Rechtsfortbildung

Rechtsfortbildung

Unter Rechtsfortbildung wird eine über die Gesetzesauslegung hinausgehende Form der angewandten Rechtswissenschaft bezeichnet, mit der geltendes Recht geschaffen wird. Regelmäßig wird die Rechtsfortbildung von Gerichten vorgenommen (richterliche Rechtsfortbildung[1]), sodass der Begriff eng mit dem des Richterrechts verknüpft ist.

Mit der Rechtsfortbildung werden bei der Entscheidung juristischer Fälle Ergebnisse gefunden, die keine unmittelbare Grundlage mehr im geschriebenen Recht finden. Häufig beruft sich die Rechtsprechung dabei auf Generalklauseln, etwa das Prinzip von Treu und Glauben (§ 242 BGB), um gesetzlich nicht vorgegebene Rechtssätze und Fallgruppen zu schaffen.[2] Häufig versucht die Rechtsprechung dabei, die Grundlage für die Rechtsfortbildung in anderen Wertentscheidungen des Gesetzgebers zu finden.[3]

Ein berühmtes Beispiel für richterliche Rechtsfortbildung ist der sogenannte Hühnerpestfall.[4] Dort wurde ein Impfstoffwerk verklagt, weil es einen verunreinigten Impfstoff hergestellt hatte, der zum Tode der mit diesem Impfstoff geimpften Hühner führte. Ein Schadensersatzanspruch konnte allerdings nur bestehen, wenn dem Impfstoffwerk Verschulden im Hinblick auf die Verunreinigung nachgewiesen werden konnte. Nach den gesetzlichen Vorgaben hätte das Verschulden der Kläger beweisen müssen, was ihm aber nicht gelang. Der Bundesgerichtshof nahm hier ohne gesetzliche Grundlage eine Beweislastumkehr vor, d.h. der beklagte Impfstoffhersteller musste beweisen, dass ihm kein Verschulden zur Last fiel.

Siehe auch

Literatur

  • Hans-Rudolf Horn: Richter versus Gesetzgeber. Entwicklungslinien richterlicher Verfassungskontrolle in unterschiedlichen Rechtssystemen. In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. NF 55, 2007, S. 275–302.
  • Alfred Schramm: „Richterrecht“ und Gesetzesrecht. Eine rechtsvergleichende Analyse anhand von Merkls Rechtsnormenlehre. In: Rechtstheorie. Zeitschrift für Logik und Juristische Methodenlehre, Rechtsinformatik, Kommunikationsforschung, Normen- und Handlungstheorie, Soziologie und Philosophie des Rechts. 36, 2005, ISSN 0034-1398, S. 185–208.
  • Reiner Schulze, Ulrike Seif (Hrsg.): Richterrecht und Rechtsfortbildung in der europäischen Rechtsgemeinschaft. Mohr Siebeck, Tübingen 2003, ISBN 3-16-148206-9.

Einzelnachweise

  1. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., S. 367 ff.
  2. vgl. Münchener Kommentar zum BGB/Roth, 5. Aufl. 2007, § 242 BGB, Rdnr. 27 ff.
  3. vgl. Larenz, aaO., S. 367 ff.
  4. BGHZ 51, 91 ff. = BGH NJW 1969, 269.
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