Kodikologe

Kodikologe

Kodikologie (von lat. codex), dt. auch Handschriftenkunde, eine historische Hilfswissenschaft, ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem handgeschriebenen Buch. Sie ist also zeitlich begrenzt auf die Spätantike und das Mittelalter, also vorwiegend die Zeit 500-1500. Ihr schließt sich die Inkunabelkunde an. Anliegen der Kodikologie sind Fragen zur Beschaffenheit und zum Entstehungsprozess eines mittelalterlichen Codex. Dabei werden besonders die handwerklich-technischen Aspekte der Anfertigung, wie z. B. die Frage nach den Beschreibstoffen (Papyrus, Pergament, Papier), Tinte und Schreibgeräte, Lage, Einband, Buchschmuck oder Provenienz, ins Auge gefasst. Das Buch wird also wie ein archäologisches Artefakt behandelt und als Teil primärer Sachüberlieferung betrachtet, indem man es zeitlich erfasst und genau beschreibt. Die Kodikologie ist eng verwandt mit der Paläographie.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte der Kodikologie

Im 19. Jahrhundert war die Handschriftenkunde, neben der Bibliotheksgeschichte, der Inkunabelkunde und der Bibliographienkunde, ein zentraler Bestandteil der Bibliothekswissenschaft. Der Begriff „Kodikologie“ kam allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich und Belgien auf. Er wurde als Erstes von dem Pariser Gräzisten Alphonse Dain zwischen 1944 und 1949 gebraucht und löste so den von Charles Samaran, einem Pariser Paläographen, geprägten Begriff „Codicographie“ ab. Dain verstand die Erforschung der Geschichte der Handschriften und ihrer Sammlung, die Untersuchung ihrer Beschaffenheit und ihre Katalogisierung als Aufgabe der Kodikologie. Die Schrift schloss auch er aus, da es bereits die Paläographie gab. Auch wurde sie nur als Hilfsmittel der Philologie angesehen. Dies änderte sich 1950, denn der belgische Handschriftenbibliothekar und Redakteur der Zeitschrift „Scriptorium“, François Masai, sprach sich für eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin aus. Zusammen mit dem Kunsthistoriker Léon M. J. Delaissé formte der eine Beschreibung der Kodikologie als „Archäologie des Buches“, deren konkretes Objekt das Buch und seine technischen Aspekte sind, deren Ergebnisse von den historischen Disziplinen genutzt werden können. Heute wird sie hauptsächlich von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Bibliotheken mit großen Handschriftenbeständen betrieben, aus deren Arbeit eine umfangreiche Katalogisierung mittelalterlicher Handschriften entstand.

Methoden

Für die Erforschung und genaue Beschreibung eines Kodex werden verschiedene wissenschaftliche Disziplinen herangezogen. Philologie und Historik dienen vor allem der zeitlichen und sprachlichen Einordnung eines Textes. Man verwendet aber auch statistische Daten, um Stammbäume, sogenannte Stemmata, für die einzelnen Texte zu erstellen. Hierbei werden die zeitliche und regionale Ausbreitung von Schrift- und Schmuckformen einbezogen. Auf diese Weise kann man Texte, die in mehreren Codices vorkommen, in eine zeitliche Reihenfolge setzen.

Es geht hierbei darum individuelle Eigenheiten der einzelnen Handschriften zu finden, welche man beim Format des einzelnen Bandes, dem Einband, dem Beschreibstoff, der Blatt- und Lagenfolge, sogar bei der Linierung und auch der Gestaltung des Schriftspiegels erkennen kann. Besitzvermerke sind ebenso ein wichtiges Merkmal für die Überlieferungsgeschichte. Auch Marginalien, wie zum Beispiel die sogenannten Griffelglossen, geraten zunehmend ins Blickfeld der Mediävistik. Zudem reihen sich die vor allem in der Kunstgeschichte genutzten Wasserzeichen- und die Einbandkunden an, mit deren Hilfe das Alter eines Buches auf etwa fünf Jahre genau eingegrenzt werden kann.

Die Chemie spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Analysen des Beschreibstoffes (Pergament oder Papier) und der Tinte und der für die in der Buchmalerei verwendeten Farben, für die es einige hundert Rezepte gab, lassen häufig Schlüsse auf das Alter der jeweiligen Handschrift zu. Bestimmte Techniken oder Farb- und Tintenrezepte wurden nur in bestimmten Regionen verwendet, was Hinweise auf den Herkunftsort geben kann. Diese Rezepte und Techniken waren in Werkstattbüchern festgehalten und wurden von Generation zu Generation weiter gegeben. Jedoch kann man anhand von erhaltenen Exemplaren dieser Regelwerke feststellen, dass viele auf wenige griechische und lateinische Werke zurückgehen und so sind wirkliche Individualrezepte eher selten.

Wichtige Sammlungen

Es gibt inzwischen einige sehr gute Online-Datenbanken, in denen nach mittelalterlichen Handschriften recherchiert werden kann – sowohl im deutschsprachigen als auch im angloamerikanischen Raum.

  • Die Codices Electronici Ecclesiae Coloniensis der Universität Köln weisen etwa 500 Handschriften vorwiegend aus dem deutschsprachigen Raum nach, die mit Fotos aufgeführt sind.
  • Das 'Marburger Repertorium deutschsprachiger Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts' der Philipps-Universität Marburg verzeichnet in Form eines beschreibenden Katalogs deutschsprachige Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts (ausgenommen Einzelurkunden und Minimaleinträge in lateinischen Handschriften).
  • Die Codices Electronici Sangallenses erfassen den St. Gallener Handschriftenbestand.
  • Die Abteilung für Sondersammlungen der Universitätsbibliothek Graz besitzt einen Online-Katalog der ihren Bestand von über 2000 Handschriften verzeichnet. Diese sind teilweise bereits mit detaillierten paläographischen Beschreibungen versehen und in digitaler Volltext-Version abrufbar.
  • Außerdem gibt es für Österreich einen Katalog von illuminierten Handschriften des 8. - 13. Jahrhunderts.
  • Die British Library verfügt über mehrere große Sammlungen, z.B. die Harlean Collection, die auch über den Online Katalog auffindbar sind. Hier befinden sich große angelsächsische Werke wie der Beowulf oder der Lindisfarne Gospel (Book of Lindisfarne).
  • Ähnlich groß ist die Sammlung der Bodleian Library in Oxford, deren Katalog sich einfach durchstöbern lässt. Die Werke sind alle in sehr guter Qualität online einsehbar.
  • Die Library of Congress in Washington D.C. hat einen umfangreichen Katalog ihrer Manuskriptsammlungen angelegt.
  • In der Hill Monastic Manuscripts Library in Collegeville/Massachusetts kann man 90.000 Handschriften aus Österreich und Spanien finden.

Literatur

  • Christine Jakobi-Mirwald: Das mittelalterliche Buch. Funktion und Ausstattung. Phillip Reclam jr., Stuttgart 2004, ISBN 3-15-018315-4
  • Ursula Rautenberg (Hrsg.):Reclams Sachlexikon des Buches.2. verbesserte Auflage.Philipp Reclam jun., Stuttgart 2003, ISBN 3-15-010542-0
  • Severin Corsten (Hrsg.): Lexikon des Gesamten Buchwesens:LGB. Hiersemann, Stuttgart 1995, ISBN 3-7772-8527-7

Weblinks


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужно сделать НИР?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Helmar Härtel — (* 28. Mai 1942 in Breslau) ist ein deutscher Kodikologe und pensionierter Bibliotheksdirektor der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Leben Härtel studierte Geschichte, Latein und Theologie von 1962 bis 1968 an der Universität Göttingen… …   Deutsch Wikipedia

  • Anton von Euw — (* 28. Mai 1934 in Einsiedeln; † 10. November 2009 in Köln) war ein Schweizer Mediävist, apl. Professor für Kunstgeschichte der Universität Köln und bis 1997 Konservator des Museum Schnütgen in Köln. Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2… …   Deutsch Wikipedia

  • Cesare Pasini — (* 3. Februar 1950 in Mailand) ist ein italienischer Geistlicher, Handschriftenforscher und Bibliothekar. Seit 2007 ist er Präfekt der Vatikanischen Bibliothek. Monsignore Pasini ist ein Spezialist für griechische Paläographie und Hagiographie.… …   Deutsch Wikipedia

  • Giovanni Mercati — Giovanni Kardinal Mercati (* 17. Dezember 1866 in Villa Gaida, Italien; † 23. August 1957 in Rom) war ein Gelehrter und Kurienkardinal der römisch katholischen Kirche. Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2 Festschriften 3 …   Deutsch Wikipedia

  • Härtel — oder Haertel ist der Name folgender Personen: Alfons Härtel (1900–1970), deutscher katholischer Geistlicher Gottfried Härtel (* 1925), deutscher Althistoriker Gottfried Christoph Härtel (1763–1827), deutscher Musikverleger, siehe: Breitkopf… …   Deutsch Wikipedia

  • Marco Petta — OSBas (* 15. Januar 1921 in Piana degli Albanesi bei Palermo, Sizilien; † 26. September 2007) war ein römisch katholischer Ordensgeistlicher und Abt von Santa Maria di Grottaferrata. Marco Petta trat dem Mönchsorden der Basilianer bei und empfing …   Deutsch Wikipedia

  • Masai — steht für: eine Ethnie in Ostafrika, siehe Massai einen Nebenfluss des Tafara in Osttimor, siehe Tafara ein Naturschutzgebiet in Kenia, siehe Masai Mara die Bodenkonstruktion einer Fußbekleidung, siehe Masai Barefoot Technology Masai ist der… …   Deutsch Wikipedia

  • Overgaauw — ist der Familienname folgender Personen: Eef Overgaauw (*1958), niederländischer Kodikologe Wim Overgaauw (1929 1995), niederländischer Jazz Gitarrist Diese Seite ist eine Begriffsklärung zur Unterscheidung mehrerer mit demselben …   Deutsch Wikipedia

  • Paul Oskar Kristeller — (* 22. Mai 1905 in Berlin; † 7. Juli 1999 in New York, USA) war ein US amerikanischer Humanismusforscher deutscher Herkunft. Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2 Rezeption 3 Schriften …   Deutsch Wikipedia

  • Wittek — steht für: den Künstlernamen des Comiczeichners Wittek (Comiczeichner) den bürgerlichen Namen des deutschen Schriftstellers Fritz Steuben (1898–1981) den Familiennamen folgender Personen: Carl Wittek (1893 1958), deutscher Kunstmaler Fritz Wittek …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”