Perm-36 Gulag-Museum

Perm-36 Gulag-Museum
Eingangsschild Museum

Die Gedenkstätte der Geschichte politischer Repressionen »Perm-36« (ru: Мемориальный музей истории политических репрессий «Пермь-36») ist das einzige Gulag-Museum auf dem gesamten Territorium der ehemaligen UdSSR, das sich auf dem Gelände eines ehemaligen Arbeitslagers befindet. Gegründet und geleitet wird das Museum von der russischen Nichtregierungsorganisation Perm-36.

Inhaltsverzeichnis

Lager

Geschichte des Lagers – von ITK-6 zu Perm-36

Das Lager Perm-36 existierte mehr als 40 Jahre. 1943 wurde es im Dorf Kučino im Bezirk der Stadt Tschussowoi, im Permer Gebiet im Ural gegründet, seit 1946 befindet es sich an seinem heutigen Standort. Von 1946 bis 1972 trug es die Bezeichnung ITK-6 (Arbeitsbesserungsanstalt No.6 - исправительно-трудовая колония №6). ITK-6 war ein typisches Lager seiner Zeit. Während das Gulag-System in den 1930er Jahren aus großen, weit voneinander entfernten Lagern bestand, ging man Ende der 1940er Jahre dazu über, Lagernetzwerke mit kleinen Lagern (um die tausend Häftlinge), die sich unweit voneinander entfernt befanden, zu errichten. Diese Lager waren billig zu erbauen und meist von kurzer Lebensdauer: nachdem die Arbeitsaufgaben erfüllt worden waren (Bau eines Kanals, Holzfällarbeiten), zogen die Häftlinge weiter und die Lager wurden entweder zerstört oder dem Verfall preisgegeben. ITK-6 wurde als Lager für Holzfällarbeiten gegründet. Auf Grund seiner für den Holzabtransport günstigen Lage, direkt am Fluss Tschussowaja, wurde das Lager nach der Rodung der umliegenden Waldgebiete allerdings nicht verlassen, sondern aufgerüstet und technisiert, so dass mit Lastwagen und Traktoren auch weiter entfernt gelegene Waldstücke erreicht werden konnten. Außerdem wurden auf dem Lagergelände Abstellräume und verschiedene Werkstätten, so eine Schmiede und ein Sägewerk, erbaut. ITK-6 war das erste mechanisierte Lager der Region und eines der ersten des Landes. 1952 wurde eine der vier Wohnbaracken zum Küchengebäude mit Speisesaal umgebaut.

Nach Stalins Tod 1953 wurde ITK-6 auf Grund seiner guten Infrastruktur und Ausstattung im Gegensatz zu vielen anderen Lagern nicht geschlossen. Ab 1954 saßen in ITK-6 hochrangige Mitglieder verschiedener staatlicher Organe (Polizei, Geheimdienst, Gerichte) ein, die einst selbst Menschen in die sowjetischen Arbeitslager geschickt hatten. Diesen besonderen Gefangenen kamen eine Reihe von Sonderrechten zu, wie bessere Verpflegung, aber auch das Kulturprogramm des Lagers wurde für sie ausgebaut, so bekamen sie sogar ausländische Filme zu sehen. Allerdings hielt die Verfolgung und Verurteilung der Verbrechen der Gehilfen Stalins nicht lange an, und schon bald saßen nur noch einfache Mitglieder dieser Organe für gewöhnliche Verbrechen in ITK-6 ein.

In dieser Zeit wurden die Sicherheitsmaßnahmen in ITK-6 deutlich verschärft. Der simple Grund dafür: die gute Kenntnis gewöhnlicher Sicherheitssysteme der neuen Häftlinge. Neben einer Verstärkung der Zäune wurden neue Alarm- und Signalisationssysteme installiert. In der Zeit von 1954 bis 1972 diente ITK-6 als einziges Lager der UdSSR für “besondere Zwecke”. Im Zuge der neuen Repressions- und Isolationspolitik der Sowjetregierung gegen politische Dissidenten zu Beginn der 1970er Jahre wurde ITK-6 mit seinen hohen Sicherheitsstandards zum Lager für politische Gefangene. Zu diesem Zweck wurden die Sicherheitsvorkehrungen erneut verschärft: so wurde das alte Ofenheizsystem, das bis dahin die Möglichkeit zum Weiterleiten geheimer Nachrichten gab, durch ein Zentralheizungssystem ersetzt. Auch die Zäune und Alarmsysteme wurden erneut verschärft. 1972 erhielt ITK-6 entsprechend der verschärften Geheimhaltungspolitik eine neue Kodierung: VS-389/36. Daraus leiteten Menschenrechtsaktivisten den Namen „Perm-36 – Lager für politische Häftlinge“ ab.

Neben dem strengen Regime in Perm-36 (in der UdSSR wurden vier Sicherheitsstufen unterschieden: einfaches, verstärktes, strenges und besonderes Regime) wurde in dieser Zeit der Sektor des besonderen Regimes von Perm-36 in Betrieb genommen, der sich einige hundert Meter vom Stammlager entfernt befand. Hier wurden von 1980 bis 1987 die “besonders gefährlichen Wiederholungstäter” der “besonders gefährlichen Staatsverbrecher” 24 Stunden am Tag in ihren Zellen eingesperrt gehalten. Diese Gefangenen hatten wegen “Verbrechen gegen den sowjetischen Staat” (Artikel 70 des Strafgesetzbuchs der UdSSR: „antisowjetische Agitation und Propaganda“) Haftstrafen abgesessen und waren dann erneut wegen ähnlicher “Verbrechen” verurteilt worden. Bei den Gefangenen handelte es sich u.a. um Aktivisten nationaler Unabhängigkeitsbewegungen (Ukraine, Baltikum), um Menschenrechtler und Mitglieder der sog. „Moskauer Helsinki-Gruppe“. Das besondere Regime von Perm-36 war das erste und einzige Lager in der gesamten Sowjetunion, das ausschließlich für politische Häftlinge bestimmt war. Dieser Lagerteil war wesentlich kleiner als der Teil des strengen Regimes: gleichzeitig saßen hier zwischen 35 und 40 Häftlinge ein. In seinem siebenjährigen Bestehen, durchliefen 56 Häftlinge das besondere Regime. In diesen sieben Jahren starben dort offiziell bestätigt sieben Menschen, der berühmteste unter ihnen: der auf Anregung Heinrich Bölls für den Literaturnobelpreis vorgeschlagene ukrainische Dichter Wassyl Stus, sowie drei weitere Mitglieder der ukrainischen „Helsinki-Gruppe“: Jurij Litvin, Valerij Marčenko und Aleksa Tichij.

Bei der Schließung des Lagers 1987 wurden die meisten dieser politischen Gefangenen begnadigt. Nach der Schließung wurde der Teil des strengen Regimes des Lagers dem Gesundheitsamt übergeben, das auf dem Gelände ein Heim für geistig Behinderte einrichtete. Im Zuge dieser Umfunktionierung, wurden die Sicherheitssysteme beseitigt und viele der Gebäude umgebaut oder zerstört.

Nachdem 1989 ein ukrainisches Fernsehteam eine Reportage über das besondere Regime von Perm-36 gedreht hatte, wurden vom Permer Amt für Strafvollzug die sich dort noch befindenden Sicherheitssysteme demontiert.

In den Jahren 2009 und 2010 führte das Opernhaus aus Perm jeweils Musiktheater in den Resten des Lagers auf. 2009 war es eine Auftragskomposition basierend auf Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. 2010 wurde die Partitur von Beethovens Fidelio Grundlage eines "Wandelkonzerts" für jeweils 250 Zuschauer.[1]

Alltag im Lager

Arbeiten in Perm-36

  • 1946-1953 Holzfällarbeiten im Wald (Arbeitsnorm pro Gefangenen: 3,5 – 4 m³ Holz pro Tag)
  • 1953-1972 Holzverarbeitungsarbeiten auf dem Lagergelände
  • 1972-1987 Herstellung von Kleinteilen für Bügeleisen

Alltag eines politischen Häftlings um 1972 im strengen Regime

  • 6 Uhr: Wecken der Häftlinge
  • 6 – 7 Uhr: Zeit zum Waschen und fürs Frühstück (Brei und etwas Brot)
  • 7 Uhr: Beginn der Arbeit in der Arbeitszone – beim Übergang vom Wohn- in den Arbeitsbereich erfolgte eine genaue Durchsuchung der Häftlinge am Kontrollpunkt
  • 12 - 13 Uhr: Mittagspause (Suppe und Brei), beim Übergang vom Arbeits- in den Wohnbereich und beim Rückweg zur Arbeit erneute Durchsuchung der Häftlinge
  • danach Fortsetzung des Arbeitstages bis 18 Uhr, erneute Durchsuchung der Häftlinge am Kontrollpunkt
  • 18-20 Uhr: Abendessen (Suppe oder Brei) und freie Zeit, die mit Sporttreiben (es gab einen Volleyballplatz), Bibliotheksbesuch, Tee trinken verbracht wurde.
  • 20-22 Uhr: politische Seminare und Vorlesungen zwecks Umerziehung der Häftlinge, die allerdings freiwillig besucht werden konnten und daher wenig Zuspruch fanden
  • 22-22.30 Uhr: Abendliche Kontrolle der Häftlinge
  • ab 23 Uhr: Nachtruhe

Berühmte Häftlinge

  • Leonid Borodin (*1938), russischer Schriftsteller
  • Balis Gajauskas (*1926), Litauer, verbrachte 38 Jahre in sowjetischen Lagern. Das erste Mal wurde er wegen Verbindungen zu litauischen Partisanen im Jahr 1948 verhaftet und zum Tode verurteilt. Die Todesstrafe wurde später in 25 Jahre Lagerhaft umgewandelt. Während seiner Gefangenschaft lernte er acht Fremdsprachen, denn in den Lagern saßen Gelehrte aller Art ihre Strafen ab. 1973 wurde er entlassen, um 1978 erneut verhaftet und zu 10 Jahren Haft im besonderen Regime verurteilt zu werden. Sein Verbrechen: er hatte Alexander Solschenizyns Buch Der Archipel Gulag ins Litauische übersetzt und Dokumente über die Geschichte litauischer Widerstandsbewegungen gesammelt. Nach seiner Entlassung 1987 arbeitete Gajauskas als Generaldirektor des litauischen Sicherheitsdienstes und war Abgeordneter des litauischen Parlaments.
  • Ivan Gel’ (*1937)
  • Sergei Kowaljow (*1930)
  • Levko Luk’janenko (*1927)
  • Vasil’ Stus (1938-1985)
  • Michail Meilach (*1944)

Museum

Geschichte des Museums

Im Jahr 1994 eröffnete die russische Nichtregierungsorganisation “Perm-36” die Gedenkstätte der Geschichte politischer Repressionen “Perm-36” auf dem Gelände des ehemaligen Arbeitslagers. Bei dem Museum handelt es sich um das einzige erhaltene ehemalige Arbeitslager für politische Gefangene auf dem gesamtem Territorium der ehemaligen Sowjetunion. Seit dem wird das Lager schrittweise wieder aufgebaut, weite Teile werden dabei von russischen und internationalen Freiwilligen in Sommercamps wiedererrichtet. Im Jahr 2007 kann der Lagerteil des strengen Regimes von Besuchern besichtigt werden. Der besondere Regimeteil ist nach einem Brand derzeit für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Auf dem ehemaligen Lagergelände sind heute im Wohnbereich eine der vier, bzw. später drei ehemaligen Häftlingsbaracken, in denen jeweils bis zu 250 Häftlinge untergebracht werden konnten, zu sehen. In ihr sind derzeit mehrere Ausstellungen untergebracht. Ebenfalls erhalten ist das 1972 an Stelle einer Häftlingsbaracke errichtete Stabsgebäude, dort befindet sich (wie von 1972 bis 1987) eine kleine Bibliothek und ein Kinosaal, Küche und Kantine, außerdem die Räume der Museumsverwaltung und Zimmer für Museumsmitarbeiter. Geplant ist allerdings, die Baracken zumindest teilweise wieder in ihren ursprünglichen Zustand, also ausgestattet mit Betten usw., zu versetzen. Weiterhin befinden sich in diesem Teil des Lagers die Kranken- und Sanitätsbaracke, ein Toilettenhaus mit 14 “Plätzen” für bis zu 1000 Gefangene (eine Zahl, die nicht erreicht wurde) und der štrafnoj isoljator, der Isolationszellenblock. Viele dieser Gebäude stammen noch aus der Zeit von 1946 bis 1952 und damit aus der Stalinepoche der Sowjetunion. Im Arbeitsbereich des Lagers, in den man durch die wiedererrichtete Kontrollstation gelangt, die auch die Häftlinge passieren mussten und dort jedes Mal einer strengen Leibesvisitation unterzogen wurden, finden sich Werkstätten des Lagers: eine Schmiede, ein Sägewerk, weiterhin ein Kesselhaus, dessen Funktion darin bestand, das Lager, die nahe gelegenen Wohnhäuser und die Kasernen der Gefängniswärter zu beheizen und ein Turbinenhaus für die Sicherstellung der lagerinternen Elektrizitätsproduktion. Außerdem befindet sich in diesem Teil das Verwaltungsgebäude, in dem auch die Wachleute untergebracht waren.

Ziele

Ziel des Museums ist es, das ehemalige Lager in seiner ursprünglichen Form als Zeitzeugnis zu erhalten und wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen, historische Dokumente über die politischen Repressionen in der UdSSR ausfindig zu machen, zusammenzustellen und zu bewahren, zur Entstehung eines auch die Gräueltaten des sowjetischen Systems nicht ausblendenden Geschichtsbewusstseins und zur politischen Bildung in Russland beizutragen, Ausstellungen mit entsprechenden Thematiken zu organisieren und zivilgesellschaftliches Engagement in Russland zu fördern.

Einzelnachweise

  1. FAZ vom 10. Juli 2010, Seite 33

Weblinks


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