heute als museale Touristenattraktion in den Universitätsstädten gezeigt werden. Es war Bestandteil des „Ehrenkodex“ zwischen Pedellen und Einsitzendem, dass nur die auf frischer Tat ertappten Verzierungen des Karzers geahndet und beseitigt wurden, also lag die hohe Kunst darin, beim Verlassen des Karzers so abzulenken, dass die neuen Verzierungen vom Pedell nicht bemerkt wurden, damit verblieben sie der Nachwelt. Andererseits oblag den Pedellen auch die Verpflegung der Einsitzenden für deren Rechnung und erbrachte somit erhebliche Nebeneinkünfte.
Da sich die Studenten im Karzer in der Regel selbst verpflegen mussten und auch Besuch empfangen durften, war es ein Leichtes, die „Strafe“ zu einem gesellschaftlichen Ereignis mit exzessivem Alkoholkonsum werden zu lassen, was in Quellen des 19. Jahrhunderts immer wieder berichtet wird.
Noch erhaltene Karzer in Deutschland
Die noch erhaltenen Karzer in Deutschland sind Kulturdenkmale und stehen sämtlich unter Denkmalschutz. Im einzelnen befinden sich in folgenden (ehemaligen) Universitätsstädten noch Karzer, die zumeist, manchmal nur nach vorheriger Anmeldung, besichtigt werden können.
Altdorf
Ehemalige Universität Altdorf (in Altdorf bei Nürnberg): Der bekannteste Insasse des Karzers soll Wallenstein während seiner Studienzeit in Altdorf (1599/1600) gewesen sein. Friedrich Schiller hat diesem Ereignis ein Denkmal gesetzt („Wallensteins Lager“, Siebenter Auftritt):
- ERSTER JÄGER: Ja, er fing’s klein an und ist jetzt so groß.
- Denn zu Altdorf im Studentenkragen,
- Trieb er’s, mit Permiß zu sagen,
- Ein wenig locker und purschikos,
- Hätte seinen Famulus bald erschlagen.
- Wollten ihn drauf die Nürnberger Herren
- Mir nichts, dir nichts ins Karzer sperren;
- ’s war just ein neugebautes Nest,
- Der erste Bewohner sollt’ es taufen.
- Aber wie fängt er’s an? Er läßt
- Weislich den Pudel voran erst laufen.
- Nach dem Hunde nennt sich’s bis diesen Tag;
- Ein rechter Kerl sich dran spiegeln mag.
- Unter des Herrn großen Taten allen
- Hat mir das Stückchen besonders gefallen. - Der Altdorfer Karzer führte den Namen Hundsloch.
Erlangen
Erhalten ist der Karzer der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg in Erlangen aus der Zeit 1828 bis 1897 im 2. Stock des ehemaligen Wasserturms in der Apfelstraße 12, wo in einem der Räume auch noch die typischen Wandmalereien zu sehen sind. Zuvor befand sich der Karzer der Universität von 1743 bis 1745 im Turm der Sophienkirche in der Hauptstraße 14, dann im Dachgeschoss des alten Universitätsgebäudes in der Hauptstraße 18 (nach seinem ersten Insassen „Neumaiers Burg“ genannt), schließlich bis zum Umzug in den Wasserturm 1828 im Dachgeschoss des Redoutenhauses. Ab 1839 nutzte man den am Rande des Schlossgartens befindlichen Wasserturm als Karzer. Dieser bekam 1870 durch das Abtragen der obersten Stockwerke sein heutiges Aussehen. Zuletzt war der Karzer ab 1897 bis 1913 in der Mansarde des „Alten Kollegienhauses“ am Schloßgarten 3, heute Geologisches Institut, untergebracht. 1913 schaffte die Universität die Karzerstrafe ab.
Freiberg
Der historische Arrestraum für Studenten der Bergakademie Freiberg in Freiberg (Sachsen), im historischen Gebäude Akademiestraße 6 zu besichtigen, ist der einzig erhaltene Karzer an einer deutschen Technischen Hochschule bzw. Technischen Universität. Er wurde um die Mitte des 19. Jahrhunderts benutzt und dokumentiert mit seinen zahlreichen Wandmalereien und Inschriften studentisches Alltagsleben dieser Zeit.
Literatur: Albrecht, Helmuth; Fuchsloch, Norman; Richter, Siegfried: Gaudeamus igitur? Streiflichter aus dem Freiberger Studentenleben 1766 bis 1990. Ausstellung des Historischen Kabinetts der TU Bergakademie Freiberg vom 20. Oktober 1998 bis 30. Juni 1999. Freiberg.
Freiburg im Breisgau
Karzer der Albert-Ludwigs-Universität
Gießen
Zwei Jahre nach Gründung der Universität Gießen wurde 1609 ein eigener Anbau neben dem Hauptportal des der Universität geschenkten Zeughauses am Brandplatz errichtet. Der noch heute erhaltene Karzerbau gilt als erste Baumaßnahme der Universität und wurde bis 1879 genutzt.
Göttingen
Der Karzer der Georg-August-Universität Göttingen wurde im 19. Jahrhundert wegen der Erweiterung der Universitätsbibliothek unter das Dach der Aula am Wilhelmsplatz verlegt, samt einer Zellentür des alten Karzers und dem darauf befindlichen Graffito Bismarcks, die sich inzwischen allerdings in Bismarcks letzter Göttinger Studentenwohnung, dem Bismarckhäuschen, befindet.
In den 1820er Jahren, als sich Heinrich Heine in Göttingen aufhielt, war ein Pedell namens Brühbach für den Betrieb des Karzers zuständig, der sich aber offensichtlich keines großes Respekts seitens der Studenten erfreute. So berichtet Heine in seiner Harzreise von folgender Begebenheit:
- Nachdem ich meinen Magen etwas beschwichtigt hatte, bemerkte ich in derselben Wirtsstube einen Herrn mit zwei Damen, die im Begriff waren abzureisen. Dieser Herr war ganz grün gekleidet, trug sogar eine grüne Brille... Der Grüne wünschte, daß ich ihm ein Hotel in Göttingen empfehlen möchte, und ich riet ihm, dort von dem ersten besten Studenten das Hotel de Brühbach zu erfragen. ... Beide Damen fragten mich zu gleicher Zeit: ob im Hotel de Brühbach auch ordentliche Leute logierten. Ich bejahte es mit gutem Gewissen, und als das holde Kleeblatt abfuhr, grüßte ich nochmals zum Fenster hinaus. Der Sonnenwirt lächelte gar schlau und mochte wohl wissen, daß der Karzer von den Studenten in Göttingen Hotel de Brühbach genannt wird.
- (Heinrich Heine, Reisebilder, Erster Teil:Die Harzreise, 1824)
Greifswald
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
Heidelberg
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg: Heidelberger Karzer
Mark Twain berichtet in seiner Reisebeschreibung Bummel durch Europa auch über den Heidelberger Karzer.
Jena
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Marburg
Philipps-Universität Marburg Der heute noch im Obergeschoss der sog. „Alten Universität“ existierende Karzerraum hat für die eigentliche akademische Gerichtsbarkeit keine Bedeutung mehr erlangt. Das Gebäude wurde erst 1879 fertiggestellt. Zu diesem Zeitpunkt war bereits das Gerichtsverfassungsgesetz vom 1. Oktober 1879 in Kraft getreten und damit die Gerichtsbarkeit zur ausschließlichen Zuständigkeit des Staates erklärt worden. Der heutige Marburger Karzer fand somit nur bei Disziplinarstrafen Verwendung. In diesem Sinne saßen hier zwischen 1879 und 1931 383 (ca. 230 nach Bickert/Nail 1995) Studenten ein. Die Insassen hinterließen ihre Spuren nicht nur durch Wanddekorationen, mit denen sie vor allem die Zugehörigkeit zu verschiedenen studentischen Verbindungen manifestierten, sondern auch in Gästebüchern, die heute noch im Hessischen Staatsarchiv in Marburg einsehbar sind. Aus diesen Quellen wissen wir auch, dass es vor 1879 mehrere Vorgänger des heute noch existierenden Karzers gegeben hat, z.B. vorübergehend in der oberen Etage des sogenannten „Reithauses“ (Ecke Barfüßerstr./Am Plan) und zuvor vier Räume mit den Namen „Sanssouci“, „Avecsouci“, „Friedrichsruhe“ und „Bellevue“ in dem ehemaligen Dominikanerkloster, das ab 1872 dem Universitätsneubau, der heutigen „Alten Universität“, weichen musste. Die Philipps-Universität Marburg, gegründet 1527, erhielt mit dem Freiheitsbrief des Landgrafen Philipp des Großmütigen von 1529 die einfache Gerichtsbarkeit verliehen, während der Landesherr sich die höhere Gerichtsbarkeit selbst vorbehielt. Die Übergänge waren fließend und boten Raum für zahlreiche Auseinandersetzungen.
Literatur
- Peter Woeste, Akademische Väter als Richter, Zur Geschichte der akademischen Gerichtsbarkeit der Philipps-Universität, Marburg 1987, ISBN 3-923820-17-8
Tübingen
In Tübingen ist der älteste bis heute erhaltene akademische Karzer zu besichtigen, welcher von 1515 bis 1845 "in Betrieb" war.
Außerhalb Deutschlands
Tartu (Dorpat)
Tartu Ülikool in Estland: Der (geräumige) Karzer, im Dachboden des Universitätshauptgebäudes gelegen, wurde durch einen Brand in den 1960er Jahren beschädigt. Die anschließende Restaurierung noch zu Sowjetzeiten hat nicht jedes zerstörte „Wandgemälde“ bzw. jede alte Inschrift retten können. Der Karzer kann besichtigt werden.
Riga
Die Universität Lettlands in Riga: Die aus dem 1862 gegründeten Rigaer Polytechnikum (mit deutscher Unterrichtssprache) hervorgegangene Technische Universität Riga besaß nach dem Vorbild deutscher Universitäten und der baltischen Nachbaruniversität Dorpat (Tartu) einen Karzer, der heutzutage als Museumsraum erhalten ist und besichtigt werden kann.
Schulkarzer
Prenzlau
In der Oberschule „Carl-Friedrich-Grabow“ im Haus „A“ existiert noch ein Karzer.
Schülerinnen und Schüler können sich dort aufhalten, wenn sie Freistunden haben oder aus gesundheitlichen Gründen abgeholt werden müssen. Ebenso, wenn sie durch Verspätungen nicht mehr in den Unterricht hereingelassen werden.
Literatur
- Tilmann Bechert: Der Heidelberger Studentenkarzer. Heidelberg 1995.
- Carsten Bernoth: Bonner Karzergeschichte(n) 1818-1899. Betrachtungen zur akademischen Gerichtsbarkeit in Bonn im 19. Jahrhundert. In: Bonner Geschichtsblätter 53/54 (2004), 327-345.
- Hans Günther Bickert; Norbert Nail: Marburger Karzer-Buch. 15 Kapitel zum Universitätsgefängnis und zum historischen deutschen Studententum. 2., verbesserte und erweiterte Aufl. Marburg 1995 [1. Aufl. 1989]. ISBN 3-89616-049-4 [vergriffen].
- Ernst Eckstein: Der Besuch im Karzer. Humoreske. Kelkheim 2001. ISBN 3-922272-69-X [Gymnasium].
- Gert Hahne: Sozialhistorische Hintergründe des Göttinger Universitätsgefängnisses: Der Karzer und seine korporierten Insassen. Diss. Göttingen 2001, 279 S., 2002
- Cornelia Junge: "Ein Tisch, gezimmert aus dem Holz der Arche Noah". Studien zum Karzer der Leipziger Universität. In: Universität Leipzig 3/2000, 46-49. ISSN 0947-1049
- Norbert Nail: Der Marburger Universitätskarzer. In Thomas Joachim Bach (Hg.): Festschrift anläßlich der 110. Cartellversammlung 6. bis 9. Juni 1996 des Cartellverbandes der katholischen deutschen Studentenverbindungen (1996), Gießen und Marburg, 50-56.
- Eckhard Oberdörfer; Horst-Diether Schroeder: Ein fideles Gefängnis. Greifswalder Karzergeschichten in Wort und Bild. Mit 70 Abbildungen, davon 20 in Farbe. Schernfeld 1991. ISBN 3-923621-73-6
- Eckhard Oberdörfer: Der Heidelberger Karzer. Köln 2005. ISBN 3-89498-132-6
- Volker Wahl: Aus der Geschichte des Jenaer Universitätskarzers. In: Jena soll leben. Beiträge zum historischen Studentenleben an der Universität Jena. Jena 1991 (Jenaer Reden und Schriften), 57-85. ISBN 3-86-007-057-6
- Alma Mater Tartuensis (1632-1982) (1982). Zusammengestellt von Tullio Ilomets und Hillar Palamets. Tallinn: Kirjastus "Eesti Raamat". [S. 96, alter Karzer-Zustand].
- Tartu Ülikool (1999). Tartu: Kirjastus "Ilmamaa". ISBN 9985-878-69-8 [S. 23, neuer Karzer-Zustand].
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