Richterliche Rechtsfortbildung

Richterliche Rechtsfortbildung

Unter Rechtsfortbildung wird eine über die Gesetzesauslegung hinaus gehende Form der angewandten Rechtswissenschaft bezeichnet, mit der geltendes Recht geschaffen wird. Regelmäßig wird die Rechtsfortbildung von Gerichten vorgenommen (richterliche Rechtsfortbildung[1]), sodass der Begriff eng mit dem des Richterrechts verknüpft ist.

Mit der Rechtsfortbildung werden bei der Entscheidung juristischer Fälle Ergebnisse gefunden, die keine unmittelbare Grundlage mehr im geschriebenen Recht finden. Häufig beruft sich die Rechtsprechung dabei auf Generalklauseln, etwa das Prinzip von Treu und Glauben (§ 242 BGB), um gesetzlich nicht vorgegebene Rechtssätze und Fallgruppen zu schaffen.[2] Häufig versucht die Rechtsprechung dabei, die Grundlage für die Rechtsfortbildung in anderen Wertentscheidungen des Gesetzgebers zu finden.[3]

In Anwendung Richard Dawkins Theorie der kulturellen Evolution stellt sich zusätzlich die Frage, nach welchen Gesetzmäßigkeiten außerjuristische Einflüsse in die Rechtsordnung eindringen und nach welchen Kriterien die Rechtsfindung außerjuristischen Wandel nachvollzieht.[4]

Ein berühmtes Beispiel für richterliche Rechtsfortbildung ist der sogenannte Hühnerpestfall.[5] Dort wurde ein Impfstoffwerk verklagt, weil es einen verunreinigten Impfstoff hergestellt hatte, der zum Tode der mit diesem Impfstoff geimpften Hühner führte. Ein Schadensersatzanspruch konnte allerdings nur bestehen, wenn dem Impfstoffwerk Verschulden im Hinblick auf die Verunreinigung nachgewiesen werden konnte. Nach den gesetzlichen Vorgaben hätte das Verschulden der Kläger beweisen müssen, was ihm aber nicht gelang. Der BGH nahm hier ohne gesetzliche Grundlage eine Beweislastumkehr vor, d.h. der beklagte Impfstoffhersteller musste beweisen, dass ihm kein Verschulden zur Last fiel.

Einzelnachweise

  1. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., S. 367 ff.
  2. vgl. Münchener Kommentar zum BGB/Roth, 5. Aufl. 2007, § 242 BGB, Rdnr. 27 ff.
  3. vgl. Larenz, aaO., S. 367 ff.
  4. Christoph Henke in Memetik und Recht, Humboldt Forum Recht 2007[1]
  5. BGHZ 51, 91 ff. = BGH NJW 1969, 269.

Literatur

  • Hans-Rudolf Horn: Richter versus Gesetzgeber. Entwicklungslinien richterlicher Verfassungskontrolle in unterschiedlichen Rechtssystemen. In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. Neue Folge / Bd. 55, 2007, S. 275-302.
  • Alfred Schramm: „Richterrecht" und Gesetzesrecht. Eine rechtsvergleichende Analyse anhand von Merkls Rechtsnormenlehre. In: Rechtstheorie. Zeitschrift für Logik und Juristische Methodenlehre, Rechtsinformatik, Kommunikationsforschung, Normen- und Handlungstheorie, Soziologie und Philosophie des Rechts. 36. Bd., 2005, S. 185-208.
  • Reiner Schulze, Ulrike Seif (Hrsg.): Richterrecht und Rechtsfortbildung in der europäischen Rechtsgemeinschaft. Tübingen: Mohr (Siebeck) 2003.

Siehe auch

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