- Progressive Muskeldystrophie Duchenne
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Muskeldystrophie ist eine Sammelbezeichnung für primär degenerative Muskelerkrankungen. Kennzeichen einer Muskeldystrophie ist eine fortschreitende, meist symmetrisch ausgebildete Muskelschwäche beim männlichen Geschlecht. Es sind mehr als 30 verschiedene Formen bekannt. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Art des X-chromosomalen Erbgangs, der beginnenden Körperregion, des Erkrankungsalters und des Verlaufs. Für viele Formen ist in den letzten Jahren eine zugehörige Veränderung eines Genorts entdeckt worden. Die Symptome der Krankheit können mehr oder weniger erfolgreich behandelt werden. Muskelschwund ist jedoch nicht heilbar und verläuft bei vielen Formen nach jahre- oder jahrzehntelanger Dauer letztlich tödlich, je nach Form auch schon in jungen Jahren. In jedem Fall ist eine stetig zunehmende Beeinträchtigung der Lebensqualität zu erwarten.
Inhaltsverzeichnis
Einteilung
Klassifikation nach ICD-10 G71.0 Muskeldystrophie ICD-10 online (WHO-Version 2006) Die beiden häufigsten Formen sind die Dystrophinopathien vom Typ Duchenne und der Typ Becker-Kiener. Beide werden X-chromosomal-rezessiv vererbt. Dementsprechend erkranken fast ausschließlich Männer, da das ergänzende Y-Chromosom keine Dominanzfunktion hat. Frauen erkranken nur, wenn sie den Gendefekt auf beiden X-Chromosomen besitzen, was sehr selten ist.
Weitere Muskeldystrophien sind die:
- Gliedergürteldystrophien (LGMDs),
- Fazio-Skapulo-Humerale Muskeldystrophie (FSHD),
- Okulopharyngeale Muskeldystrophie
- und die heterogene Gruppe der kongenitalen Muskeldystrophien (MDCs)
Dystrophinopathien
Die Muskeldystrophie des Typs Duchenne ist die häufigste muskuläre Erbkrankheit im Kindesalter (1 : 5000). Sie beginnt im Kleinkindalter mit einer Schwäche der Becken- und Oberschenkelmuskulatur, schreitet rasch voran und endet, meist im jungen Erwachsenenalter, immer tödlich, sobald die Herz- und Atemmuskulatur abgebaut wird. Man bezeichnet sie daher auch als "maligne (=bösartige) Muskeldystrophie".
Die Muskeldystrophie des Typs Becker-Kiener ist wesentlich seltener als jene des Typs Duchenne (1 : 60000) und betrifft ebenfalls bevorzugt die Becken- und Oberschenkelmuskulatur. Die Erkrankung tritt im Schulalter auf und schreitet langsamer voran. Aufgrund des wesentlich günstigeren Krankheitsverlaufes bezeichnet man diesen Typ als "benigne (=gutartige) Muskeldystrophie".
Ursachen
Bei den Dystrophinopathien wird ein für die Stabilität der Muskelmembran wichtiges Protein, das Dystrophin, gar nicht oder in funktionsgestörter Form gebildet, was früher oder später zum Untergang von Muskelfasern und Ersatz durch Fett- oder Bindegewebe führt.
Typ Duchenne
Für diesen Typ der Muskeldystrophie ist eine Mutation (60-70% Deletion, ca. 5% Duplikation, ca. 35% Punktmutation) im Dystrophin-Gen (Locus Xp21.2) nachgewiesen. Mehr als 98% der Mutationen verursachen hierbei eine Verschiebung (Frameshift) des Leserasters und führen damit zu einem kompletten Verlust des Dystrophinproteins. Dabei sind etwa 1/3 der Fälle Neumutationen und nur 2/3 von den Eltern direkt vererbt.
Typ Becker-Kiener
Hier ist eine besondere Art der Mutation ("in-frame") des Dystrophin-Gens für die Erkrankung verantwortlich. Dabei entsteht meist – im Gegensatz zum Typ Duchenne – ein in seiner Funktion stark beeinträchtigtes Dystrophin. Der Typ Becker-Kiener ist in seiner Häufigkeit seltener (ca. 1 auf 20.000) als Typ Duchenne (ca. 1 auf 3.500) und zeigt durch das Vorhandensein eines "Restproteins" meist ein nicht so schweres Krankheitsbild.
Symptomatik und Verlauf
Typ Duchenne
Die Muskeldystrophie vom Typ Duchenne wurde von Guillaume-Benjamin Duchenne bereits im 19. Jahrhundert in Paris beschrieben. Im 3. bis 5. Lebensjahr fällt bei den Betroffenen eine leichte Muskelschwäche der Beine auf, die zu häufigem Stolpern und Fallen führt. Im weiteren Verlauf ist das Treppensteigen nur mit Zuhilfenahme eines Geländers möglich. Die Muskelschwäche der Becken- und Oberschenkelmuskulatur verursacht einen Watschelgang sowie ein erschwertes Aufstehen aus dem Sitzen oder Liegen. Die Kinder klettern an sich selbst hoch (Gowers-Manöver) oder nutzen Wände und Möbel zum Abstützen. Ab dem 5. bis 7. Lebensjahr sind das Treppensteigen und Aufstehen aus dem Sitzen oder Liegen nur noch mit Hilfe anderer möglich, da die Erkrankung auch auf die Muskulatur der Schulter und Arme übergreift. Zwischen dem 7. und 12. Lebensjahr ist ein Anheben der Arme in die Waagerechte kaum mehr möglich. Viele Kinder sind in diesem Alter bereits auf den Rollstuhl angewiesen, können sich aber noch eingeschränkt selbständig versorgen. Meist besteht ab dem 18. Lebensjahr vollständige Pflegebedürftigkeit.
Infolge des Muskelschwundes kommt es zu schmerzhaften Fehlstellungen von Gelenken und Knochenverformungen. Charakteristisch für den Typ Duchenne sind die sogenannten "Gnomen- oder Kugelwaden". Sie entstehen durch Fetteinlagerungen in der bindegewebig umgebauten Unterschenkel-Muskulatur ("Pseudohypertrophie"). Bei Abbau der Schultergürtelmuskulatur kommt es zu hervorstehenden Schulterblättern ("Scapula alata"), auch Engelsflügel genannt. Durch Schwäche der Atemmuskulatur wird das Abhusten, bei Infekten der Luftwege, deutlich erschwert und dadurch kann die Lebenserwartung erheblich eingeschränkt werden. Der Herzmuskel ist zwar meist vom Krankheitsprozess betroffen, doch führen erhöhte Herzfrequenz und sonstige Veränderungen des Rhythmus oder auch Beeinträchtigung der Herzkraft selten zu subjektiven Beschwerden.
Die Lebenserwartung der Patienten beträgt je nach Verlauf bis zu 40 Jahre, jedoch versterben einzelne Patienten auch schon vor Beginn der Pubertät.
Typ Becker-Kiener
Die Muskeldystrophie vom Typ Becker-Kiener nimmt einen langsameren Verlauf. Auch hier ist zuerst die Becken- und Oberschenkelmuskulatur betroffen. Der Erkrankungsbeginn ist sehr variabel (2. bis 35. Lebensjahr) überwiegend jedoch zwischen dem 6. und 18. Lebensjahr. Die Gehfähigkeit der Patienten bleibt meist bis zum 40., gelegentlich sogar bis zum 60. Lebensjahr erhalten. Trotz des insgesamt günstigeren Verlaufs versterben auch hier die meisten Patienten in Folge einer zunehmenden Herzschwäche oder wegen Komplikationen im Rahmen der Atemschwäche. Bedeutsam ist, dass sich die Herzschwäche auch unabhängig vom Schweregrad der Schwäche der Körpermuskulatur entwickeln kann.
Diagnose
Der Verdacht auf Muskeldystrophie ergibt sich, wenn im Kindesalter eine ungewöhnliche, symmetrisch ausgebildete Schwäche der Muskulatur beobachtet wird. Bei der Anamnese interessieren besonders der Beginn der Funktionsstörungen, der Verlauf und das Auftreten ähnlicher Störungen in der Familie. Bei der körperlichen Untersuchung wird nach allgemeinen Auffälligkeiten geschaut, wie Haltung, Beweglichkeit und Atmung. Bei der neurologischen Untersuchung wird die Funktion der Nerven und Muskeln überprüft. Die Gendiagnose macht eine genaue Zuordnung nach Typus möglich.
Muskelschwäche kann neurogene oder myogene Ursachen haben. Die Differenzierung erfolgt durch Elektroneurographie und Elektromyographie. Bei der Elektroneurographie werden die Nervenleitgeschwindigkeit und die Funktionstüchtigkeit der Nervenfasern ermittelt. Dabei werden Nerven elektrisch gereizt. Bei der Elektromyographie werden Muskelströme gemessen. Dabei kann ermittelt werden, ob die Nervenfasern geschädigt oder ob die Muskeln selbst erkrankt sind.
Laborwerte geben ebenfalls wichtige Hinweise: Die Menge an Creatin-Kinase, einem Muskelenzym, ist oft im Blut erhöht. Andere Enzyme und Stoffwechselprodukte der Muskeln, bestimmte Antikörper, sowie andere Blut- und Urinwerte ergänzen die Diagnose. Als bildgebende Verfahren werden MRT und Ultraschall eingesetzt. Hier können ohne Belastung des Patienten strukturelle Veränderungen der Muskeln beurteilt werden. Die Muskelbiopsie erlaubt die Untersuchung des Muskels unter dem Licht- oder Elektronenmikroskop. Die Stoffwechselvorgänge im Muskel können damit genau untersucht werden.
Therapie
Eine effektive Behandlung bedarf einer Kombination aus Arzt, Physiotherapie, Ergotherapie, Pflege. Kortisongaben und operative Lösung von Kontrakturen verlängern die Gehfähigkeit, Kreatin kann eine diskrete Verbesserung des Muskelenergiestoffwechsel bewirken (regelmäßige Therapiepausen nötig). Eine sich entwickelnde Skoliose (Verkrümmung der Wirbelsäule) kann durch die Implantation von Metallstäben operativ begradigt werden; hierdurch wird vor allem die Atemfunktion verbessert. Als Hilfsmittel werden Orthesen, Rollstuhl, Duschstuhl, Badewannen-Lifter, Toilettensitzerhöhungen und Rollstuhlrampen eingesetzt. Da durch die zunehmende Schwäche der Atemmuskulatur die Eigenatmung immer weiter abnimmt, kann eine maschinelle Beatmung notwendig werden. Dies erfolgt überwiegend nicht-invasiv, über eine Nasen- oder Nasen-Mund-Maske. Die Durchführung eines Luftröhrenschnitts ist nur in wenigen Fällen nötig. Besonders zu beachten ist auch die Abhustschwäche. Durch physiotherapeutische Techniken oder apparative Maßnahmen ist auch dabei eine Unterstützung möglich. Eine mit der Muskeldystrophie einhergehende Fatigue kann - neben hinreichenden Ruhephasen - mit Vitamininfusionen und Sauerstoffbehandlungen positiv beeinflusst werden.
Physiotherapeutische Behandlung
Ziele
Ziel aller physiotherapeutischen Maßnahmen ist es, die Folgen der Muskelschwäche so gering wie möglich zu halten bzw. in einem bestimmten Ausmaß zu korrigieren. Die Behandlung orientiert sich an Typ, Stadium und Prognose der Erkrankung, sowie an der Lebenssituation des Betroffenen und seiner Familie.
Allgemeine Schwerpunkte sind
- Erhalten einer ausreichenden Atemkapazität
- Erhalten / Ökonomisieren der Herz-Kreislauf-Funktion
- Erhalten / Verbessern der Durchblutung
- Erhalten der Beweglichkeit / Kontrakturprophylaxe
- Kräftigen / Ökonomisieren der intakten Muskulatur
- Erhalten der Koordination
- Erhalten der Orthostatik (Aufrichtung des Körpers)
- DTKP-Prophylaxe (Dekubitus, Thrombose, Kontrakturen, Pneumonie)
- Verzögerung von Skoliosen (Wirbelsäulenverbiegung)
- Erhalten der Selbständigkeit
Behandlungshinweise
Physiotherapie wird vielfach von den Patienten als angenehm und hilfreich empfunden. So ist schon die gezielte Zuwendung zu dem betroffenen Muskel, mit dem etwas geschieht, hoffnunggebend. Zu bedenken ist aber, dass jedenfalls die Dystrophinopathien auf einer geminderten Stabilität der Muskelmembran gegen mechanische Kräfte beruhen. Jede zusätzliche Bewegung führt daher vermutlich zu einer weiteren Schädigung des Muskels, in der Summe und nach Jahren dann zur Schwäche. Die Versuchung für alle - Physiotherapeut und Betroffene - ist groß, durch "Muskelaufbau" die Schwäche zu kompensieren ("Nach der Reha ging alles besser"), dafür aber langfristig den Verlauf zu beschleunigen. Auch gibt es keinen gesicherten Nachweis der Wirksamkeit bestimmter physiotherapeutischer Maßnahmen.
Die Auswahl und die Stärke der Behandlungsmaßnahmen muss aufgrund der progressiven Muskelschwächung ständig neu bewertet werden. Generell sollte nur mit warmer Muskulatur gearbeitet werden (vorherige Wärmeanwendung / Zimmertemperatur um 30°). Da dystrophe Muskulatur durch Überanstrengung und Überforderung zusätzlich geschädigt wird, sollte der Therapeut auf das Arbeiten gegen Widerstand bzw. mit Gewichten und Aufprallbelastungen (Springen) verzichten. Bei Kindern soll die Spontanaktivität und das Erlernen eines ökonomischen Krafteinsatzes angeregt werden (z.B. Bewegungsübergänge mit Abstützen). Bei allen Angeboten sollten die Kinder Freude an der Therapie haben. Spaß an der Bewegung kann helfen, bestehende Depressionen zu lindern.
Die Muskelschwäche ist das Hauptproblem bei Muskeldystrophien. Bei rasch fortschreitenden Erkrankungen besteht das Risiko einer verstärkenden Abschwächung durch zu intensives Training. Es sollte grundsätzlich mehr mit dem Ziel der Funktionsbesserung als mit dem Ziel der Kräftigung trainiert werden. Darum müssen Patienten über die Warnzeichen einer Überbelastung informiert sein. Hierzu gehören ein Schwächegefühl innerhalb von 30 Minuten nach der Übung oder Muskelschmerzen 24 bis 48 Stunden nach dem Training. Andere Warnsignale beinhalten ausgeprägte Muskelkrämpfe, Schweregefühl von Armen und Beinen und anhaltende Kurzatmigkeit. Dennoch ist durch ökonomisches Training mit leichter bis mäßiger Belastung wie Gehen, Schwimmen und Fahren auf dem Ergometer eine Verbesserung der Ausdauer und damit eine Minderung der Schwäche zu erreichen.
Sobald die Krankheit auf die Atemmuskulatur übergreift, müssen regelmäßige Lungenfunktionstests erfolgen. In den letzten Jahren wurden gute Fortschritte in der Möglichkeit der Heimbeatmung gemacht. Bei der Erstellung eines Trainingsprogramms muss die Herzbelastbarkeit überprüft werden. Manchmal kann der Einsatz eines Herzschrittmachers notwendig sein.
Behandlungsmaßnahmen
- Atemtherapie
- Wärmeanwendungen
- Passives Durchbewegen
- Traktionen / Gleitmobilisation
- Kombination aus isometrischen und dynamischen Bewegen
- Stemmführungen nach Brunkow
- Lagewechsel und Transfer einüben
- intermittierendes Ausdauertraining
- Klopf-Druck-Massage
- Klassische Massage (nur sanfte Griffe)
- Ultraschall-Therapie
- Elektrotherapie (Galvanisation)
- Hydroelektrische Bäder
- Ergometertraining
- Schwimmen / Bewegungsbad
Kontraindikation
Zu vermeiden ist/sind
- Arbeiten an kalter Muskulatur
- Kältereize
- Training bis zur Ermüdung / Erschöpfung
- Dehnung der betroffenen Muskulatur
- Reizstromtherapie
- kräftige Massagereize (Knetungen, tiefe Friktionen)
- Resistives Bewegen der dystrophen Muskulatur
Weblinks
- Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e.V. DGM
- Schweizerische Gesellschaft für Muskelkranke SGMK
- Deutsche Muskelschwund-Hilfe e.V.
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