Mundöffnungszeremonie

Mundöffnungszeremonie
Mundöffnungsritual in Hieroglyphen
F13
X1
D21
Z1

Wepet-ra
Wpt-rʒ
Öffnung des Mundes
Mundöffnungsritual (Papyrus Hunnefer um 1290 v. Chr.)

Das Mundöffnungsritual (auch Mundöffnungszeremonie) stellte ein altägyptisches Opfer- und Mumienritual dar, welches mittels einer festgelegten szenischen Abfolge von magisch-rituellen Einzelhandlungen sowohl an Statuen als auch an frisch fertig gestellten Mumien Verstorbener vollzogen wurde. Es diente deren vermeintlicher Beseelung und Befähigung, alle körperlichen Funktionen zu gebrauchen, und somit der Statue bzw. des Verstorbenen Ausstattung mit gottgleichen Wirkungskräften.

Bereits im Alten Reich ließen die Könige von sich selbst zu Lebzeiten Statuen erstellen, die bis zum Tod in besonderen Räumlichkeiten aufbewahrt wurden. Mit Eintritt des Todes überführte das priesterliche Horusgeleit die noch liegende göttliche Statue des Königs in den heiligen Schrein als Gleichsetzung von Osiris. Nach Beendigung der siebzigtägigen Einbalsamierung und dem unmittelbar folgenden Begräbnis öffneten die Horus-Diener den Mund der nun stehenden göttlichen Königsstatue, um sie als Horus in seiner Eigenschaft als Sohn des Osiris zu beleben und abschließend im Schrein in aufrechter Haltung zu platzieren.[1]

Inhaltsverzeichnis

Ausbildung des Rituals im Alten Ägypten

Das Ritual hat seinen Ursprung in prädynastischer Zeit. Zunächst war es ausschließlich auf Gottesstatuen beschränkt und umfasste „die (nicht symbolische) Fertigstellung der Statuen in der Tempelwerkstatt als im Groben fertiges Werkstück, ihre Ausrüstung und Bekleidung und die Überführung in den Statuenschrein.“[2]. Im Laufe der Zeit wurde der Prozedur offenbar auch eine tiefer gehende esoterische Bedeutung zugemessen, und beginnend in der Thinitenzeit, also im Verlaufe der ersten beiden altägyptischen Dynastien, wurde dann das bis dahin ausschließliche Statuenritual auch an Verstorbenen (d. h. an deren Mumien) zelebriert. Mindestens seit der 4. Dynastie ist das Ritual bei Privatbegräbnissen nachweislich.

Das Alte Reich wusste zudem bereits zwischen dem Opferritual, welches die Mundöffnung unmittelbar vor der Versorgung der Statue bzw. Mumie mit Opferspeise im Kern hat, und dem Mumienritual, d.h. der Beseelung des Leichnams, zu unterscheiden. – Es wird davon ausgegangen, dass das vollständige Ritual erst zu Beginn des Neuen Reiches geschaffen war, und alle späteren Wiedergaben auf diese Vorlagen zurück gehen.[3] Praktiziert wurde es bis zum Ende der ägyptischen Antike, wo schließlich gar Uschebtis und mumifizierte Tiere dem Ritual unterzogen wurden. Im Laufe der Zeit diente es im Rahmen von Tempelweihen sogar der «Belebung» des Tempels.

Über Inhalt, szenische Abfolge und Dialoge des Rituals weiß man bereits aus den Pyramidentexten und anderen Artefakten; komplexe Darstellungen sind hingegen erst aus dem Neuen Reich bekannt, so zum Beispiel aus den Gräbern des Wesirs Rechmire, des Königs Sethos I. und anderer. Auch sind durch diverse Papyri, Tempelinschriften sowie Ostraka szenische Gesamt- oder Einzeldarstellungen auf die Neuzeit gekommen.

Inhalt und Bedeutung

Aus wenig einzusehenden Gründen beschränken sich populärwissenschaftliche Darstellungen heutzutage leider meist auf die Beschreibung des rein „handwerklichen Akt“ der Mundöffnung, der vermittels verschiedener ritueller Gerätschaften und bei deren Handhabung vorgetragener, meist unerklärter magischen Aussagen stattgefunden haben soll. Nun war aber war selbst diese scheinbar rein gestische Aktion, welche freilich die einprägsamste des gesamten Rituals scheinen will, nicht allein auf die Öffnung des Mundes gerichtet, vielmehr bezog er Augen, Nase und Ohren mit ein, wobei diese Sinnesorgane stellvertretend für alle Körperorgane angesehen wurden. Schon insofern war das Ritual also auf die Gesamtperson der Statue bzw. des Verstorbenen gerichtet.

Das wird umso offensichtlicher, wenn man die begleitenden und zum Teil sogar weit gewichtigeren Handlungen betrachtet, die zum komplexen Mundöffnungsritual gehörten. So die Reinigung der Statue bzw. des im Sarkophag stehenden Leichnams mit verschiedenen Ingredienzien, weiterhin die zeremonielle Beseelung, Bekleidung, die Salbung und Huldigung der Statue bzw. des Verstorbenen und somit deren Ausstattung mit götterähnlichen Begabungen. Als eigentliches Ziel des gesamten Rituals ist jedoch das abschließende Hauptopfer anzusehen [4], welches der rituellen Speisung des Opferadressaten diente. Kurz und bündig: Erst nachdem die Statue (bzw. der Verstorbene) vermittels einer Vielzahl von ganzheitlichen magisch-rituellen Handlungen, unter denen der „handwerkliche Akt“ der Mundöffnung nur einer war, ihrer lebenssichernden Körperfunktionen befähigt war, konnten sie nach hinreichender Labung mit heiliger Opferspeise ihrer endgültigen esoterischen Bestimmung nachkommen.

Handelnde Personen

Hauptsächlich vollzogen ein handelnder Sem-Priester (sm) – der im Grunde die symbolische Rolle als ältester Sohn des Verstorbenen (bzw. als Kronprinz) darstellte – und ein, diesen vornehmlich rezitierend begleitender Vorlesepriester (hrj-ḥbt) das Ritual. In Einzelszenen oder einzelnen Szenenfolgen traten weitere Personen auf: so zum Beispiel der „liebende Sohn”, verschiedene Handwerker, ein lediglich als Hemnetjer (ḥm-nṯr = Gottesdiener) bezeichneter Priester, eine als „Semer“ (smr) bezeichnete Persönlichkeit sowie Schlachtpersonal für die während des Rituals zu vollziehenden rituellen Schlachtungen.

In dem aufwändigen, geradezu bühnenmäßig zur Aufführung kommenden Ritual hatten alle Handelnden festgesetzte Rollen und Ritualtexte vorzutragen, wobei die Statue bzw. der menschenähnlich gestaltete Mumiensarg, auf einer Sandaufschüttung stehend und mit dem Gesicht nach Süden ausgerichtet, sich im Mittelpunkt des Geschehens befand.

Opfer, verwendete Geräte, Kleidungsstücke und sonstiges Beiwerk

Neben den Opfertieren, beispielsweise Rinder und Ziegen sowie Gänse, sind mitunter größere Mengen Brote, Bier und andere, zum Teil nicht mehr übersetzbare Gaben im Ritual belegt, deren beste Teile dem Handlungsadressaten symbolisch zu Speise und Trank dargereicht wurden.

An Gerätschaften kamen bei dem eigentlichen Mundöffnungsakt neben verschiedenen, dechsel- und meißelartigen sowie anderen Ritualwerkzeugen auch das so genannte Peseschkaf (psš-kf) zum Einsatz. Ebenso ein schlangenförmiger, teils zusätzlich mit einem Uräus bekrönter "Zauberstab" (wr-ḥkʒw = "der Zauberreiche")[5] sowie ein "Finger aus Gold".

Die Statue beziehungsweise der Verstorbene erhielt zudem das Ritual der Lösung, begleitet von magischen Reinigungssprüchen, vornehmlich mit geweihtem Wasser (als Gleichsetzung mit Osiris), durch die symbolische Darreichung von Natronkügelchen sowie durch Räucherwerk. Gesalbt wurden sie mit verschiedenen Ölen.

Die meisten der im Mundöffnungsritual Handelnden sind in der üblichen, zeitgenössischen Kleidung dargestellt. Hingegen war der das Ritual leitende Sem-Priester überaus markant mit einem Pantherfell begleitet dargestellt. Dieses legte er jedoch für jene Szenenfolge ab, in denen die Statue handwerklich endgefertig und von ihm die erste Mundöffnungsgeste („Mundberührung mit dem kleinen Finger“) vorgenommen wurde. Während dieser Szenen war er mit dem so genannten knj-Brustlatz angetan, einem weiteren, oft netzartig dargestelltem und Brust und Schultern bedeckenden Ritualbekleidungsstück. Die Statue bzw. der Sarkophag wurden während des Rituals symbolisch mit verschiedenfarbigen Stoffstreifen bzw. typische Kleidungsstücken "bekleidet".

Ritualvollzug

In der Literatur werden 75 Einzelszenen, zum Teil mit untergliederten Teilszenen, aufgezählt, die jedoch nicht immer alle zu jeder Zeit und Gelegenheit rituell aufgeführt wurden. Auch sind die einzelnen Szenen unterschiedlichsten Alters: Deren Älteste finden sich in den Pyramidentexten und scheinen bereits dort archaische Gebräuche wiederzuspiegeln, andere sind weit jüngeren Datums und aus dem Tempel-, dem Königs- oder dem Totenkult eingeflossen, weshalb sie nicht nur als Wiederholungen und Dopplungen vorkommen, sondern mitunter sogar als sinnwidrige "Fremdkörper" im Ritualfluss anmuten.

Bei genauer Betrachtung werden innerhalb der genannten Anzahl zudem Einzelszenen und Szenenfolgen deutlich, die nur für den Ritualvollzug an Statuen gedacht waren, während sich andere ausschließlich an Verstorbene richten. Bei gleichem übergeordneten Zweck gab es nämlich doch gewisse notwendige Differenziertheiten: Als Statuenritual stand die Zeremonie im Sinne der schließlichen Fertigstellung und Belebung der Statue quasi zwischen deren Herstellungsstätte und ihrem endgültigen Aufstellungsort. Als Totenritual bildete sie hingegen die Zäsur zwischen abgeschlossener Balsamierung / Einsargung und der Beisetzung des Mumiensarges im Grab. Demgemäß fand das Ritual auch an verschiedenen Orten statt: Dabei werden das Goldhaus (als Werkstatt zur Herstellung der Statue), das Natronhaus (als Reinigungsstätte), der Opferhof (als Ort der Schlachtungen der Opfertiere) sowie die so genannte ḥḍ-Kapelle (Ort, der die Statue aufnahm) genannt. Als Teil des Beisetzungsrituals eines Verstorbenen wurde der Akt gewiss in einem Vorraum der Grabkammer abgehalten. [6]

Wesentliche Szenarien des Mundöffnungsrituals

  • Aufstellung der Statue auf eine Sandschüttung, mit dem Antlitz nach Süden
  • Reinigungen mit Wasser, Natron, Weihrauch
  • Beauftragung der Handwerker mit der Fertigstellung der Statue
  • Mundberührung mit dem kleinen Finger
  • Fertigmeldung und Übergabe der Statue
  • erste Opferungen/rituelle Schlachtungen
  • symbolträchtige Darreichung des Herzens und des Schenkels eines Rindes
  • eigentliche Mundöffnung vermittels mehrerer, verschiedenen bezeichneten und dechselartig geformter Geräten sowie einem ähnlich geformten "Zauberstab", auch durch verschiedene handelnde Personen;
  • weitere Opferungen/rituelle Schlachtungen
  • Bekleidung und Schmückung der Statue
  • Salbung und Räucherung
  • Überreichen d. Herrschaftsinsignien
  • abschließendes Hauptopfer und rituelle Speisung der Statue
  • Anrufung verschiedener Gottheiten
  • Abtransport zum Aufstellungsort (beim Verstorbenen: in die Grabkammer)

Was hier vornehmlich für die Statue beschrieben ist, trifft sinngemäß auch für den aufrecht stehenden Mumiensarkophages eines Verstorbenen zu; erwähnte Auslassungen und/oder Dopplungen in den unterschiedlichen Ritualanlässen inklusive.

Bei exklusiveren Statuen oder höchst erlauchten Verstorbenen konnte das Ritual, nachweislich in der Spätzeit, mitunter mehrere Tage währen. Bei weniger bedeutenden Anlässen wurden – wohl schon aus Kostengründen – vermutlich geraffte Szenenfolgen mit eingeschränktem Personalbesatz und Opferaufkommen zelebriert.

Literatur

  • Eberhard Otto: ’’Das ägyptische Mundöffnungsritual’’, Teil I: Text/Teil II: Kommentar; Wiesbaden 1960, ISSN 0568-0476; 3,1 und 3,2;
  • Hans-W. Fischer-Elfert: ’’Die Vision von der Statue im Stein : Studien zum altägyptischen Mundöffnungsritual’’; Heidelberg 1998, ISBN 3-8253-0678-X;
  • Wolfgang Helck/Eberhard Otto: ’’Kleines Lexikon der Ägyptologie’’, Wiesbaden 1999; ISBN 3-447-04027-0

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Siegfried Schott: Der Denkstein Sethos`I. für die Kapelle Ramses`I. in Abydos. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1965, S. 71-73.
  2. Otto, Mundöffnungsritual, Teil II: Kommentar, S. 1
  3. a.a.O., S. 10
  4. a.a.O., S. 26
  5. a.a.O., S. 19
  6. a.a.O., S. 131, 147

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