Mündliche Literatur

Mündliche Literatur

Als Erzählkultur bezeichnet man die soziale und kulturelle Einbettung von mündlichen Erzählungen (mündliche Überlieferung), die teils aus der Erinnerung teils neuerfunden zwischen den Angehörigen kleiner Gemeinschaften hin und herfließen. Wesentlich ist die Unmittelbarkeit der beteiligten Personen im Gegensatz zur Mittelbarkeit der Erzählung als Literaturform.


Inhaltsverzeichnis

Formen der mündlichen Literatur

Vorkommen

Überall wo Menschen vertraut miteinander umgehen, Muße und Phantasie wertgeschätzt werden und man sich die Zeit nimmt, frei zu erzählen (Synonym: fabulieren) und zuzuhören, gibt es auch im 21. Jahrhundert der Hektik und Arbeitszeitverdichtung noch Inseln der Erzählkultur. Wenn ein Elternteil sich Zeit nimmt, dem eigenen Nachwuchs nicht nur Erzähl-Musikkassetten zu schenken sondern eigens selbsterfundene Geschichten - und denen der Kleinen aufmerksam zuhört, dann ist das praktizierte Erzählkultur. Und wenn später in der Kinder- oder Jugendclique einzelne besonders "saftige", witzige Erlebnisse für die eigene Selbstdarstellung in der Gruppe "erfinden" und ausschmücken, dann ist das ein Stück Erzählkultur. In den Situationen des Flirtens oder Sichherausredens, die Kreativität erfordern, da ereignet sich die Erzählkultur des Alltags. Eine Variante der Pflege der Erzählkultur ist auch das Erzählcafé, eine öffentliche Veranstaltung, in der sich Menschen erzählen und einander zuhören können (70er Jahre des 20. Jahrhunderts).

Geschichte

In der vorindustriellen Welt der Geschichte oder der "Dritten Welt", die noch nicht von technischen Unterhaltungsmedien wie TV, Radio oder Abspielgeräten durchflochten und geprägt war, mussten sich die Menschen ihre Unterhaltung durch eigene Aktivitäten wie singen oder eben Erzählen selber schaffen. Das geschah zum Beispiel in der Tradition der ländlichen "Spinnstuben" beim gemeinschaftlichen Verspinnen der Wolle oder Pflanzenfasern.

In einigen Gesellschaften gab es auch Menschen, die ihr erzählerisches Talent zu einem Beruf, dem Geschichtenerzähler, machen konnten. In Elias Canettis Erzählungssammlung "Die Stimmen von Marrakesch" gibt es eine Schilderung dieser Tradition am Beispiel eines marokkanischen Marktplatzes, die die Kunstfertigkeit jener stets von Menschentrauben umlagerten Geschichtenerzählerprofis hervortreten lässt.

Wissenschaftlich dokumentiert und untersucht werden diese historischen Vorkommen von Erzählkultur durch die Disziplinen der Völkerkunde, der Europäischen Ethnologie und der Oral Poetry.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gewinnt die Erzählkultur in Wissenschaft und Pädagogik wieder an Bedeutung - vermutlich im Zusammenhang mit oder in Folge der der Diskussion um Förderung von Sprache und Sprachkultur während der Entwicklung des Kindes. Zu erkennen ist die Modifikation der Einstellung an neueren Veröffentlichungen im Bereich Literaturwissenschaft (Monika Fludernik, 2006) aber auch in pädagogischen Institutionen (Claus Clausen, 2006). Eine überraschende Entwicklung im Angesicht der Übermacht der neuen Medien und von vielen Pädagogen offenbar noch gar nicht wahrgenommen. Siehe auch: Erzählcafé

Literatur

  • Brednich, Rolf: "Die Spinne in der Yucca-Palme. Sagenhafte Geschichten von heute. 3. Auflage. München 1995"
  • Clausen, Claus: "Mit Kindern Geschichten erzählen, Cornelsen Verlag Skriptor, Berlin 2006, ISBN 978-3-589-05100-7
  • Derungs, Kurt (Hrsg.): "Die ursprünglichen Märchen der Gebrüder Grimm. Handschriften, Urfassung und Texte zur Kulturgeschichte. Bern 1999"
  • Faber, Richard: "Sagen lassen sich die Menschen nichts, aber erzählen lassen sie sich alles: Über Grimm-Hebelsche Erzählungen, Moral und Utopie in Benjaminischer Perspektive". Würzburg 2000
  • Fludernik, Monika: Einführung in die Erzähltheorie, WBG, Darmstadt 2006, ISBN 978-3-534-16330-4
  • Haymes, Edward R.: "Das mündliche Epos. Eine Einführung in die >Oral Poetry< Forschung". Stuttgart 1977 (= M 151 Sammlung Metzler)
  • Jolles, Andre: "Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz". Tübingen 1999
  • Gerhard Neweklowsky: "Totenklage und Erzählkultur in Stinatz im südlichen Burgenland : kroat. u. dt.". Ges. zur Förderung Slawist. Studien, Wien 1987. 315 S. Schriftenreihe: Wiener slawistischer Almanach : Sonderband ; 19 : Linguistische Reihe
  • Olschki, Firenze 1999. 182 S. Schriftenreihe: Lares ; Anno 55, n. 1-2. Zusammenfassungen in engl., französ., italien. Sprache
  • Leander Petzoldt: "Überlieferung und Deutung : zur historischen Funktion der Volkserzählung und ihrer Instrumentalisierung in der Gegenwart ; Vorträge des 11. Interdisziplinären Symposions zur Volkserzählung, Innsbruck vom 5. - 8. Oktober 1997".
  • Christoph Schmitt: "Homo narrans : Studien zur populären Erzählkultur ; Festschrift für Siegfried Neumann zum 65. Geburtstag". Waxmann, Münster 1999. 431 S. Schriftenreihe: Rostocker Beiträge zur Volkskunde und Kulturgeschichte 1 ISBN 3-89325-767-5

Siehe auch

Weblinks

  • STORY Zeitschrift und Plattform zur Förderung der Erzählkultur
  • Goldmund, gemeinnütziger Verein zur Förderung der Erzählkultur in Europa e.V.

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