Manuelle Medizin

Manuelle Medizin

Manuelle Medizin ist eine ärztliche Heilbehandlung, die "...Befundaufnahmen am Bewegungssystem, am Kopf, an viszeralen und bindegewebigen Strukturen sowie die Behandlung ihrer Funktionsstörungen mit der Hand..."[1] dient. Die Begriffe Chirotherapie und Manuelle Medizin werden in Deutschland teilweise synonym gebraucht.

Inhaltsverzeichnis

Kurzüberblick

Die Manuelle Medizin hat als Grundlage die Untersuchung und Behandlung mit der Hand durch einen auf diesem Gebiet ausgebildeten Arzt. Segmentale Funktionsstörungen („Blockierungen“) der Wirbelsäule und Funktionsstörungen des Arthrons, d.h. peripherer Gelenke, Faszien und Muskeln, sind die Zielpunkte der Manuellen Medizin. In Deutschland Ist "Manuelle Medizin/ Chirotherapie" eine ärztliche Zusatzbezeichnung. Fachärzte können beide Begriffe wahlweise oder in Kombination führen.[2]

Sie ist im deutschsprachigen Raum die medizinische Disziplin, in der die Befundaufnahme am Bewegungssystem – dazu gehören alle Strukturen, die in neuroreflektorisch-humoraler Wechselwirkung zum Bewegungsorgan stehen - sowie die Behandlung von Funktionsstörungen desselben mit der Hand unter präventiver, kurativer und rehabilitativer Zielsetzung erfolgt. Diagnostik und Therapie beruhen auf biomechanischen und neurophysiologischen Prinzipien. Dabei finden auch Verkettungen von Funktionsstörungen innerhalb des Bewegungssystems ihre angemessene Berücksichtigung.[3]

Max Geiser bemerkt hingegen, Bezug nehmend auf Osteopathie und Chiropraktik, die Theorien „mit der manipulativen Behebung von „Fehlstellungen“ der Wirbelgelenke verschiedenste von diesen „Fehlstellungen“ verursachte Krankheiten heilen zu können [...] widersprechen allen im 20. und 21. Jahrhundert erkannten Fakten über die Anatomie, Physiologie und Pathologie des menschlichen Organismus.“ (Max Geiser: Schweizerische Ärztezeitung 2007, Seite 758)[4]

Begriffsdefinitionen

  • Manuelle Therapie ist der von Physiotherapeuten durchgeführte Teil der Manuellen Medizin (aus Anlage zum Vertrag gemäß §125 SGB V über die Versorgung mit physiotherapeutischen Leistungen). Die Manuelle Therapie wird als Gegenstand des Heil- und Hilfsmittelkataloges von Ärzten an dazu qualifizierte Physiotherapeuten per Rezept abgegeben, sie beinhaltet Befunderhebung und Behandlung mit verschiedenen manuellen Techniken. Dabei sind Manipulationen (d.h. Impulsabgaben) an der Wirbelsäule ausschließlich Ärzten vorbehalten.

Weitere, ursprünglich aus dem angelsächsischen Sprachraum stammende Begriffe

  • Chiropraktik (engl. Chiropractic) wurde von D.D. Palmer, einem Gemischtwarenhändler aus den USA erfunden. Sie ist definiert als:

A system of healthcare which is based on the belief that the nervous system is the most important determinant of health and that most diseases are caused by spinal subluxations which respond to spinal manipulation.

– zitiert nach Edzard Ernst, e. a.: The Desktop Guide to Complementary and Alternative Medicine: An Evidence - Based Approach, Elsevier Health Sciences, 2001, S.45, ISBN:0723432074

Es handelt sich dabei um eine Handgrifftechnik, welche von nichtärztlichen Therapeuten ausgeübt wird. (In den USA, Australien und weiteren Ländern wird ein Abschluss „Doktor der Chiropraktik“ vergeben.)

Die Wirksamkeit der Chiropraktik im Vergleich zu anderen Therapieformen ist gering. Wirbelsäulenmanipulation ist keine empfehlenswerte Behandlung. [5] [6]

  • Osteopathie Die klassische Osteopathie reklamiert für sich ein eigenständiges Medizinverständnis „neben“ der Schulmedizin, die Manuelle Medizin dagegen ist Bestandteil der kritisch-rationalen Schulmedizin. Osteopathie als eigenständiges Medizinverständnis ist die von A. T. Still in den USA in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts begründete Lehre, die behauptet mit Handgrifftechniken verschiedenster Art auf fast alle Lebensvorgänge des Körpers Einfluss zu nehmen.

Geschichte

Europa bis 1850

Bereits in der Antike finden sich Abbildungen von manuellen Handgriffen, Aufzeichnung aus dem Mittelalter (Hildegard von Bingen) sind ebenfalls erhalten. Ab der Neuzeit sind es vor allem Laienbehandler, welche manuelle Techniken ausüben. Oft sind es Schäfer, die sogenannten "Boandlsetzer" (=Beinsetzer) in Tirol, die zurückgebliebene Tiere wieder einrenken und in die Herde reintegrieren. Berichte sind spärlich, nur teilweise werden die Griffe bei Menschen angewandt. Dann gibt es in dieser Zeit noch die "Bonesetters" in England, "Algebristas" in Spanien und die "Renunctores" in Italien.[7] Auch die amerikanischen Cowboys sollen - durch ausgewanderte Tiroler Viehhirten - von den Handgriffen erfahren haben und sie bei den Tieren ihrer Herden angewendet haben, wodurch das Wissen in die Vereinigte Staaten von Amerika gelangte.

Amerika ab 1860

Etwa um 1866 wirkte der Arzt Jim Atkinson in Davenport, USA. Unter seinen Schülern waren die beiden Begründer der Osteopathie (Still) und Chiropraktik (Palmer), die später getrennte Wege gingen.[7]

  • Der Chirurg Andrew Taylor Still war als Sklavereigegner während des Amerikanischen Bürgerkriegs Arzt in Nordstaaten-Lazaretten gewesen, 1864 waren 3 seiner Kinder an Meningitis verstorben. Daraufhin brach er mit der Schulmedizin und wandte sich - inspiriert unter anderem von der neuen Evolutionstheorie sowie indianischen Medizinmännern - einer neuen, ganzheitlichen Sichtweise der Medizin zu. Ab 1874 verkündete er die Osteopathie, eine medizinisch-philosophisch-ganzheitliche Richtung, bei der eine Blockierung von Nerven-, Blut- und Lymphsystemen postuliert wurde, die durch entsprechende Handgriffe zu deblockieren wären. 1892 wurde die School of Osteopathy gegründet.
  • Daniel David Palmer hingegen war kein Arzt, sondern Gemischtwarenhändler. Seine Chiropraktik übte er als Laientherapeut aus, die von ihm 1897 begründete Palmer School of Chiropractic bildete unter anderem Nicht-Mediziner zu Therapeuten aus. In den heutigen USA können Abschlüsse in Chiropraktik an spezialisierten Colleges und Zentren erworben werden, in Deutschland können Heilpraktiker und Ärzte Chiropraktik ausüben. Die Chiropraktik dient rein der Wiederherstellung des gestörten Gelenkspiels, das durch Subluxationen der Gelenke hervorgerufen würde.

Beide Varianten der amerikanischen Manualtherapien gelangten im frühen 20. Jahrhundert nach Europa, Stoddard und Mennell brachten die osteopathsiche Schule nach England, von wo sie nach Deutschland übergriff (Schule der FAC, früher in Hamm, heute in Boppard).[7]

Deutschland ab 1950

Der Chirurg Karl Sell diente während des 2. Weltkriegs in Feldlazaretten, wo er mir Erschöpfungszuständen, Schmerzzuständen und Gelenksblockierungen der Soldaten konfrontiert wurde. Aufgrund seiner Erfahrungen entwickelte er eigenständig eine Schule der Manuellen Medizin, bei der - ähnlich wie bei der Chiropraktik - die Wiederherstellung der gestörten Gelenksfunktion durch Manipulationen (gezielte kurze Impulse durch Handgriffe und -bewegungen) im Mittelpunkt standen.

Die 1952/1953 in Isny-Neutrauchenburg gegründete Schule nach Karl Sell[8] arbeitet auf Grundlage der "sanften Manipulation in die freie Richtung", wodurch Schädigungen vermieden werden sollen. Die Sell'sche Schule betont von Anfang an schulmedizinisch orientiert zu sein, ein philosophischer Überbau oder alternativmedizinischer Ansatz fehlt. Grundlage der Therapie ist die genaue Diagnostik der blockierten Gelenke durch Aufsuchen sogenannter Irritationspunkte, welche über neurogene Verschaltungen die Lage des blockierten Gelenkes anzeigen. Ist das blockierte Gelenk aufgefunden, kann es deblockiert werden, was zur Schmerzerleichterung führt.

Manualmedizin im deutschsprachigen Raum

  • In Deutschland haben sich die drei verschiedenen Organisationen (FAC in Boppard, ursprünglich aufbauend auf der Osteopathie; MWE in Isny-Neutrauchenburg; Sektion Manuelle Medizin der Gesellschaft für physikalische Medizin der DDR) 1966, bzw. nach der Wiedervereinigung 1990, zu einer gemeinsamen Ärztegesellschaft zusammengeschlossen, der Deutschen Gesellschaft für Manuelle Medizin.
  • in Österreich existieren die Österreichische Gesellschaft Manuelle Medizin in Wien (aus der FAC hervorgegangen) und die Österreischische Arbeitsgemeinschaft für Manuelle Medizin nach Karl Sell in Graz.[7] Beide Schulen bieten unabhängig voneinander Ausbildungsdiplome an und werden unabhängig voneinander von der Österreichischen Ärztekammer anerkannt.
  • in der Schweiz existiert seit 1959 die SÄMM, ursprünglich von Hans Caviezel gegründet, einem Schüler Karl Sells, später bestimmte die Arbeitsgruppe um Jiri Dvorak die Richtung der Schule.[7]
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Quellen

  1. H.-P. Bischoff, H. Moll: Kurz gefasstes Lehrbuch der Manuellen Medizin.' 5. Auflage, 2007, Spitta-Verlag, Balingen, ISBN 978-3-938509-12-8, S.17
  2. [1] Weiterbildungsordnung der BLÄK
  3. [2] Beschluss der in Deutschland maßgeblichen ärztlichen Dachorganisation
  4. [3], aufgerufen am 21. August 2007
  5. Ernst E., Canter P.H.: A systematic review of systematic reviews of spinal manipulation. J R Soc Med 2006;99:192-196
  6. Assendelft WJJ, Morton SC, Yu Emily I, Suttorp MJ, Shekelle PG. Spinal manipulative therapy for low-back pain. Cochrane Database of Systematic Reviews 2004, Issue 1. Art. No.: CD000447. DOI: 10.1002/14651858.CD000447.pub2.
  7. a b c d e H.-P. Bischoff, H. Moll: Kurz gefasstes Lehrbuch der Manuellen Medizin.' 5. Auflage, 2007, Spitta-Verlag, Balingen, S. 13ff
  8. Der Spiegel 43/1953: Patient im Doppelnelson [4]

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