Neiding

Neiding

Neidingswerk ist eine deutsche Wortschöpfung, die im Zuge der Übersetzung altnordischer Literatur erforderlich wurde und dem dortigen Begriff "níðingsverk" entspricht.

Dabei handelt es sich um eine schimpfliche und zutiefst verächtliche Handlung.

Inhaltsverzeichnis

Das Níð

Der erste Teil des Wortes ist Níð und bedeutet "Schimpf" und "Ehrlosigkeit" und ist ein ausschließlich nordgermanisches Wort. Es bezeichnet bestimmte Arten gefürchteter und mit hohen Strafen belegter Beleidigungen. Früher war man der Auffassung, dass sich der Schimpf im wesentlichen auf die Verdächtigung der Homosexualität beziehe. Aber der Zusammenhang mit den Begriffen "argr" und "'ergi", die nicht nur sexuelle Verhaltensweisen, sondern auch Feigheit und anderes schmachvolles Verhalten, das den Nordleuten mit der Ehre eines Mannes unvereinbar erschien, bezeichnen, zeigt, dass Níð umfassender verstanden werden muss. Diejenigen, gegen die sich das Níð richtete, waren Personen, die schwere Schandtaten begangen hatten oder denen man diese unterstellte. Solche Handlungen wurden unter dem Begriff Neidingswerk zusammengefasst und die Personen als Neiding bezeichnet.

Im Gulaþingslov werden Níð durch Worte und Verse und Níð durch Holzpfähle und Schnitzereien unterschieden.

Níð durch Worte

Das Níð durch Worte hatte die Bezeichnung "Tunguníð". Es gibt nur sehr wenige Belege für diesen Begriff, obgleich häufig von schweren Beleidigungen berichtet wird. In der Egils saga wird berichtet, dass ein solches tungunið in eine Neidstange mit Runen eingeritzt worden sei. Nach den sehr detaillierten Vorschriften über die Níðdichtung in den alten nordischen Gesetzen scheint es eine sehr kunstvolle Tradition dieser Spottdichtung gegeben zu haben. So wird die Verhöhnung durch übertriebenes Lob genannt. Die entsprechenden Verse sind aber in der Regel nicht überliefert.[1] Während der Missionszeit waren jedenfalls in Island die christlichen Geistlichen solcher Verhöhnung besonders ausgesetzt. So dichtete ein unbekannter Skalde Islands über Þorvaldr viðforli (den Weitgereisten), der 980 als Christ nach Island heimgekehrt war, und seinen Freund Bischof Fredrik, der Island missionieren wollte:

Der Bischof hat getragen
neun Kinder,
und Þorvaldr ist
der Vater von allen.

Das sollte wohl eine Anspielung auf "Kinder Gottes" und 9 Bekehrte sein, und die Bischofstracht konnte auch als feminin betrachtet werden. Außerdem trug ein Missionar keine Waffen, ein weiterer unmännlicher Zug.

Die Hohnstange

Hohnstange ist der deutsche Ausdruck für das altnordische Wort "Níðstöng". Dabei handelte es sich um einen Holzpfahl, der mit Zeichen versehen eine andere Person öffentlich verhöhnen sollte. Das Wort kommt nur in der Grágás und in der Egils saga Skalla-Grímssonar vor. Der damit bezeichnete Sachverhalt wird aber öfter beschrieben. Sonst wird dafür das Wort "Níð" verwendet.

In der Regel handelte es sich um einen Holzpfahl, aber es gab offenbar auch zusammengesetzte Konstruktionen, wie folgende Beschreibung zeigt:

„Það voru karlar tveir og hafði annar hött blán á höfði. Þeir stóðu lútir og horfði annar eftir öðrum. Það þótti illur fundur og mæltu menn að hvorskis hlutur væri góður þeirra er þar stóðu og enn verri þess er fyrir stóð. Þórði þótti ill sú tiltekja og hneisa er níð var reist í landi hans …“

„Es waren zwei Männer, der eine hatte einen blauen Hut auf dem Kopf. Sie standen vornübergebeugt, der eine vorn, der andere hinten. Man sagte, das sei ein böser Streich, und das Los keines der beiden, die da stünden, sei gut, schlimmer jedoch das Los dessen, der vorne stehe. Thordur hielt diese Tat und Beleidigung für schlimm, weil man sie auf seinen Land errichtet hatte.“

– Bjarnar saga Hítdælakappa Kap. 17.

Die Verwendung eindeutig sexueller Darstellungen war aber wohl die Ausnahme, denn sie kommt außer an dieser Stelle nur noch in der Gísla saga Súrssonar vor.

Normalerweise wurde ein geschnitzter Holzpfahl mit einem Männerkopf aufgestellt, auf den ein Pferdeleib oder Pferdekopf aufgespießt wurde.[2] Sogar Saxo Grammaticus beschreibt einen solchen Pfahl.[3] Die Aussagen der Sagas sind aber sehr wenig detailliert, so dass man über die konkrete Ausgestaltung nur wenige Beispiele hat.

In einer englischen Quelle aus dem Jahre 1272 wird eine Stange mit einem Hirschkopf erwähnt, die den König mit seinen Waldhütern lächerlich machen sollte. Aus Deutschland ist ein Flugblatt von 1621 überliefert, das sich gegen den Kurfürsten der Pfalz Friedrich V. richtete. Darauf ist ein auf eine Stange gesetzter Pferdekopf abgebildet. Diese Stange sollte, wie der Zusammenhang ergibt, nicht nur schmähen, sondern wurde auch als Mittel gegen Ratten und Ungeziefer betrachtet.[4]

Níð und Magie

Die ungewöhnlich harten Strafen und die anderen Folgen für ein unberechtigt ausgesprochenes Níð haben die Vermutung aufkommen lassen, dass es sich um mehr als nur eine Beleidigung gehandelt habe. Manche Forscher meinten, dass man dem Níð auch magische Kräfte zuschrieb.[5] Sicher ist, dass oft magische Rituale mit Errichtung einer Hohnstange verbunden wurden. So rief Egill Skallagrimsson bei der Errichtung der Hohnstange gegen König Erich Blutaxt die Landesgeister (Landvættir) auf, sich gegen den König und seine Frau zu stellen. → Heidentum. Aber es gibt andere Stellen, wo keinerlei magische Handlung mit der Errichtung der Hohnstange verbunden ist, z. B. wenn sie lediglich das Fernbleiben vom vereinbarten Holmgang ahndet. Daher wird man wohl von einer möglichen aber nicht notwendigen Verbindung von Níð und Magie ausgehen müssen.

Das Neidingswerk

Dem Wort níðingsverk entspricht deutschen Sprachbereich das Wort "Meintat". Somit ist Neidingswerk zunächst nicht ein Rechtsbegriff sondern ein moralischer Begriff. Die negative moralische Wertung, die zur Verachtung führt, ist in den Sagas vielfach belegt, z.B. Ausbleiben beim vereinbarten Holmgang,[6] Feigheit beim Holmgang,[7] Die Weigerung, einen Fehdegenossen zu beköstigen,[8] unterlassene Rache[9] oder Verrat des Woltäters[10] In diesen Fällen ist eine Straftat nicht gegeben. In christlicher Zeit kam der Abfall vom christlichen Glauben hinzu. Der Abtrünnige war ein guðníðingr (Verächtlicher vor Gott).[11]

Aber es gibt auch rechtlich strafwürdige Neidingstat, z. B. Angriff auf den leiblichen Vetter oder auf einen Schwurbruder oder Tötung eines achtjährigen Knaben.[12]

Die isländische Grágás erwähnt das Neidingswerk nicht. Aber die von Magnus Lagabøte für Island erlassene Jarnsiða und in der Jónsbók, beide aus dem Ende des 13. Jahrhunderts, haben den Begriff des Neidingswerkes aus den älteren norwegischen Gesetzen übernommen. Im Gulaþingslov, im Frostaþingslov, im älteren Bjarkørett und im Landrecht von Magnus Lagabøte finden sich Bestimmungen zum Neidingswerk. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Landesverrat und Heerfahrten gegen das eigene Land. Hinzukommen schändliche Formen des Totschlags, Verstümmelungen, Leichenfledderei. Der Neiding genannte Täter verliert sein gesamtes Vermögen. Das Äldre Västgötalag fasst die als Neidingswerk zu qualifizierenden Taten in einem eigenen Abschnitt "Orbotæmal" zusammen und fügt die Seeräuberei und den Viehmord hinzu. Die Rechtsfolge ist die "schwere Friedlosigkeit" und der Verlust des gesamten Vermögens.[13] Aber diese Rechtsfolge ist nicht das gemeinsame Merkmal. Der Mord in der Kirche ist im Abschnitt über die Kirche als unbüßbares Neidingswerk, der Einbruchsdiebstahl in die Kirche als büßbares[14] Neidingswerk bezeichnet. Gemeinsam ist ihnen vielmehr die niedrige Gesinnung, die Schändlichkeit der Tat. Im Yngre Västgötalag werden weitere Straftaten hinzugefügt, insbesondere Bruch des Eidschwurs, also Bruch eines Vergleichs. Aber auch Notzucht wird nun genannt. Der Täter wird friedlos im ganzen Land. Aber er kann sich auf Fürbitte des Opfers für 40 Mark den Frieden zurückkaufen. Eine andere Gruppe, die die Tötungen und Verstümmelungen umfasst, ist nicht mehr unbüßbar, sondern wird durch den doppelten Satz der höchsten Buße gebüßt. Nach jüngeren Zusätzen zum Gesetz wird die eine Hälfte für die Tat, die andere für das Neidingswerk verhängt.[15] In einem dritten Teil werden die Verwandtenmorde zusammengefasst, die nicht im Inland sondern nur durch eine Pilgerfahrt nach Rom gebüßt werden können.

Das Östgötalag (ca. 1290) kennt das Neidingswerk selbst nicht, sondern nur den Begriff als Schimpfwort, das mit drei Mark Buße belegt ist.

Magnus Eriksson geht in seinem Landslag (um 1350) wieder ausführlich auf das Neidingswerk ein. Dazu rechnet er die Totschläge an Eltern, Geschwistern, Kindern und Wehrlosen (Schwimmenden, Schlafenden). Darauf steht nun die Todesstrafe und der Verlust des beweglichen Vermögens.

In Dänemark kommt der Begriff des Neidingswerkes seltener vor. In Waldemars Sjællanske Lov (um 1216) wird der Totschlag aus Rache nach vereinbarter und versprochener Buße oder nach der Zusicherung freien Geleits als Neidingswerk bezeichnet, ist aber mit Vermögensstrafen belegt.[16]

Fußnoten

  1. Almquist S. 140.
  2. Almquist S. 139.
  3. Gesta Danorum V, 3, 7: "obscenitatis apparantus".
  4. Almquist S. 140 unter Hinweis auf A. B. Rooth: "Nidstången och andra stänger." In: Saga og Sed 1991 S. 73–91.
  5. Almquist S. 142 mit weiteren Nachweisen.
  6. Egils saga Kap 21; Vatnsdœla saga Kap. 33.
  7. Svarfdœla saga Kap. 9,14.
  8. Heiðarviga saga.
  9. Njáls saga Kap 116.
  10. Njáls saga Kap 124.
  11. Almquist S. 141.
  12. Beispiele aus Strauch Sp. 944.
  13. Diese Auslegung ist nicht ganz sicher. Sie hängt vom Begriff landi ab, das verlustig geht. Die einen sagen, es handele sich um den Grundbesitz, die anderen meinen, es sei die Heimat, was zum Verlust nur des beweglichen Vermögens und zur Landesverweisung führen würde. Hemmer Sp. 301.
  14. Dreimal neun Mark Buße.
  15. Strauch Sp. 946.
  16. Jørgensen Sp. 300.

Literatur

  • B. Almquist: "Níð". In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Bd. 21. Berlin 2002. S. 139–143.
  • Jens Ulf Jørgensen: "Niddingsværk". In: Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelkalder. Bd. 12. Kopenhagen 1967 Sp. 299–301.
  • Ragnar Hemmer: "Niddingsværk Sverige og Finland)" In: Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelkalder. Bd. 12. Kopenhagen 1967 Sp. 301–303.
  • D. Strauch: "Neidingswerk". In: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte. Berlin 1984. Bd. 3 Sp. 944–947.

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