Literale Manuskriptkultur

Literale Manuskriptkultur

Der Begriff Literalität (von lateinisch littera – „Buchstabe“) bezeichnet meist das mediengenealogische Entwicklungsstadium der Schriftlichkeit, das gekennzeichnet ist durch eine literale Manuskript- und Inschriften-Kultur, also die handschriftliche Speicherung und Weitergabe von kulturellen Inhalten in textlich fixierter Form (Literatur, Liturgie, Rechtsdokumente, Geschichtsschreibung etc.). Allerdings wird im Zuge der Beschäftigung mit mündlicher Literatur auch allgemeiner die Literaturkompetenz darunter gefasst.

Den terminologischen Gegensatz und den mediengenealogischen Vorläufer bildet die Oralität (Mündlichkeit), den Anschluss das Typographeum bzw. die Gutenberg-Galaxis. Die Epoche der Literalität dauerte bis einschließlich des mittelalterlichen Skriptographeums an.

McLuhan nennt die Literalität auch literale Manuskript- und Inschriftenkultur, sie bedeutete die handschriftliche Speicherung und somit die wortwörtliche Weitergabe von kulturellen Inhalten in textlich fixierter Form. Schreiben, Schrift und Rechnen bilden die Grundlage von Tradition, Kultur und Bildung. Die Literalität bedeutete noch keinen harten Bruch der gesprochenen Rede, da Manuskripte laut vorgelesen wurden, allerdings bedeutete die Literalität eine steigende Dominanz optischer Reize, die eher als andere Sinneswahrnehmungen eine Grundlage für das Erkennen von Regeln und Gesetzmäßigkeiten liefern, was einen Vorschub leistete für kausale Zusammenhänge und mathematisches Denken. Die literale Manuskriptkultur war von Skriptorien gekennzeichnet, wodurch die Informationssammlung sehr zentralistisch war, da sie gebunden war an Bibliotheken und Klöster.

Untersuchungen zur Literalität stammen u.a. von Milman Parry, Eric A. Havelock, Jan Assmann und Walter Jackson Ong sowie Jack Goody und Ian Watt.

Inhaltsverzeichnis

Theorie einer literalen Gesellschaft

Inschrifttafel mit dem Stadtrecht von Gortys

Nach dem Ethnologen Jack Goody hatte die Erfindung der Schrift eine bisher nicht gekannte Auswirkung auf den menschlichen Geist; er spricht in The Domestication of the Savage Mind (1977), wo er die Auswirkungen der grafischen Repräsentation von Sprache auf kognitive Prozesse untersucht, von einer schriftinduzierten "Domestizierung des Geistes":

"Die Niederschrift einiger der wesentlichen Elemente der kulturellen Tradition in Griechenland machte zwei Dinge bewusst: den Unterschied von Vergangenheit und Gegenwart und die inneren Widersprüche in den Bild des Lebens, das dem Individiuum durch die kulturelle Tradition, soweit sie schriftlich aufgezeichnet war, vermittelt wurde. Wir dürfen annehmen, dass diese beiden Wirkungen der allgemein verbreiteten alphabetischen Schrift angedauert und sich – vor allem seit der Erfindung der Buchdruckerkunst – vielfach verstärkt haben" (aus: Jack Goody: The Domestication of the Savage Mind, 1977; zit in [1]).

Havelock weist dagegen bereits in Preface to Plato (1963) und vor allem in Origins of Western Literacy (1976) sowie The Literate Revolution in Greece and its Cultural Consequences (1982) darauf hin, dass nicht die Schrift an sich den entscheidenden Entwicklungsschritt darstellt, sondern vielmehr das Alphabet, und dadurch die Alphabetisierung der Schrift; dies führt ihn dann zu seiner These von der "Geburt der Philosophie aus dem Geiste der Schrift". Das wesentliche Charakteristikum der griechischen Alphabetschrift stellt nach Havelock deren Abstraktheit dar: Sie sei als einzige in der Lage, mündliche Rede unverkürzt, vollständig und fließend wiederzugeben.

Nach Goody und Watt war daher Griechenland "die erste Gesellschaft, die man als ganze mit Recht als literal bezeichnen kann" (Goody/ Watt/ Gough: Entstehung und Folgen der Schriftkultur, 1986, S. 83).

Diese moderne Wertschätzung der Leistungen der griechischen Alphabetschrift mag überraschen, da die gesellschaftliche Bewertung der Schrift und des Schreibens in der griechischen Antike alles andere als positiv war: Platons Verdikte im Phaidros und im Siebten Brief sind ebenso vernichtend wie die des Aristoteles; man betrachtete die Schrift gegenüber der Sprache als etwas Äußerliches und damit von Wahrheit und Tugend noch weiter entferntes als die Sprache. Dennoch ermöglichte die griechische Schriftkultur beispielsweise in der Zeit um 500 v. Chr. bis 450 v. Chr. in Gortys das älteste Stadtrecht Europas.

Diskos von Phaistós, Seite A (Original)

Umstritten ist dagegen die Einschätzung des bisher nicht entzifferten Diskos von Phaistós aus der kretominoischen Kultur, der auf das 17. Jahrhundert v. Chr. datiert wird, also aus einer Epoche stammt, die fast ein Jahrtausend vor der Entwicklung der griechischen Schrift liegt.

Jack Goody untersucht in Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft (1990; engl. Ausg. The Logic of Writing, 1986) die "langfristigen Wirkungen der Schrift auf die Organisation von Gesellschaft" (a.a.O., S. 17):

"Die Vergangenheit des Vergangenen hängt also von einem historischen Empfindungsvermögen ab, das sich ohne dauerhafte schriftliche Aufzeichnungen kaum zu entwickeln vermag. Eine Schrift aber bewirkt ihrerseits Veränderungen in der Überlieferung anderer Elemente des kulturellen Erbes. Das Ausmaß dieser Veränderungen hängt von der Natur und der sozialen Verbreitung der Schrift ab, das heißt, von der Leistungsfähigkeit der Schrift als Verständigungsmittel und von den sozialen Beschränkungen, denen sie unterliegt, also dem Grad, in welchem der Gebrauch der Schrift in der Gesellschaft verbreitet ist".

Geschichte der Schriftlichkeit

Das Mittelalter

Das christliche Mittelalter war eine mündlich geprägte Welt. Die Schrift wurde als eine Fortführung der Sprache verstanden, deshalb konnte Literalität nicht ohne Oralität existieren.

Die Schrift

Obwohl das mittelalterliche Abendland vorwiegend eine orale Welt war, sind die erhaltenen Quellen – mit denen Mediävisten heute arbeiten – schriftlicher Natur. Die teils kopierten, teils originalen Schriftstücke stammen in den meisten Fällen aus der Schicht des Klerus, also nur von einem kleinen Teil der mittelalterlichen Gesellschaft. Religiöse Werke und Rechtstexte wurden lange nicht verschriftlicht, weil das Heilige nicht durch weltliche Gewohnheiten entweiht werden sollte. Dennoch setzte sich die Schrift durch und galt aus der Sicht des Klerus bald als etwas Privilegiertes. Die Mönche betrachteten ihre Schrift- und Kopierarbeiten als Gottesdienst und deshalb sollte die Schriftkompetenz auch nur Ihnen zustehen. Erst im Spätmittelalter veränderte sich diese einseitige Entwicklung: Die Schrift wurde pragmatisch und zum Alltagsgut. Im 13. Jahrhundert wurde die Technik der Schrift beispielsweise genutzt, um ein einheitliches rechtliches System aufzuzeichnen. Das Gewohnheitsrecht eines bestimmten Gebietes wurde dabei in volkstümlicher Sprache aufgezeichnet. Eike von Repgow verfasste den Sachsenspiegel, eine der bekannteren frühen mittelalterlichen Rechtsschriften.

Die vorherrschende Schriftsprache des Mittelalters war Latein. Erst im Spätmittelalter wurde die „lebende Sprache“ schrift- und buchfähig. Laien wurden lesefähig und lesewillig und schrieben selbst in ihrer Muttersprache, auch wenn Kaufmannsbücher, Handelsakten, Urkunden und Stadtchroniken noch bis gegen Ende des 14. Jahrhunderts überwiegend lateinisch geschrieben wurden. Laien- und Lohnschreiber, die in Zünften organisiert waren, machten dem „klösterlichen Buchmarkt“ harte Konkurrenz. Die entstandenen Werke waren immer mehr für Laien bestimmt. Innerhalb der Universitäten blieb jedoch Latein die Wissenschaftssprache des Abendlandes. Abschlussarbeiten mussten sogar bis ins 18. Jahrhundert lateinisch verfasst werden.

Das Buch

Das Schreibmedium Buch tendierte unübersehbar vom binnensystemspezifischen Kult- und Herrschaftsmedium, wie noch zu Anfang des Mittelalters, hin zum systemübergreifenden weltlichen Kultur- und Bildungsmedium für alle. Zu Beginn des Mittelalters waren Bücher lediglich Speichermedien und dienten vor allem als Gedächtnisstütze. Mündlich tradierte Geschichten wurden schriftlich festgehalten und bereits bestehende Bücher wurden kopiert bzw. transkribiert. Die entstandenen Werke wurden in weiterer Folge gelesen und auswendig gelernt, aber nicht interpretiert. Das Buch hatte also vor allem einen rituellen Charakter und nur innerhalb des sakralen Raums war es von Bedeutung; daher können Bücher im Mittelalter nicht als kulturell relevante Kommunikationsmedien aufgefasst werden.

Mit den Gründungen der Bettelorden und Universitäten wurde das Buch vom Kultgegenstand zum Arbeitsgerät „degradiert“. Es wurde zum Träger der neuen Bildung, vom zentralen konservierenden Speichern zum instrumentellen Wissensbestand und diente als individuelles alltägliches Arbeitsmittel. Nicht mehr ausschließlich Mönche, Nonnen oder Kleriker waren Leser und Nutzer, sondern verstärkt Professoren und Studenten. Später kamen Adelige und schließlich sogar Bürgerliche hinzu. Das Buch im Rahmen einer großen Bibliothek sollte zur allgemein zugänglichen Wissensquelle für „jedermann“ werden.

Schließlich kam es zum Medienwechsel und die ersten Wiegendrucke erschienen. Der Buchdruck wurde in weiterer Folge zum Leitmedium. Einige Wissenschaftler sehen den Erfolg des Buchdrucks maßgeblich für den epochalen Wechsel zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit.

Die Bibliothek

Schon in der spätkarolingischen Zeit wurde der Bibliotheksverkehr „international“. Im Laufe der Jahrhunderte begann ein lebhafter Kopier- und Tauschverkehr zwischen einzelnen Klöstern. Von den sechs Lüneburger Benediktinerklöstern aus dem 12. Jahrhundert ist beispielsweise bekannt, dass Bücher zum Abschreiben untereinander ausgetauscht wurden. Erst im Zuge der Entwicklung der Städte im Hochmittelalter, in Verbindung mit den Kathedralen, wurden auch die kirchlichen Bibliotheken für die Verbreitung des Mediums Buch wieder relevant. Eine Pfarrbibliothek auf dem Lande hatte bestenfalls 20 bis 30 Bücher, wurde aber gelegentlich durch Schenkungen oder Stiftungen erweitert. Die Zahlen schwanken sehr und sind oft nicht verlässlich. Die Dombibliothek in Köln beispielsweise soll im Jahr 833 immerhin 115 Werke in 175 Bänden enthalten haben, die Kathedrale in Durham im 12. Jahrhundert 241 Bücher, die Kathedrale von Rochester im Jahr 1202 ebenfalls 241 Bücher, die Christ Church Canterbury sogar rund 1300. Die Bibliothek des Bonifatius (Abtei Fulda) bestand um 747 aus 40 bis 50 Bänden und bildete eine Art Grundstock deutscher Klosterbibliotheken. Diese zählten selten mehr als 100 Bücher. Dass beispielsweise im bayrischen Kloster Niederalteich der Bibliotheksbestand in den Jahren 821 und 822 bereits 415 Bände umfasste, war eine von wenigen Ausnahmen. Eine sehr gut ausgestattete Klosterbibliothek konnte später allerdings zwischen 500 und 600 Bände aufweisen. Als größte Klosterbibliothek des Hochmittelalters gilt St. Gallen. Sie soll im 12. Jahrhundert rund 1000 Bände enthalten haben.

Der erste ausführliche Bibliothekskatalog stammt aus Reichenau um das Jahr 821. Nach diesem Katalog umfasst die Bibliothek damals über 400 Bände, die nach Autoren oder inhaltlichen Gruppen registriert sind. Neben der geistlichen Literatur (Bibelwerke, Patristik, Kirchenschriftsteller, Liturgie, Scholastiktexte), waren auch heidnische Autoren vertreten (Klassiker der Antike wie Ovid, Caesar, Vergil etc.). Zudem gab es dort noch Schulbücher (speziell zu den Septem Artes Liberales) und speziellere Literatur (etwa zur Jurisprudenz, zur Medizin oder zum Gartenbau).

In anderen Katalogen waren auch Enzyklopädien zu finden. Im Mittelalter entstandene wurden inhaltlich gruppiert nach den Septem Artes Liberales. Die einzige alphabetisch geordnete Enzyklopädie im Mittelalter ist in Byzanz zu finden (Suda).

Hrabanus Maurus überbringt dem Erzbischof von Mainz ein kopiertes Buch

Das Skriptorium

Der entscheidende Multiplikationsmechanismus für das Schreibmedium Buch war das mittelalterliche Skriptorium. Geoffroy von Sainte-Barbe-en-Auge formulierte um 1170 dazu sehr passend: „Claustrum sine armario est quasi castrum sine armamentario“ (ein Kloster ohne Schreibkammer ist wie eine Burg ohne Waffenkammer). Die Kopisten in den Skriptorien mussten nicht unbedingt lesen können, oder überhaupt des Lateinischen mächtig sein. Es genügte ein imitierendes Abmalen der Buchstaben. Im Durchschnitt schrieb ein Mönch pro Buch ein Jahr lang. Als Schreibmaterial wurde der Papyrus vom widerstandsfähigeren Pergament abgelöst. Das Material wurde teilweise im Eigenbetrieb der Klöster hergestellt: Pergament wurde aus Tierhäuten gefertigt. Benötigt wurden zudem Schreibgeräte (Vogelfeder, Bimsstein, Holztäfelchen, Wachs etc.) und Tinte. Die Rohmaterialien, die Mönche im Zuge der Buchherstellung benötigten, waren sehr teuer. Deshalb wurden viele Texte mit einem Bimsstein abgekratzt und neu überschrieben. Das neu entstandene Buch wird Palimpsest genannt. Bücher wurden in den Skriptorien auch gebunden. Oft wurden auch mehrere Werke zu einem zusammengebunden, wenn sie sich thematisch ergänzten.

Wichtige Ereignisse

Nach dem Untergang des römischen Imperiums drohte auch das geistige Erbe des Abendlandes unterzugehen. Lese- und Schreibkompetenzen gingen zurück und der Analphabetismus breitete sich in ganz Europa aus. Die Schrift war durch das Aufkommen des Feudalismus und durch die Rückentwicklung zum Gewohnheitsrechts kein notwendiges Gut mehr. Es gab jedoch drei Entwicklungsstufen im Frühmittelalter, die einer totalen oralen Welt entgegenwirkten: Benedikt von Nursia gilt als der Begründer des christlichen Mönchtums, deren Protagonisten die Hauptträger des mittelalterlichen Wissens waren. Zudem verfügte Benedikt, dass jedes Kloster seine eigene Bibliothek besitzen soll. 554 gründete Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus das Kloster Vivarium und erweckte das erste Skriptorium zum Leben. In dieser Schreibstube wurden nicht nur christliche, sondern auch heidnische bzw. weltliche Handschriften abgeschrieben. Nur so konnte die antike Literatur überleben und tradiert werden. Der dritte große Schritt war das karolingische Bildungsprogramm – auch als Karolingische Renaissance bezeichnet – unter der Führung Karl d. Großen. Er verfügte 789 in seiner „Admonitio generalis“ u.a., dass jedes Kloster neben einer Bibliothek auch eine Schule besitzen sollte. Es ist vor allem diesen Personen zu verdanken, dass das kulturelle Erbe der Antike in Westeuropa erhalten blieb.

Als wegweisend für die heutigen Formen der Wissenschaft gilt das Aufkommen der Universitäten im Spätmittelalter. Das aufstrebende Paris ging 1150 als Vorbild voran und es folgten zahlreiche Neugründungen. Zwischen 1030 und 1500 gab es über 70 Universitätsgründungen. Die Bildungsgrundlage für alle mittelalterlichen Universitäten waren die Septem Artes Liberales. Für die Ausübung jeder Wissenschaft und auch für das Verstehen und Interpretieren jedes wissenschaftlichen Textes waren Lese- und Schreibfähigkeiten unerlässlich.

Träger der Schrift

Obwohl in dieser Epoche der Anteil der Schriftträger im Verhältnis zum Laientum verschwindend klein war, zeigt die steigende Anzahl der Quellen vom Früh- bis zum Spätmittelalter eine ständige Zunahme der Schriftlichkeit. Neben Mönchen wurden kontinuierlich auch Adelige und Bürgerliche zu Trägern der Schrift.

Klerus

Literaten waren im allgemeinen die Männer der Kirche und des Klosters, denen auch das ganze Schreibwerk der Kanzleien von den Fürsten übertragen und überlassen wurde. Der Großteil mittelalterlicher Literaten waren Mönche. Die meisten von ihnen hatten jedoch nur ein Mindestmaß an Schreib- und Lateinkenntnissen. In der frühen Mönchsregel des Pachomius heißt es: „Omnis qui nomen vult monachi vindicare, litteras ei ignorare non liceat“ (wer als Mönch gelten will, darf kein Analphabet sein). In Wahrheit waren aber selbst unter den Mönchen massenweise Analphabeten zu finden.

Das Kanonische Recht besagt: Wer ein Illiterat sei, sollte kein Kleriker werden. Doch was versteht man unter Illiterat in dieser Zeit? 1291 konnte im Kloster Murbach in Elsass kein einziger Mönch schreiben. In Schwarzwald konnte um 1313 nicht einmal der Abt schreiben. Selbst in Monte Cassino konnten von den 30 Angehörigen Mönchen 6 nicht schreiben. Auch bei den mittelalterlichen Bischöfen ist mittlerweile bekannt, dass viele schreibunkundig waren. Also wurde unter Illiteralität nur die Leseunfähigkeit verstanden. Zwischen lesen- und schreiben lernen wurde ein sehr starker Unterschied gemacht. Ab dem 14. Jahrhundert wurden schließlich immer mehr Kleriker der Schrift mächtig.

Adel

Die Laien bis zum höchsten Adel waren zumeist Illiteraten bzw. Idiotae (unwissende Menschen). Lese- und Schreibkompetenzen waren selbst unter den einflussreichsten Persönlichkeiten des frühen Mittelalters nicht sehr weit verbreitet. Ausnahmen bildeten Herrscher, die zuerst eine geistliche Karriere einschlugen, bevor sie unerwartet die Königskrone übernehmen mussten. Adelsfamilien hatten zwar eigene schriftliche Traditionen und Bildungsformen, aber sie waren nur ausnahmsweise lesefähig; am ehesten noch die adeligen Frauen.

Die meisten mittelalterlichen Herrscher, selbst Könige und Kaiser, konnten also weder lesen noch schreiben. Ebenfalls wenige beherrschten Latein oder gar richtige Grammatik, auf Grund der Vielzahl von Dialekten, die die Völkerwanderung mit sich brachte. Theoderich der Große hatte beispielsweise nicht einmal eine eigenhändige Unterschrift. In der weströmischen Antike war das selbstständige Unterschreiben noch verbreitet; im Mittelalter hingegen benötigten die Laien Hilfswerkzeug. Theoderich verwendete eine Schablone mit dem Inhalt „legi“ (ich habe gelesen). Der Hausmeier [[Karlmann (Karolinger) |Karlmann]] unterzeichnete seine Urkunden mit einem Kreuz, sein Bruder Pippin mit einem Vollziehungsstrich. Die allgemeine Notlösung wurde bald das Siegel. Es wurde zum Ausdruck einer Schriftunkundigen Zeit.

Urkunde mit Unterschrift von Ludwig dem Deutschen

Dennoch sind im Frühmittelalter Herrscher zu finden, die sich weiterbildeten: Der Merowinger Childerich III. notierte verschiedene Dialekte und versuchte neue Lautzeichen in seiner Sprache einzuführen. Karl der Große konnte zwar nicht lesen und schreiben, er war aber dem Latein mächtig. Sein Sohn Ludwig der Fromme konnte unterschreiben. Von dessen Nachfolger wiederum (Ludwig der Deutsche) ist eine Unterschrift erhalten (siehe rechts). Die Ottonen konnten zumindest lesen. Heinrich II. war einer der ersten Könige, der lesen und schreiben konnte. Friedrich Barbarossa hat erst im fortgeschrittenem Alter lesen gelernt. Sein Nachfolger Friedrich II. förderte die Wissenschaft und war selbst sehr lesekundig. Er lebte in Sizilien, an der Schnittstelle zwischen christlicher und islamischer Kultur. Nach ihm gab es wieder eine schriftlose Periode für das Kaiser- und Königtum. Erst durch Karl IV. besserte sich die Situation wieder. Der römisch-deutsche Kaiser war ein gebildeter Herrscher und genoss seine Ausbildung in Paris. Er verfasste zudem selbst eine Autobiografie. Friedrich III. führte sogar ein eigenes Notizbuch. Sein Sohn Maximilian I. – schrieb auch eine Autobiografie – gab an, dass er aus eigenem Antrieb lesen und schreiben gelernt hatte.

In der folgenden Neuzeit wurde es für den Adel selbstverständlich schreiben und lesen zu können.

Ritterstand

In Verbindung mit mittelalterlicher Geschichte war schon immer der Mythos des dichtenden Ritters vorhanden. Doch waren einzelne Ritter auch wirklich schriftkundig? Ulrich von Lichtenstein konnte jedenfalls nicht lesen. Es ist überliefert, dass er einen Brief seiner Geliebten 10 Tage mit sich trug, ohne dessen Inhalt zu kennen, da kein lesekundiger Schreiber in seiner Umgebung war. Die Ikonen Wolfram von Eschenbach und Oswald von Wolkenstein konnten beide weder lesen noch schreiben. Zumindest Hartmann von Aue und Gottfried von Straßburg bildeten die Ausnahme: beide konnten lesen. Literale Kompetenzen waren nicht wichtig für den Ritterstand. Das Schreiben war eher eine verachtende Tätigkeit, die der Ritter delegierte. Die Vorstellung eines schreibenden Ritters bleibt also nur ein Mythos.

Frauen

Junge Mädchen wurden von ihren Familien gern zur Ausbildung ins Kloster geschickt, daher gab es auch sehr viele schriftkundige Frauen im Mittelalter. Unter den Adelsgeschlechtern waren sie wahrscheinlich gebildeter als die Männer, weil sie einfach mehr Zeit für Bildung hatten. Einflussreich waren jedoch nur wenige. Eine Ausnahme war z. B. Christine de Pizan. Sie hatte mit ihren Büchern sogar wirtschaftlichen Erfolg.

Juden

In der Regel sind jüdische Urkunden unterschrieben. Selbst die einfachsten Juden konnten hebräisch lesen und schreiben.

Siehe auch

Literatur

  • Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (4. Aufl.). München: C. H. Beck 2002. ISBN 3-406-42107-5 (Erstausgabe: 1992)
  • Werner Faulstich: Die Geschichte der Medien Band 2. Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter 800-1400. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1996. ISBN 3-525-20786-7
  • Jack Goody: Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. ISBN 3-518-58061-2 (engl. Ausg.: The Logic of Writing and the Organization of Society. Cambridge 1986)
  • Johannes Grabmayer: Die Siebenzahl ist der Schlüssel zur Welt. Über das abendländische Wissen um das Jahr 1000. In: Konrad Spindler (Hrsg.): Mensch und Natur im mittelalterlichen Europa. Klagenfurt: Wieser-Verlag 1998. ISBN 3851292685
  • Eric H. Havelock: The Muse learns to write: Reflections on Orality and Literacy from Antiquity to the Present. Yale: Yale University Press 1988.
  • H. Günther und O. Ludwig (Hrsg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. Berlin 1994
  • Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Dresden/Basel 1964
  • D. R. Olson und N. Torrance (Hrsg.): Orality and Literacy. Cambridge 1991.
  • Walter J. Ong: Orality and Literacy. The Technologizing of the Word. 1982 (dt. Ausg. Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987)
  • Karl-Heinz Spieß (Hrsg.): Medien der Kommunikation im Mittelalter. Beiträge zur Kommunikationsgeschichte Band 15. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003
  • Peter Stein: Schriftkultur : eine Geschichte des Schreibens und Lesens. Darmstadt: Primus Verlag 2006. ISBN 3896785648 (auch Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006)

Weblinks


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