Locarno-Pakt

Locarno-Pakt

Die Verträge von Locarno sind sieben völkerrechtliche Vereinbarungen, die in Locarno, Schweiz, vom 5. bis 16. Oktober 1925 verhandelt und am 1. Dezember 1925 in London unterzeichnet wurden. Sie traten am 10. September 1926 mit der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund in Kraft. Wenn manchmal in der Einzahl vom Vertrag von Locarno die Rede ist, dann ist damit das Schlussprotokoll der Konferenz gemeint, das auf die einzelnen Abkommen im Anhang Bezug nimmt.

Gustav Stresemann, Austen Chamberlain und Aristide Briand während der Verhandlungen

Inhaltsverzeichnis

Teilnehmer

Das Gebäude in Locarno, in dem die Verträge abgeschlossen wurden

Beteiligt waren an der Konferenz von Locarno der deutsche Reichskanzler Hans Luther, der deutsche Außenminister Gustav Stresemann, sowie die Vertreter Italiens (für kurze Zeit Benito Mussolini), Großbritanniens (Austen Chamberlain), Belgiens (Émile Vandervelde), Frankreichs (Aristide Briand), Polens (Aleksander Skrzyński) und der Tschechoslowakei (Edvard Beneš). Die Vertreter der beiden letztgenannten Staaten nahmen nur an den sie unmittelbar betreffenden Verhandlungen teil.

Einen Vorsitzenden der Konferenz gab es nicht.

Inhalt

Das in Locarno unterzeichnete Schlussprotokoll umfasste einen so genannten Garantiepakt zwischen dem Deutschen Reich, Frankreich sowie Belgien. Deutschland erkannte damit die im Versailler Vertrag festgelegte Westgrenze an, die von Großbritannien und Italien garantiert wurde: Bei einem Angriff Deutschlands auf Belgien oder Frankreich (wie 1914) oder aber einem Einmarsch belgischer oder französischer Truppen in Deutschland (wie 1923) würden die Garantiemächte militärisch auf Seiten des Angegriffenen eingreifen.

Auch im Falle einer Verletzung des Vertrages sollten die Garantiemächte eingreifen. Ebenso wurde in einem Schiedsabkommen zwischen Deutschland, Frankreich und Belgien vereinbart, dass Differenzen an den Völkerbund bzw. an internationale Gerichte verwiesen werden.

Deutschland schloss außerdem Schiedsverträge mit Polen und der Tschechoslowakei. In gesonderten Verträgen mit diesen beiden Staaten sicherte Frankreich ihnen Unterstützung bei einem Angriff (Deutschlands) zu, nicht aber Großbritannien, das nur die Westgrenzen garantierte. Deutschland hielt also sich eine Änderung der Ostgrenzen auf nichtmilitärischem Wege offen.

Vorbereitet wurde auch der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund, das allerdings eine Sonderregelung bezüglich des Artikels 16 des Versailler Vertrags erhielt. Dieser Artikel sah Maßnahmen gegen einen Angreiferstaat vor. Deutschland müsse sich daran nur beteiligen, soweit seine geografische und militärische Lage dies zulasse (die deutsche Armee war durch den Versailler Vertrag auf 100.000 Mann begrenzt). Diese Regelung wurde vor allem als Nachteil für Polen angesehen, denn bei einem sowjetischen Angriff hätten die Truppen der Westmächte ihm schwer beistehen können, wenn sie nicht durch Deutschland marschieren durften.

Hintergrund

Die europäischen Siegermächte des Ersten Weltkriegs versuchten mit Hilfe der Verträge die Beziehungen zum Verlierer Deutschland zu normalisieren. Im Hintergrund stand die Tatsache, dass die einseitige Meistbegünstigung, die das Reich den Siegermächten nach dem Versailler Vertrag zu gewähren hatte, am 10. Januar 1925 ausgelaufen war. Deutschland konnte seitdem über seine Handelspolitik selbst bestimmen, was exportorientierte Unternehmer in Frankreich und Großbritannien auf eine allgemeine, auch politische Entspannung drängen ließ.

Hinzu kam auch Skepsis der Westmächte wegen des 1922 zwischen Sowjetrussland und Deutschland geschlossenen Vertrages von Rapallo. Ausgelöst wurden die Verhandlungen durch Schriftwechsel zwischen Großbritannien, Frankreich und Deutschland im Sommer 1925, nachdem der deutsche Außenminister Gustav Stresemann am 9. Februar einen Vorschlag für eine wechselseitige Garantie der Grenzen seines Landes machte. Eine friedliche Entwicklung in Europa war auch die Voraussetzung für die wichtigen Kredite aus den USA.

Stresemanns Ziele

Für Deutschland war der Vertrag vor allem wichtig, um seine internationale Isolation zu durchbrechen, die Revisionspolitik nicht zum Stillstand kommen zu lassen und eine Räumung des besetzten Rheinlandes zu erreichen. Stresemann war bereit, für diese Ziele auch formal auf Elsass-Lothringen und Eupen-Malmedy zu verzichten, das Rheinland entmilitarisiert zu lassen und sich im Fall von Grenzstreitigkeiten den Entscheidungen des Völkerbunds zu unterwerfen. Ferner entwertete Locarno das 1921 geschlossene Militärbündnis zwischen Frankreich und Polen. Stresemann erläuterte diesen Zusammenhang am 28. Januar 1927 vor der Reichszentrale für Heimatdienst, die der heutigen Bundeszentrale für politische Bildung entspricht:

„Aber wenn wir auf friedlichem Wege an den Verhältnissen, die heute dort bestehen, etwas ändern wollen, dann muss sich doch jeder darüber klar sein, dass das nur dann und erst dann möglich ist, wenn wir mit den westeuropäischen Mächten in einem Verhältnis stehen, dass wir ihrer Toleranz und Unterstützung sicher sind. […] Wenn Sie nicht eine Politik der Verständigung mit Frankreich führen, dann werden Sie in jedem Kampfe mit Polen Frankreich und Polen gegen sich haben und von links und rechts zermalmt werden. Deswegen ist es so töricht, zu sagen: Dieser Außenminister treibt nur Westpolitik, ist ganz einseitig, guckt nur nach dem Westen. Ich habe nie mehr an unsern Osten gedacht als in der Zeit, wo ich mit dem Westen eine Verständigung suchte.“

Es ging Stresemann also darum, bei einem eventuellen Konflikt mit Polen, den er keineswegs ausschloss, einen Zweifrontenkrieg zu vermeiden; da eine Verletzung der deutsch-französischen Grenze automatisch ein Eingreifen der Garantiemächte bedeutete, konnte Frankreich künftig Polen nicht mehr militärisch beistehen, ohne in Konflikt mit Großbritannien und Italien zu geraten. Außenminister Briand bekräftigte zwar das französische Bündnis mit Polen durch einen formellen Garantievertrag, der ebenfalls am 19. Oktober 1925 abgeschlossen wurde, dennoch war allen informierten Zeitgenossen klar, dass die polnische Sicherheit mit der internationalen Garantie der deutschen Westgrenze erheblich geschwächt worden war. Polnische Versuche, diese Sicherheitslücke durch eine entsprechende internationale Garantie auch der deutschen Ostgrenze zu schließen, das so genannte Ost-Locarno, wurde von Deutschland abgelehnt.

Für Verunsicherung in der Geschichtswissenschaft sorgte ein Brief Stresemanns an den ehemaligen Kronzprinzen Wilhelm, kurz vor Locarno. Darin nannte der Außenminister es als seine Aufgabe, die Ostgrenzen zu korrigieren, Danzig und den Korridor wiederzugewinnen und schließlich Deutsch-Österreich anzuschließen. Eyck interpretiert den Brief dahingehend, dass Stresemann dem Prinzen die Möglichkeit eines späteren militärischen Vorgehens gegen Polen in Aussicht stellte, um Widerstand deutschnationaler Kreise zu begegnen. In anderen Quellen habe Stresemann hingegen betont, dass nur eine friedliche Lösung in Betracht komme.[1]

Folgen

Aufgrund der Vorleistungen Deutschlands und vor allem der Anerkennung der Westgrenze war die politische Rechte im Reich gegen die Verträge von Locarno, obwohl eine Revision zu diesem Zeitpunkt illusorisch war. Die DNVP zog sich deshalb aus der Regierung zurück. Am 27. November wurden die Verträge vom Reichstag angenommen. Die Regierungsparteien wurden dabei von DDP und SPD unterstützt, die Regierung hatte angekündigt, nach der Vertragsunterzeichnung zurückzutreten, was sie am 5. Dezember tat. Die extreme Linke war ebenfalls gegen die Verträge, da sie einen Bund Deutschlands mit den „kapitalistischen“ Westmächten gegen die Sowjetunion befürchtete.

Die Locarno-Verträge wurden als das Fundament des verbesserten westeuropäischen diplomatischen Klimas der Periode 1924–30 betrachtet, obwohl die Spannungen mit Osteuropa andauerten. Der „Geist von Locarno“ wurde in der Aufnahme des Deutschen Reichs als ständiges Mitglied in den Völkerbund im September 1926, und in der Entmilitarisierung des Rheinlandes im Juni 1930 gesehen.

Für ihren Einsatz erhielten Gustav Stresemann und sein französischer Kollege Aristide Briand den Friedensnobelpreis für 1926.

Die Sowjetunion beteiligte sich nicht an der Entspannung und wurde von den Westmächten isoliert. 1926 kam es zum Berliner Vertrag zwischen der Sowjetunion und Deutschland, der das Verteidigungsbündnis von Polen und der Tschechoslowakei mit Frankreich beeinträchtigte, da Deutschland bei einem Krieg zwischen einem der beiden ersten Staaten und der Sowjetunion französische Truppen nicht passieren lassen würde.

Adolf Hitler setzte mehr auf Vereinbarungen zwischen einzelnen Staaten (an die er sich nicht zu halten gedachte); Deutschland trat noch 1933 aus dem Völkerbund aus. 1936 ließ er Truppen in das entmilitarisierte Rheinland einmarschieren und verstieß damit gegen Locarno. Er begründete diesen Schritt damit, dass mit der Ratifizierung des französisch-sowjetischen Beistandspaktes vom 7. März 1936 der Locarno-Vertrag bereits gebrochen worden sei. Die Völkerrechtslehre der Nationalsozialisten demontierte den Vertrag öffentlich, Fritz Berber gab zusammen mit Joachim von Ribbentrop ein entsprechendes Buch heraus und ließ Walter Truckenbrodt in seiner Essener Verlagsanstalt eine Schrift in diesem Sinne drucken.

Siehe auch

Literatur

  • Jacques Bariéty: Les relations franco-allemandes après la première guerre mondiale. Publications de la Sorbonne, série internationale, Paris 1977. 
  • Ministerium für Auswärtige Angegelegenheiten der Deutschen Demokratischen Republik (Hrsg.): Locarno-Konferenz 1925. Eine Dokumentensammlung. Rütten & Lönning Verlag, Berlin (Ost) 1962. 
  • Edward David Keeton: Briand's Locarno Policy: French Economics, Politics and Diplomacy, 1925-1929. Taylor & Francis, London 1987. 
  • Peter Krüger: Die Außenpolitik der Republik von Weimar. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985. 
  • Karl J. Mayer: Die Weimarer Republik und das Problem der Sicherheit in den deutsch-französischen Beziehungen 1918-1925. Peter Lang, Bern 1990. 
  • Georges-Henri Soutou: L’Alliance franco-polonaise (1925–1933) ou comment s’en débarrasser?. In: Revue d’Histoire diplomatique. Nr. 95, 1981. 

Weblinks

Belege

  1. Erich Eyck: Geschichte der Weimarer Republik. Zweiter Band: Von der Konferenz von Locarno bis zu Hitlers Machtübernahme, 4. Auflage, Erlenbach-Zürich / Stuttgart: Eugen Rentsch Verlag 1972 (1956), S. 44-48.

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