- Rechtfertigender Notstand
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Der allgemeine rechtfertigende Notstand und seine Voraussetzungen sind in § 34 StGB normiert. Es handelt sich um einen Rechtfertigungsgrund, der ein rechtsgutsverletzendes Verhalten gestattet und den dadurch Beeinträchtigten zur Duldung verpflichtet. Die Vorschrift besagt Folgendes:
- Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.
Inhaltsverzeichnis
Geschichtliche Entwicklung und Wesen
Ursprünglich kannte das Strafgesetzbuch keinen rechtfertigenden Notstand. Im Fall eines Arztes, der eine Abtreibung vorgenommen hatte, um die suizidgefährdete Mutter zu schützen, entwickelte aber das Reichsgericht einen „übergesetzlichen rechtfertigenden Notstand“. Dazu nahm es eine Güterabwägung zwischen geschütztem und beeinträchtigtem Rechtsgut vor, wozu es die gesetzlichen Strafrahmen verglich: Da Abtreibung weniger schwer bestraft wurde als Totschlag, zog es den Schluss, dass nach der gesetzlichen Wertung das Rechtsgut „Leben“ gegenüber dem Rechtsgut „Existenz der Leibesfrucht“ überwiegt. Die Figur des „übergesetzlichen rechtfertigenden Notstandes“ wurde in der Folgezeit auf andere Fälle ausgedehnt; das zweite Strafrechtsreformgesetz von 1975 fügte den Rechtfertigenden Notstand schließlich ins Strafgesetzbuch ein.
Charakteristisch für § 34 StGB ist die Güterabwägung zwischen Erhaltungs- und Eingriffsgut. Damit unterscheidet sich der rechtfertigende Notstand insbesondere von der Notwehr, wo gerade keine Abwägung stattfindet: der Angreifer handelt rechtswidrig, „das Recht braucht dem Unrecht nicht kampflos zu weichen“. Beim Notstand dagegen steht nicht Recht gegen Unrecht, sondern „Recht gegen Recht“. Nur wenn das geschützte Rechtsgut das durch die Notstandshandlung beeinträchtigte „wesentlich überwiegt“, verpflichtet das Prinzip der Solidarität den Betroffenen, den Eingriff zu dulden. Anders als bei der Notwehr („eine schimpfliche Flucht ist nicht zumutbar“) kommt daher auch ein Ausweichen in Betracht, um der Gefahr zu entgehen.
Speziellere Normen
Neben dem im StGB geregelten „allgemeinen“ rechtfertigenden Notstand kennt das deutsche Recht noch andere Regelungen des Notstands. Sie gehen als leges speciales dem § 34 StGB vor, verdrängen also die allgemeinere Regelung.
Solche speziellen Notstandsformen sind der Defensivnotstand, geregelt in § 228 BGB, und der Aggressivnotstand, § 904 BGB. Die Normen regeln den Fall der Beschädigung einer fremden Sache, um eine durch sie drohende Gefahr abzuwehren (defensiv: Treten des angreifenden Hundes) oder mit ihr eine anderweitig drohende Gefahr zu bekämpfen (aggressiv: zur Abwehr des Hundes wird der Regenschirm eines Dritten verwendet). Die Regelungen unterscheiden sich im Abwägungsmaßstab und in der Schadensersatzpflicht.
Kommt keine Form des rechtfertigenden Notstandes in Betracht, greift unter Umständen der entschuldigende Notstand des § 35 ein.
Unter den rechtfertigenden Notstand fallen auch Defensivnotstandskonstellationen. Etwa in den Fällen, in denen nicht alle Tatbestandsvoraussetzungen der Notwehr erfüllt sind, und die Gefährdung eines Rechtsgutes aus einem menschlichen Verhalten droht. Vereinzelt werden diese Fälle auch über § 228 BGB analog gelöst. Sehr umstritten ist die Anwendung des § 34 StGB auf Fälle, in denen ein von Terroristen entführtes Passagierflugzeug in ein vollbesetztes Gebäude hinabzustürzen droht und sich hierbei unter Defensivnotstandsgesichtspunkten die Frage stellt, ob es möglich sein kann und darf das Flugzeug abzuschießen.
Voraussetzungen
Die Notstandslage
Vorausgesetzt wird also zunächst eine Notstandslage. Die Notstandslage besteht in einer gegenwärtigen Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut, die nicht anders abgewendet werden kann als durch Einwirkung auf ebenfalls rechtlich anerkannte Interessen.
Notstandsfähig sind also die Rechtsgüter des Einzelnen als auch die der Allgemeinheit. Dazu zählen alle rechtlich geschützten Interessen. Voraussetzung ist nicht, dass eine Verletzung der Interessen unter Strafdrohung steht; entscheidend ist allein, dass das zu erhaltende Gut, Recht, Interesse von der Rechtsordnung überhaupt anerkannt beziehungsweise geschützt ist.
Unter einer gegenwärtigen Gefahr, die für das geschützte Rechtsgut gegeben sein muss, ist ein Zustand zu verstehen, dessen Weiterentwicklung den Eintritt oder die Intensivierung eines Schadens ernstlich befürchten lässt, sofern nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen werden. Das heißt, dass der Eintritt eines Schadens für das Rechtsgut naheliegt oder eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts droht.
Bei solch einer Wahrscheinlichkeitsprognose kommt es nicht auf die Sicht und das Wissen des Notstandstäters/Notstandshandelnden an, sondern auf den Standpunkt eines objektiven, alle relevanten Umstände kennenden Betrachters.
Vom Gefahrenbegriff des § 34 wird auch die sog. Dauergefahr umfasst. Darunter ist ein gefahrdrohender Zustand von längerer Dauer, der (z. B. mögliche unvorhersehbare Einsturzgefahr eines alten baufälligen Gebäudes) jederzeit in eine Rechtsgutsbeeinträchtigung umschlagen kann, ohne aber die Möglichkeit auszuschließen, dass der Eintritt des Schadens noch eine Weile auf sich warten lässt. Gegenwärtig ist eine solche Dauergefahr, wenn sie so dringend ist, dass sie nur durch unverzügliches Handeln wirksam abgewendet werden kann.
Zu beachten ist hierbei, dass für eine bevorstehende Beeinträchtigung eines Rechtsgutes durch die rechtswidrige Handlung eines Menschen („Angriff“) in § 32 StGB mit der Notwehr (einschließlich Nothilfe) eine speziellere Regelung gibt.
Die Notstandshandlung
Die Gefahr darf „nicht anders abwendbar“ sein als durch die Notstandshandlung. Diese muss objektiv erforderlich sein und subjektiv mit einem Rettungswillen vorgenommen werden. Ausgeschlossen sind damit zunächst alle Handlungen, durch die die drohende Beeinträchtigung des Rechtsgutes nicht abgewehrt werden kann.
Angemessenheit der Notstandshandlung
Wie sich bereits aus dem Wortlaut des § 34 StGB ergibt, muss die Handlung zur Abwehr der Gefahr nicht nur geeignet, sondern auch angemessen sein. Angemessenheit setzt voraus, dass die Notstandshandlung eine möglichst geringe Beeinträchtigung anderer Rechtsgüter als des verteidigten Rechtsgutes darstellt. Es darf kein milderes Mittel geben.
Verhältnismäßigkeit
Bei der Prüfung, ob eine Rechtfertigung wegen allgemeinen Notstandes vorliegt kommt es – im Gegensatz etwa zur Notwehr – ganz wesentlich darauf an, dass die Notstandshandlung auch verhältnismäßig war. Dies setzt voraus, dass bei einer Abwägung eines objektiven Dritten das durch die Notstandslage beeinträchtigte Rechtsgut erkennbar schwerer wiegt, als das durch die Notstandshandlung beeinträchtigte Rechtsgut. So wäre zum Beispiel bei einem schweren Krankheitsanfall, der das Leben des Kranken bedroht, ein Diebstahl des Medikamentes gerechtfertigt, wenn der Eigentümer – und sei es gegen ein angemessenes Entgelt – dieses nicht herausgeben will. Das Rechtsgut Eigentum weicht insofern dem Rechtsgut Leben.
Siehe auch
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