Septemberprogramm

Septemberprogramm

Das Septemberprogramm des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg am 9. September 1914 gab die Kriegsziele der Reichsleitung zu Beginn des Ersten Weltkrieges wieder.

Inhaltsverzeichnis

Hintergründe

Unmittelbar nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges setzte in der deutschen Politik und in der Öffentlichkeit eine breite Diskussion über die Ziele des Krieges ein. Grundsätzlich lassen sich dabei zwei Positionen unterscheiden. Die eine zielte auf einen Verständigungsfrieden ohne Annexionen, die andere verlangte mehr oder weniger umfangreiche Gebietsabtretungen der gegnerischen Staaten. Hinzu kam die Frage, ob die deutsche Hegemonie nach einem erwarteten Sieg vor allem im Westen oder im Osten ausgebaut werden sollte.

Der bekannteste und in der Forschung umstrittenste Kriegzielkatalog ist dabei das so genannte Septemberprogramm von Kanzler Bethmann Hollweg. Der eigentliche Autor war eventuell Kurt Riezler, damals hoher Beamter der Reichsbürokratie. Es begann sich unmittelbar nach Kriegsbeginn zu entwickeln und erhielt seine endgültige Form am 9. September 1914, als auf dem Höhepunkt der Marneschlacht zeitweise ein siegreicher Frieden für Deutschland möglich schien. In seinem Tagebuch hat Riezler die Entwicklung seiner mit dem Septemberprogramm zusammenhängenden Mitteleuropa-Ideen mehrfach dargestellt:

„Coblenz 19/8 [1914] Abends langes Gespräch über Polen und die Möglichkeit einer loseren Angliederung von anderen Staaten an das Reich - mitteleuropäisches System von Differentialzöllen. Gross Deutschland mit Belgien Holland Polen als engen, Oesterreich als weiten Schutzstaaten.[1]

„Charleville 18/4 [1915] Gestern lange mit dem Kanzler zusammengesessen, um ihm mein neues Europa, d.h. die europäische Verbrämung unseres Machtwillens, auseinanderzusetzen. Das mitteleuropäische Reich deutscher Nation. Das bei Aktiengesellschaften übliche Schachtelsystem, das deutsche Reich eine AG. mit preussischer Aktienmajorität, jede Hinzunahme neuer Aktionäre würde diese Mehrheit, auf der, als auf der preussischen Hegemonie[,] das Reich steht, zerstören. Daher um das deutsche Reich herum ein Staatenbund, in dem das Reich ebenso die Majorität hat wie Preussen im Reich – daher d[enn] Preussen auch in diesem Staatenbund die thatsächliche Leitung hat. Die belgische Frage so lösen, dass sie dieser zukünftigen Entwicklung nicht im Wege steht, sondern sie im Gegenteil selbst herbeiführen hilft. Dann Oesterreich so behandeln, dass es von selbst hineinwächst.[...] Dann den europäischen Gedanken in Skandinavien und Holland stärken [...] Dies Mitteleuropa ist wirtschaftlich und politisch die welthistorische Aufgabe.[2]

Insgesamt aber stand hinter dem Programm kein durchdachtes Konzept, vielmehr hat die Regierung Forderungen von unterschiedlicher Seite aufgenommen. Auch war es in den Einzelheiten durchaus revisionsfähig, aber dennoch war es repräsentativ für die Ziele des Kanzlers, der hohen Bürokratie, der Industrie und Teilen des Militärs.

Das Programm spiegelt seinen Entstehungszeitpunkt deutlich wider. Noch konzentrierten sich angesichts des deutschen Vormarschs im Westen die Ziele auf West- und Mitteleuropa, während England, Russland und die Kolonialpolitik nur eine untergeordnete Rolle spielten. Ein parallel vorgelegtes Programm des rechten Alldeutschen Verbandes verschob den Schwerpunkt in Richtung Osteuropa.

In der Folge hat sich der Kanzler nicht immer eng an das Programm gehalten. Dennoch war es als Richtschnur wirkmächtig. So entsprach die Besatzungspolitik in Belgien bereits der Vorstellung von einem Vasallenstaat.

Der Wortlaut des Programms blieb zwar geheim, aber durch die Beteiligung zahlreicher Experten und Interessenten wurde der Tenor doch in der Öffentlichkeit bekannt. Dies verstärkte den Druck der Annexionsbefürworter auf die politische Führung deutlich.[3] Die von verschiedenen Seiten immer noch verstärkten Forderungen wurden von den Kriegsgegnern später als ein Beleg für die deutsche Kriegsschuld angesehen.

Inhalt

Das zentrale Ziel wurde in einer einleitenden Kernaussage formuliert. „Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit. Zu diesem Zweck muss Frankreich so geschwächt werden, dass es als Großmacht nicht neu erstehen kann, Russland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden.“ Auffällig ist das Fehlen Englands in diesem Zusammenhang.

Insgesamt von Bedeutung für das Programm war die Mitteleuropaidee. Über einen mitteleuropäischen von Deutschland beherrschten Zoll- und Wirtschaftsverbund sollte die ökonomische und politische Vorherrschaft des Reiches garantiert werden. Frankreich sollte durch einen Handelsvertrag in „wirtschaftliche Abhängigkeit gebracht werden.“ Belgien sollte wirtschaftlich und politisch zu einem deutschen Vasallenstaat herabsinken. Weitere Nachbarn wie Dänemark, Holland und das noch gar nicht existente Polen, sowie möglicherweise auch Schweden, Norwegen und Italien „unter äußerer Gleichberechtigung … aber tatsächlich unter deutscher Führung“ zollpolitisch verbunden werden.

Darüber hinaus sah das Programm aber auch eine Reihe von direkten territorialen Veränderungen vor. Dazu gehörte die Übernahme der Erzfördergebiete um Longwy-Briey in Lothringen. In Belgien sollten Lüttich und Verviers an Preußen abgetreten werden. Luxemburg sollte seine Unabhängigkeit verlieren und deutscher Bundesstaat werden und um belgische Gebiete erweitert werden.

Holland sollte zwar Teil des deutsch beherrschten Mitteleuropas werden, aber ein anzustrebendes engeres Verhältnis müsse „bei der Art der Holländer von jedem Gefühl des Zwanges für sie frei sein.“ Holland sollte äußerlich unabhängig bleiben, innerlich aber in Abhängigkeit zu Deutschland stehen. Als Möglichkeit der Bindung dachte man an ein die Kolonien einschließendes Schutz- und Trutzbündnis.

Weitere Fragen wurden zunächst ausgeklammert. Zwar wurde über ein mittelafrikanisches Kolonialreich nachgedacht, dies aber nicht weiter konkretisiert. Insbesondere die russische Frage wurde vertagt.

Einschätzung in der Forschung

Die Einschätzung des Septemberprogramms in der historischen Forschung orientierte sich an den Bruchlinien der Fischer-Kontroverse.

Für Fritz Fischer lag die Bedeutung des Programms darin, dass die in ihm niedergelegten Richtlinien im Prinzip Grundlage der gesamten deutschen Kriegszielpolitik bis zum Ende des Krieges gewesen seien, auch wenn sich je nach der Gesamtlage einzelne Modifikationen ergeben hätten.[4]

„Das Septemberprogramm, der Aufriss dieser Weltmachtstellung, war der Rahmen, in den die Steine der Garantien und Sicherungen eingepresst wurden, je nach Kriegslage, Siegeshoffnung oder Niederlagenschmerz. Es war nicht das sklavisch zu verfolgende Ziel, aber in ihm war der Anspruch und die Dynamik des Deutschen Reiches erfasst wie in einem Brennspiegel: konturiert, verständlich, Alternative zu Zielen enger Herrschaft, Antrieb gegen defätistisches Status-quo-Denken. Trotz aller Krisen blieb das Septemberprogramm ein treues Spiegelbild der Bestrebungen der geopolitischen Zentralmacht Europas.[5]

Laut Fischers Schüler Imanuel Geiss war das Septemberprogramm zum Schlüsseldokument für das Verständnis der deutschen Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg geworden.[6]

Für Gerhard Ritter, der die Reichsleitung und Bethmann Hollweg verteidigte, hatte das Septemberprogramm rein defensiven Charakter. Es war zu diesem Zeitpunkt undenkbar, für den Status quo einzutreten, das Programm war ein Höchstmaß dessen ..., was sich an Mäßigung erreichen ließ. Ritter sah im ganzen Programm mehr Erwägung als Entschluss und bezeichnete Fischers These als unrichtig.[7]

Karl Dietrich Erdmann entgegnete Fischers späterer These, dass mit dem Septemberprogramm langgehegte Eroberungspläne verwirklicht werden sollten: die Kriegsziele des Programms seien viel eher Produkt des Krieges als dessen Verursacher.[8]

Das Septemberprogramm des Kanzlers spiegelte laut Peter Graf Kielmansegg in Anknüpfung an Überlegungen der Industrie und Bankenwelt der Vorkriegsjahre die Ideen der führenden Kreise Deutschlands in Politik, Wirtschaft und Militär wider. Namentlich die Industrie erhoffte sich von friedensvertraglichen Regelungen weitgehende Wettbewerbsprivilegien durch Eingriffe in die Autonomie der betroffenen Länder.[9] Das Septemberprogramm war nach seinem Urteil unrealistisch angesichts der historischen Struktur und politischen Tradition eines nationalstaatlichen Europas. Es zeigt deutlich die Überschätzung der Möglichkeiten reiner Machtpolitik, die sich die Frage nach einer lebensfähigen europäischen Ordnung gar nicht stellt.[10]

Der britische Historiker David Stevenson meint, Fischer übertreibe die Bedeutung des Dokuments, da es zu keinem Zeitpunkt den Status einer offiziellen, verbindlichen politischen Erklärung erhalten habe und vom Kaiser auch nicht unterschrieben worden sei.[11]

Einzelnachweise

  1. Kurt Riezler: Tagebücher - Aufsätze - Dokumente.(Hrsg.: Karl-Dietrich Erdmann). Göttingen 1972. S. 198.
  2. Kurt Riezler: Tagebücher - Aufsätze - Dokumente.(Hrsg.: Karl-Dietrich Erdmann). Göttingen 1972. S. 268.
  3. Wolfgang J. Mommsen: Das deutsche Reich im Ersten Weltkrieg. In: Wolfgang J. Mommsen: Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters. Verlag Fischer, Bonn 2004, ISBN 3-596-15773-0, S. 37-60, hier S. 42
  4. Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Düsseldorf 1964, S. 119.
  5. Fritz Fischer: Weltmacht oder Niedergang. Deutschland im Ersten Weltkrieg. Frankfurt am Main 1965, S. 69.
  6. Imanuel Geiss: Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg. München/Wien 1978, S. 90
  7. Gerhard Ritter: Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des "Militarismus“ in Deutschland. Band 3: Die Tragödie der Staatskunst. Bethmann Hollweg als Kriegskanzler (1914-1917). München 1964, S. 44 und 47 und 52.
  8. Karl Dietrich Erdmann: Der Erste Weltkrieg. München 1980 (=Gebhardt: Handbuch der deutschen Geschichte Band 18), ISBN 3-423-04218-4, S. 219.
  9. Peter Graf Kielmansegg: Deutschland und der Erste Weltkrieg. Frankfurt am Main 1968, S. 224.
  10. Peter Graf Kielmansegg: Deutschland und der Erste Weltkrieg. Frankfurt am Main 1968, S. 223.
  11. David Stevenson: 1914–1918. Der Erste Weltkrieg. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2006, ISBN 3-538-07214-0, S. 164.

Literatur

  • Gunther Mai: Das Ende des Kaiserreichs. Politik und Kriegsführung im Ersten Weltkrieg. In: Die deutsche Geschichte der neuesten Zeit. 3. aktualisierte Auflage. dtv 4510, München 1997, ISBN 978-3-423-04510-0.
  • Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871-1918. 1. neu bearbeitete Auflage. Fischer Taschenbuch 17240, Frankfurt 2007, ISBN 978-3-596-17240-5 (Mit einem aktuellen Nachwort: neue Forschungen zum Kaiserreich).

Weblinks


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