Mimetische Theorie

Mimetische Theorie
René Girard

René Girard (* 25. Dezember 1923 in Avignon, Frankreich) ist Literaturwissenschaftler und Kulturanthropologe und einer der bedeutendsten Religionsphilosophen an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert.

Inhaltsverzeichnis

Leben

René Girard ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Seit 1947 lebt er in den USA, wo er an verschiedenen Universitäten lehrte, zuletzt als Professor für französische Sprache, Literatur und Kultur an der Stanford-Universität, an der er noch heute als Professor emeritus tätig ist. Im Jahr 2005 wurde er zum Mitglied der Académie française gewählt. René Girard ist mit dem Dr.-Leopold-Lucas-Preis 2006 der Evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen ausgezeichnet worden.

Werk

Am Beginn seines Werks steht die Einsicht in das mimetische Begehren der Menschen, die er aus der systematischen Lektüre von Dichtern und Schriftstellern der großen europäischen Literatur wie Cervantes, Stendhal, Gustave Flaubert, Marcel Proust, Dostojewski und – später – Shakespeare gewann. Darauf folgt die Analyse der klassischen Tragödie – hauptsächlich Sophokles und Euripides – und des Materials der ethnologischen Forschung (u. a. James Frazer, Lucien Lévy-Bruhl, Edward E. Evans-Pritchard). Anschließend werden die alt- und neutestamentlichen Texte und deren Wirkungsgeschichte in die Analyse miteinbezogen. Girard zielt auf die Aufstellung einer einheitlichen Kulturtheorie – die mimetische Theorie –, die alle Phänomene des menschlichen Zusammenlebens reduktiv erfassen kann. Ausdrückliches Ziel seiner Anthropologie ist die Definition eines einzigen Prinzips, welches es möglich macht, eine wissenschaftlich begründete Erklärung aller Organisationsformen der menschlichen Kultur zutage zu bringen.

Die mimetische Theorie

Mimetische Theorie ist der Begriff, unter dem Girard selbst seine im Laufe der letzten vierzig Jahre formulierten Hypothesen zur Entstehung und Entwicklung der menschlichen Kultur zusammenfasst.[1]

Ausgangspunkt

Ausgangspunkt der mimetischen Theorie von René Girard ist die Feststellung, dass menschliche Gesellschaften nur dann überleben können, wenn sie in der Lage sind, dem Ausbreiten der Gewalt innerhalb der Gruppe erfolgreich entgegenzuwirken. Ursache zwischenmenschlicher Konflikte ist das Aneignungsverhalten von Menschen, die in engem Kontakt miteinander leben: Dieses Verhalten stiftet Rivalität, Neid und Eifersucht, ist ansteckend, wird von allen Mitgliedern der Gruppe mitgetragen und führt zu raschen Gewalteskalationen, in denen das ursprüngliche Objekt keine Rolle mehr spielt: sie werden lediglich durch das Imitieren des Anderen in Gang gehalten.

Für das Aneignungsverhalten und die nachfolgende Nachahmung des gewalttätigen Verhaltens wird von Girard der Begriff „Mimesis“ verwendet, um damit den Abstand von der geläufigen Thematisierung des imitativen Verhaltens – die in der von Platon und Aristoteles begonnenen Tradition steht – als Nachahmung äußerlicher Darstellungen, Gestik oder Mimik hervorzuheben.

Verbote, Riten und Sündenbockmechanismus

Die Entwicklung des religiösen Denkens in den archaischen Gesellschaften geht in der Abarbeitung von Normen einher, die das Ausbreiten der Gewalt innerhalb der Gruppe verhindern oder steuern. Für archaische Gesellschaften ist das Bewusstsein, dass Mimesis und Gewalt dasselbe Phänomen sind, von zentraler Bedeutung. Gewalt wird verhindert, indem man die mimetische Verdoppelung/Spiegelung zwischen Individuen derselben Gruppe verbietet. Verbote, die von archaischen Religionen aufgestellt werden, sind aus dieser Perspektive zu deuten und sind umso aufschlussreicher, je absurder sie uns erscheinen (etwa das Verbieten von Zwillingen, Spiegeln usw.).

Das Wissen über den Zusammenhang Gewalt–Mimesis ist zugleich ein Wissen über die Wege, die aus der mimetischen Krise (Ausbreitung der Gewalt) führen. Girard postuliert die Existenz einer fundierenden Erfahrung, die ein für alle Mal gezeigt hat, dass die Gewaltspirale durch die Opferung eines Sündenbocks unterbrochen wird. Hat die mimetische Gewalt in einer Gruppe einen Punkt erreicht, in dem alle die Gewalt aller nachahmen und das Objekt, das die Rivalität ausgelöst hat, „vergessen“ ist, so stellt das Auftreten eines einmütig als schuldig empfundenen Individuums eine einheitsstiftende Polarisierung der Gewalt dar: Die Tötung oder Ausstoßung des „Schuldigen“ reinigt die Gruppe von der Gewaltseuche, weil diese letzte – gemeinsam vollbrachte – Gewaltanwendung keinen mimetischen Vorgang (Rache) mit sich bringt. Da auch das Objekt, das die Krise ausgelöst hat, vergessen ist, ist die Reinigung durch diese Opferung vollständig. Insofern die Auswahl des Sündenbocks eine mutwillige oder auch zufällige ist, ist der Sündenbock austauschbar: Seine Bedeutung für die Gruppe besteht in der durch ihn wiederhergestellten Einmütigkeit. Gleichzeitig ist aber der ermordete/ausgestoßene Sündenbock in seiner heilbringenden Abwesenheit einzigartig und unaustauschbar.

Dieses Geschehen ist mit seiner „wunderbaren“ Wirkung die Offenbarung des Heiligen, das das Überleben der Gruppe ermöglicht: Die dem Opfer nach seiner Tötung dargebrachte Verehrung kommt der Erfindung der Göttlichkeit gleich, und die Wiederholung des Sündenbockvorgangs ist die rituelle Vergegenwärtigung des Heiligen zusammen mit dessen Ausstoßung aus der menschlichen Gesellschaft.

Besondere Beachtung verdient die Tatsache, dass die Wiederholbarkeit des Vorgangs und die Austauschbarkeit des Opfers – eben das, was einen Kult ermöglicht – in der a-priori-Mutwilligkeit des Sündenbocks, also in seiner Unschuld, gründen.

Die Gesamtheit der Gebote und Regeln, die das Wiederholen dieses Vorgangs fördern und seinen Ausgang überwachen, machen den eigentlichen Bestand an Riten und positiven Verhaltensnormen jeder archaischen Gesellschaft aus.

Religiöses Denken

Nach Girards Theorie ist Religion jene Form des menschlichen Denkens, die die Bewahrung des Wissens über Gewalt/Mimesis und den Sündenbockmechanismus gewährleistet. Anders als das dem modernen Menschen vertraute analytische und differenzierte Denken hat aber die Religion nicht die Aufgabe, diese Mechanismen zu erklären. Die Religion kann im Gegenteil die Aufgabe der Instandhaltung dieser Vorgänge nur dann erfüllen, wenn sie deren grundlegende Wahrheiten verschleiert: Ein Sündenbock könnte kein Sündenbock mehr sein, wenn die Menschen sich seiner Unschuld bewusst wären; ein Verbot würde nicht seine Kraft entfalten können, wenn es nicht gottgegeben wäre. Indem die Transzendenz einer Gottheit die Funktionsfähigkeit dieser Verschleierung gewährleistet, sind gleichzeitig die Menschen von der Verantwortung entbunden, Zweifel an dem Mechanismus der Überwindung der Gewalt zu üben.

Die erfolgreiche Funktionalisierung der Vorgehensweise des religiösen Denkens hat in der von dem analytischen Denken wahrgenommenen Widersprüchlichkeit seiner Formen in der Antike und in den Beobachtungen der modernen Ethnologie seinen Niederschlag. Die mimetische Theorie analysiert diese Widersprüche, Aporien, Vielfalt, Unstimmigkeiten als (notwendige) Unvollständigkeit der religiösen Rationalisierung: religiöse Reflektivität setzt notwendigerweise ihre Akzente nicht auf sämtliche Aspekte des Phänomens und bringt damit die Unterschiede und die Asynchronie der Rituale hervor, die in die Eigenart einer jeden Kultur münden. Gleichzeitig trägt jede erfolgreiche Aufklärung des Mechanismus zu seiner Unnutzbarkeit und zu seinem Verschwinden bei: mit zunehmendem Verständnis des Phänomens entzieht sich dasselbe Phänomen immer mehr der Beobachtung.

Mythen

Das Verständnis der Mythen der archaischen und klassischen Kultur geht für Girard einher mit der Offenlegung des opferkultischen Charakters jener Vorgänge, die für eine Kultur konstituierend sind. Alle Mythen sind – in ihrem Kern – Berichte über Gewaltanwendungen, die immer die gleiche Polarisierung aufweisen: alle-gegen-alle, alle-gegen-einen und Bruder-gegen-Bruder. Die Personen dieser Berichte tragen oft die Züge einer Monstrosität, in der die Psychologie eine Entstellung der Wahrnehmung in Situationen, in denen eskalierende Gewalt die Szene dominiert, sieht. Diese Personen sind Götter, Helden, Stadtgründer oder Stammesväter – also Sündenböcke im Sinne der mimetischen Theorie.

Die Vergegenwärtigung der Mythen ist in allen Kulturen ein Phänomen, das die gesamte Gesellschaft und ihre Priester einbezieht. So z. B. die griechische Tragödie, in der die Repräsentation die Mimesis des Gründungsakts nachahmt, aber zugleich keinen Platz für die Darstellung von Gewalt vorsieht, die immer nur erzählt ist und von der Bühne verbannt wird.

Mythen und Verfolgungen

Die moderne Lesart der Mythen als Schöpfungsakt archaischer Kulturen, die damit dem „Unsagbaren“, dem „religiösen Empfinden“, Ausdruck verleihen, ist für Girard durch eine Verweigerung der westlichen Zivilisation zustande gekommen, die verfolgerische Struktur der mythischen Texte zu erkennen. Die Mythen sind Erzählungen von Verfolgungen, die regelmäßig die Perspektive der Verfolger wiedergeben: nicht anders als die mittelalterlichen Verfolgungstexte, aus denen man heute ohne weiteres erschließt, dass etwa Gewaltausbrüche gegenüber Juden in Zeiten der Pest oder die Hexenjagd tatsächlich stattgefunden haben. Die Struktur der mythischen und dieser Texten des Mittelalters ist die gleiche: Zustand der Krise, Monstrosität in den Anschuldigungen gegen den Verfolgten, Merkmale des Opfers. Das sind die Elemente, die in den Verfolgungstexten explizit vorkommen und eine kollektive Gewaltanwendung auch dort erkennen lassen, wo sie in den Texten nicht dargestellt wird.

Girard hebt hervor, dass die gleichen Elemente – zusammen mit dem kollektiven Mord und der Heiligung des Opfers – in den Mythen zu finden sind und dass dort, wo eines (oder mehrere) dieser Elemente fehlt, die Spuren dessen Verwischung immer zu erkennen sind. Das gilt für die Mythen des Altertums wie für die der ethnologischen Volker. Der Ursprung dieser Mythen ist immer eine tatsächlich stattgefundene kollektive Tötung, und diese Tötung auszumachen ist ein Verfahren, dessen Gültigkeit die moderne westliche Kultur nur für sich selbst und für den eigenen geschichtlichen Raum erkennt und für selbstverständlich hält.

Sakrales Königtum und Institutionen

Wie das Göttliche seinen Ursprung in der Transzendenz des geopferten Sündenbocks hat, so haben Herrschaftsinstitutionen in dem Weiterleben des Sündenbocks in einer menschlichen Gesellschaft ihren Ursprung. Mit seiner Tötung stiftet der Sündenbock eine Überwelt, in der das Heilige seinen Platz findet: Das Heilige ist auch heilbringend, wenn es sich mit den Menschen nicht vermischt. Vor seiner Tötung ist der Sündenbock aber bereits Objekt der Verehrung, hat bereits Frieden innerhalb der Gruppe gebracht. So kann der Urtyp des sakralen Königs als ein Sündenbock betrachtet werden, dessen Opferung vertagt oder gegen eine stellvertretende Tötung ausgetauscht worden ist.

Der sakrale König genießt alle Privilegien, die ihm die Verehrung der Menschen entgegenbringt, und trägt zugleich die Merkmale der von den Menschen erkennbaren Schuld, indem er die Verbote missachtet (Inzest, Reinheitsgebote usw.). Die Vielfältigkeit der beobachteten Formen des sakralen Königtums ist – wiederum – mit der Fokussierung auf den einen oder anderen dieser Aspekte oder gar mit deren Verschleierung zu erklären.

Ausgehend von dem Komplex der Verbote, von der Ritualisierung der Gewalt in den mimetischen Kategorien des „Gleichen“ und des „Anderen“ sind die Entstehungsformen aller gesellschaftlichen Institutionen zu erklären. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die Analyse von Institutionen wie Exogamie und Tausch der Güter, Tierzucht, Nachbarkriege, Totenkult usw., die in archaischen Gesellschaften mit einem Opferritus verbunden sind.

Hominisation

Die Mechanismen, die die Verbreitung der Gewalt innerhalb einer Gruppe eindämmen und ihre Überwindung möglich machen, werden von Girard als treibende Kraft für den Prozess der Hominisation gesehen.

Entstehung der menschlichen Kultur

Die Theorien der Biologie, der Ethologie, der Ethnologie und der Anthropologie erweisen sich als unzureichend, um das Entstehen der menschlichen Kultur zu erklären: Die Merkmale, die einen Menschen von den Tieren unterscheiden, sind weder ein Vorteil im evolutionistischen Sinn noch können sie dem Entstehen von irgendeiner Form menschlicher Kultur Rechnung tragen. So kann man z. B. das Wachsen der Gehirnmasse weder als Ursache für das Entstehen von Kultur noch als Anzeichen entstandener Kultur betrachten: Es bringt in erster Linie mit sich, dass imitatives und aggressives Verhalten zwischen gleichgeschlechtlichen Tieren gefördert wird, dass verlängerte Sexualitätsperioden zum Hindernis für den Nachwuchs werden und zur gesteigerten Aggressivität führen, dass Werkzeuge und Waffen erfunden werden, die nicht mehr instinktiv kontrolliert werden können usw. – lauter Umstände, die geeigneter sind, das Aussterben der Spezies und nicht ihre Evolution zu erklären.

Symbolisierung der Gewalt

Gesteigertes imitativ-kompetitives Verhalten ist also hauptsächlich ein Hindernis für das Zusammenleben von Tieren und Menschen. In einem Rudel ist das Zustandekommen stabiler Führungsverhältnisse (dominance patterns) dank der Eindämmung des kompetitiven Verhalten möglich. Das Alpha-Tier wird imitiert, aber nicht angegriffen, weil ihm gegenüber jedes Aneignungsverhalten unterdrückt werden kann. Ist das aber – wie in Menschengruppen – nicht der Fall, kann kein Führungsverhältnis von Dauer sein, und eine mimetische Krise muss ausbrechen. Andererseits werden auch bei Tieren Anzeichen einer symbolisierten Gewalt in Form von abgelehnter Aggression, die wenige Individuen betrifft, beobachtet. Daher formuliert Girard seine Hypothese, dass eben das Imitieren eines solchen substituierten Angreifens eine ganze Gruppe involvieren und damit die Urform der Überwindung der mimetischen Krise darstellen kann, wobei die Annahme, ein solcher Mechanismus müsse sich sofort und immer wieder als effizient erweisen, nicht notwendig ist.

Nur aus der zyklischen Iteration der drei Phasen Steigerung des mimetischen Verhaltens, Gewaltkrise, Überwindung durch Symbolisierung kann Girard zufolge der Hominisationsprozess bestehen.

Biologie und Zeichen

Um Girards Hypothese von der Hominisation aufrechterhalten zu können, muss lediglich angenommen werden, dass auch vor der Hominisation mimetische Eskalation möglich ist und dass sie ein Stadium erreichen kann, in dem instinktive Eindämmung nicht mehr möglich ist. Folglich sind das Überwinden dieser Eskalation und ihre Wiederholung Phänomene, die keinen vorgegebenen kulturellen Kontext benötigen. Der Hominisationsprozess würde somit auf der Grundlage eines Minimums an biologischen Hypothesen erklärt und das Verhältnis zwischen Biologischem und Kulturellem eindeutig definiert werden.

In dieser Perspektive ist die Schwelle zur Hominisation, deren Überschreitung der Symbolisierung der Gewalt zu verdanken sei, zugleich die Schwelle zu der Entstehung eines Zeichensystems. Der Übergang von zugespitzter Gewalt zum Frieden bringt alle Voraussetzungen mit sich, dank derer sich die Aufmerksamkeit der gesamten Gruppe auf ein einziges Objekt konzentrieren kann – die Leiche des Opfers – in dem sich die Erfahrung der Gewalt kristallisiert und das keine bloße Leiche mehr ist: Gewalt und Frieden haben in ihr ein Zeichen – sind materiell auf diese Leiche übertragen worden –, aber auch Signifikate wie bevor und danach, innen und außen können sich nun in einem System organisieren. Dieses Zeichensystem kommt allein durch die wiederholte Verwendung eines Zeichens zustande, wie sie von dem rituellen Imperativ gefördert wird, wobei dieser Imperativ unmittelbar von dem Friedenswillen des Menschen diktiert ist.

Im Rahmen dieser Hypothese ist auch die Entstehung der Sprachlichkeit als wiederholte Verwendung des Schreiens während der Gewaltkrise als notwendiges Teil des Rituals und die vorrangige Stellung der Worte des Heiligen in jeder Sprache zu verstehen.

Die jüdisch-christliche Offenbarung

Anhand der Analyse der grundlegenden Texte des Judentums und des Christentums stellt Girard eine fortschreitende Tendenz zur Offenbarung der rituellen Mechanismen, die die menschliche Kultur prägen, fest. Ausschlaggebend ist dabei die neutestamentliche Perspektive, die es möglich macht, die Elemente des Neuen und der Aufklärung, die bereits in den Mythen der Vätergeschichte und vor allem in den Prophetenbüchern zu finden sind, ins neue Licht zu rücken und gleichzeitig das Neue Testament selbst als Radikalisierung einer ansatzweise bereits vorhandenen Lehre zu deuten. So enthalten z. B. die Unschuld des geopferten Abel und das darauffolgende Verbot, Kain zu töten, eine Bloßstellung der (mimetischen) Gewalt als rein menschlichen Akt, der nicht Heiliges, sondern nur noch Gewalt hervorbringt, und das Wissen, dass Gewalteskalation nur durch Verzicht auf Gewaltanwendung verhindert wird. Dieser Unterschied zu den anderen Mythologien der archaischen Welt – in denen immer die Heiligung der Gewalt und des Opfers festgeschrieben ist – kommt in der Aufforderung der Propheten, die Opferriten aufzugeben und Nächstenliebe statt Gewalt zu praktizieren, noch deutlicher zum Ausdruck.

Die Lehre des Christentums

Nach Girard bringt das Neue Testament diese Tradition zu ihren letzten Konsequenzen: Der vollständige Verzicht auf Gewalt und Opferkult; das Verkünden der Liebe als einzige Handlung, die Gottesnähe gewährleistet; die gegen die Pharisäer gerichtete Denunziation der Weltlichkeit als Verkennung und Umkehrung der Lehre der Propheten. Das sind in den Evangelien die Eckpunkte der Verkündung des Reichs Gottes und der Rettung, wobei Rettung in ganz konkreter Weise als Rettung vor der drohenden Gewalt verstanden werden muss. Explizit wird das in den apokalyptischen Teilen der Evangelien und vor allem in der Offenbarung des Johannes: die Gewalt ist immer eine menschliche Sache, der die Menschen selbst schutzlos ausgeliefert zu werden drohen. Nach Girard ist dies mit der – nicht vollständigen – Aufklärung des Opfermechanismus in Verbindung zu setzen, da für die Menschen, die dank der alttestamentlichen Lehre das wahre Wesen der Gewalt teilweise aufgedeckt haben, der sakralisierende Sündenbock seine Wirkung verliert. Für sie ist Gewalt nicht mehr einzudämmen, und umso dringlicher stellt sich die Notwendigkeit der Gewaltlosigkeit als eine Frage des Überlebens.

Das sakrifikale Christentum

Girard interpretiert die Passion und den Tod Jesu als endgültige und konsequente Aufklärung des Opfermechanismus: In der Einmütigkeit der Verweigerung der Lehre der Gewaltlosigkeit, die in die Einmütigkeit der Gewaltanwendung mündet, bleibt für den Gewaltlosen keine andere Rolle übrig als die des Sündenbocks. Für Girard ist die Deutung der Passion als Opfer textuell nur durch den Brief an die Hebräer zu rechtfertigen und mit keinem anderen Text des Neuen Testament vereinbar. Mit Jesus als Opfer habe das Christentum dasselbe mythologisierende Verfahren des heilbringenden Sündenbocks angewendet, das die heidnischen Religionen prägte. Das habe der flächendeckenden Ausbreitung der neuen Religion geholfen, aber daraus sei nur eine halbierte Aufklärung oder Dekonstruktion des Opfermechanismus entstanden: Der Sündenbock ist unschuldig, kann aber weiterhin das Heilige hervorbringen.

Diese partielle Aufklärung hat für Girard eine innewohnende Widersprüchlichkeit. Zwar habe das Christentum mit den Evangelien den Keim der vollständigen Aufklärung bewahrt und tradiert. Die opferkultische Verkennung der Passion aber habe dazu beigetragen, dass die Mechanismen zur Eindämmung der Gewalt mehr und mehr außer Kraft gesetzt wurden. So sei die Lehre des Gewaltverzichts nicht konsequent vom Christentum übernommen worden; so habe der christlich motivierte Antisemitismus jahrhundertelang währen können; so hätten die Gewaltformen der Verfolgung entstehen können.

Textuelle Kohärenz und Sinn

Auch in Bezug auf die biblische Überlieferung hebt Girards Analyse die innere Kohärenz des Textes hervor: Jede Schlussfolgerung ist dem Text selbst zu entnehmen. Gleichzeitig aber stellen sich die von Girard formulierten Hypothesen als ein extratextuelles Instrument dar, welches allein eine einheitliche Interpretation des Textes erlaubt. In all seinen Werken hat Girard betont, dass seine Grundhypothese der sakrifikalen Opfer in der textuellen Inhärenz ihren Bestand hat: Sie muss und kann bewertet werden, aber lediglich anhand der durch sie möglich gewordenen Dekonstruktion eines Textes und der damit erklärten oder erklärbar gewordenen Phänomene.

Die Verwendung eines Instruments, das nicht von dem Text selbst geliefert wird, ist für Girard sogar unerlässlich, wenn man die mythische Texte und die Verfolgungstexte verstehen will. Diese Texte seien aus der Perspektive der Verfolger entstanden, sie sind strukturell nicht in der Lage, die Wahrheit über ihren Gegenstand auszusagen, eben weil die Überzeugungen, das Opfer sei schuldig, die Tötung oder die Verfolgung sei notwendig gewesen und gar von dem Opfer selbst gewollt usw., Teil der Grundstruktur des Texts sind. Erst in dem Alten und – vor allem – in dem Neuen Testament sei eine andere Perspektive in der Darstellung der Verfolgungen zutage getreten: die der Verfolgten. Girard zufolge sei es erst für diese Texte sinnvoll, von Sündenbock und kollektive Gewalt als Motive des Textes zu sprechen und nicht als Struktur desselben, weil in diesen Texten über die Opfervorgänge geschrieben wurde, um sie zu offenbaren. Deswegen sei es überhaupt möglich gewesen, die Opfer als das zu erkennen, was sie sind: unschuldige Opfer.

Interindividuelle Psychologie

(...)

Die Rezeption der mimetischen Theorie

Seit dem Erscheinen seiner Arbeiten zur Anthropologie der Opferriten und der Religion, ist Girards Werk das Ziel von Kritik gewesen, die mitunter sehr heftig ausgefallen ist. Oft sind diese Kritiken durch Girard selbst in seinen Büchern thematisiert und beantwortet worden.

Der Times Literary Supplement kritisierte in seinem Buch Das Heilige und die Gewalt, dass Girard, um seine „ehrgeizige Hypothese“ zu demonstrieren, auf „sorgfältig ausgewählte (...) marginale Aspekte“ von Opferriten zurückgegriffen habe, die „hier und da und überall“ zelebriert werden und die „nicht oberflächlicher, künstlicher und außer Kontext“ hätten gewählt werden können; dass er mit einer „breit angelegten Hypothese“ nahezu alles erklären wolle; dass eine so „vage formulierte (...), so unüberprüfbare und auf so oberflächlichen Tatsachen“ basierende Hypothese dem Autor selbst unglaubwürdig und extravagant vorzukommen scheint. Das Buch enthalte “Trotz alledem (...) viele interessante und anregende Ideen, (...)”. [2]

In der Rezension des 1987 auf Englisch erschienenen Buchs Der Sündenbock bezichtigte dieselbe Zeitschrift Girard, "dazu zu neigen, sich in die Rolle des Sündenbocks zu versetzen", um sich von seinen Kritikern zu verteidigen. "Die Überzeugung, die Schlüssel aller Mythologie zu besitzen und die fieberhafte Entschlossenheit, diese zu verteidigen, ist für so eine ernstzunehmende Untersuchung schädlich (...)". Ferner begrenze sich Girard nicht auf die Mythologie, sondern verlange, dass seine Theorie eine wissenschaftliche Lösung des Enigmas von Ursprung und Wesen der Religion liefere: "Seine Behandlung der Mythen ist aber so nachlässig", dass er nicht mal die Tatsache beachtet, dass es sich dabei "zumindest in vielen Fällen um Götter und nicht um Menschen handelt.". "All das ist schade, weil Girard über die Texte, die er untersucht, erleuchtend sein kann, wenn es nicht um seine großartige Theorie geht". [3]

Vielfach ist auch Girards katholischer Glaube das Ziel der Kritik gewesen: Girard lasse sich allein von seinem katholischen Glauben in seinen Untersuchungen beeinflussen. [4] Er vernachlässige die Untersuchung anderer Religionen; drucke die katholische Angst vor der "Weltlichkeit der Modernen"; benutze "theologisch-kulturkämpferische Aussagen über den 'Neopaganismus'" und verkenne Nietzsches Leistungen. [5]

Isolierte Formulierungen von Girard sind ferner von verschiedenen Autoren dazu benutzt worden, um die eigene Weltanschauung vorzutragen. [6]

Während Girards Theorie in der Psychoanalyse oft, von wichtigen Ausnahmen abgesehen, [7] auf Ablehnung stößt – eine Ablehnung, die eher auf die literarturkritische Arbeitsweise seines Autors und auf die unzureichende Beachtung klinischer Erkenntnisse [8] als an dessen Kritik der Freudschen Theorien zurückzuführen ist – und Literaturwissenschaftler den Reduktionismus seiner Methode kritisieren, hat sie dagegen in theologischen Kreisen eine vorwiegend positive Resonanz gefunden. [9] Im übrigen hat Girards Werk kaum Beachtung in den philosophischen Debatten Ende des 20. Jahrhunderts gefunden. [10]

Anmerkungen und Quellen

  1. Folgende Darstellung der Theorie René Girards ist im wesentlichen aus Des choses cachées depuis la fondation du monde (1978) und Der Sündenbock (fr. Erstausg. 1982) entnommen.
  2. "...in order to prove such an ambitious hypothesis, M. Girard chooses with studied care some aspects – often, in fact, marginal and accidental ones – of sacrifices celebrated here there and everywhere (...) The selection of quotation that he believes to support his thesis could hardly be more superficial, artificial and out of context."
    "Yet M. Girard extends his already sufficiently broad hypothesis further still, so as to explain nearly every. (...) A hypothesis so vaguely formulated, so wide in scope and content, so unverifiable, and based on such superficial evidence, appears to be, as the author himself suspects, "fantaisiste et fantastique", "excessive et extravagante". (...) In spite of all this, the book contains many interesting and stimulating ideas (...)", Times Literary Supplement, S. 1192, 5. Okt. 1973.
  3. "'If you try to hard to prove something you prove nothing'. He directs the remark against all those critics, the 'ethnologists', the 'positivistic philologists' etc, in relation to whom Girard is more than inclined to cast himself in the role of scapegoat (...)"
    "But the conviction of having the Key to all Mythologies and the feverish determination to defend this, come what may, (...) is as damaging to such serious exploration in Girards' case as it was in poor Casaubon's." (...)
    "But in fact his treatment of his myths is so inattentive that he does not even stop to consider the conceptual importance of the fact that, in many instances at least, they concern gods, rather than men. All this is pity, because when his grand theory is not in question, Girard can be illuminating about the texts he considers.", Times Literary Supplement, S. 290, 20. März. 1987.
  4. Arnold Künzli, Gotteskrise: Fragen zu Hiob; Lob des Agnostizismus, Hamburg, 1998
  5. Peter Sloterdijk, Nachwort zu Girards Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz, München, 2002
  6. Siehe als Beispiel: Botho Strauß, Anschwellender Bocksgesang, Der Spiegel, 6/1993
  7. Eberhard Th. Haas, ... und Freud hat doch recht. Die Entstehung der Kultur durch Transformation der Gewalt, Gießen 2002
  8. Diese Kritik bezieht sich hauptsächlich auf Girards Formulierung des mimetischen Begehrens.
  9. Siehe: Raymund Schwager, Homepage des Colloquium on Violence & Religion, Alejandro Llano, L’antropologia religiosa di René Girard, in Studi Cattolici. Milano. 2004. Vol. 519. 380-386 - PDF.
  10. Gianni Vattimo ist einer der wenigen Philosophen, die einen Einfluss des Werks Girards auf die eigene Philosophie einräumen.

Werke

  • Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. LIT, Münster 1999, ISBN 382583655X (Mensonge romantique et vérité romanesque, 1961, ISBN 2012789773)
  • Dostoïevski : du double à l'unité, 1963
  • Das Heilige und die Gewalt. Fischer, Frankfurt a. M. 1994, zuletzt Düsseldorf, Patmos 2006 (La Violence et le sacré, 1972, ISBN 3491694302)
  • Critiques dans un souterrain, 1976, ISBN 2253032980
  • Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses. Herder, Freiburg 1983 (Des choses cachées depuis la fondation du monde, 1978, ISBN 2253032441), Dt. Ausgabe um die Beiträge der Gesprächsteilnehmer und um Buch III gekürzt.
  • Der Sündenbock. Benziger, Zürich 1988, ISBN 3545700011 (Le Bouc émissaire, 1982, ISBN 2253037389)
  • Ausstossung und Verfolgung. Fischer, Frankfurt a. M. 1992, ISBN 3596110904 (Le Bouc émissaire, 1982, ISBN 2253037389)
  • Hiob – ein Weg aus der Gewalt. Benziger, Zürich 1990, ISBN 3545700119 (La Route antique des hommes pervers, 1985, ISBN 2253045918)
  • A Theater of Envy: William Shakespeare, 1991, ISBN 1587318601
  • Wenn all das beginnt ... Dialog mit Michel Treguer. LIT, Münster 1997, ISBN 3825831167 (Quand ces choses commenceront, 1994)
  • Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums. Hanser, München 2002, ISBN 3446202307 (Je vois Satan tomber comme l'éclair, 1999)
    • Rezensionen: Hartmann Tyrell in FAZ, 5.11.2002; Karsten Laudien in Die Welt, 28.9.2002; Adolf Holl in Die Presse, 22.11.2002.
  • Celui par qui le scandale arrive, 2001, ISBN 2220050114
  • Die verkannte Stimme des Realen. Eine Theorie archaischer und moderner Mythen. Hanser, München 2005, ISBN 3446206809 (La voix méconnue du réel, 2002, ISBN 2253130699), Dt. Ausgabe um einen Beitrag gekürzt.
  • Le sacrifice, 2003, ISBN 2717722637
  • Les origines de la culture, 2004, ISBN 2220053555
  • Wissenschaft und Christlicher Glaube. Übersetzung von S. Heath. Hrsg. von E. Herms. Mohr Siebeck, Tübingen 2007, ISBN 9783161492662
  • Mimesis and Theory: Essays on Literature and Criticism, 1953-2005. Hrsg. von Robert Doran. Stanford: Stanford University Press, 2008.[1]

Literatur

Bücher

  • Chris Fleming: René Girard: Violence and Mimesis. Polity, Cambridge 2004, ISBN 0745629482
  • Michael Kirwan: Discovering Girard. Darton, Longman & Todd, London 2004, ISBN 0232525269
  • Wolfgang Palaver: René Girards mimetische Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen. 3. Auflage. LIT, Münster 2008, ISBN 9783825834517

Aufsätze und Artikel

  • Odo Marquard: Exkulpationsarrangements. Bemerkungen im Anschluss an René Girards soziologische Theologie des Sündenbocks S.15-54 in: Willi Oelmüller, Worüber man nicht sprechen kann; Neue Diskussionen zur Theodizeefrage, Fink, München 1994 ISBN 3770529219
  • Konrad Thomas: René Girard. In: Stephan Moebius & Dirk Quadflieg (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. Wiesbaden: VS- Verlag für Sozialwissenschaften, 750 S., 2006, ISBN 3-531-14519-3
  • Andreas Hetzel: "Opfer und Gewalt. René Girards Kulturanthropologie des Sündenbocks", in: Wilhelm Gräb/Martin Laube (Hg.), Der menschliche Makel. Zur sprachlosen Wiederkehr der Sünde, Loccumer Protokolle 11/ 2008.
  • Eckart Britsch: Eine missglückte Theorie von der versöhnenden Wirkung des Opfers. Um Streit beizulegen, wird ein Außenseiter getötet. Das verbindet alle Kulturen, behauptet René Girard. In: Rheinischer Merkur Nr. 36, 5.9.2002.

Weblinks


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