Fritz Fischer (Historiker)

Fritz Fischer (Historiker)

Fritz Fischer (* 5. März 1908 in Ludwigsstadt; † 1. Dezember 1999 in Hamburg) war ein deutscher Historiker, der mit seinen Forschungen über die deutsche Politik im Ersten Weltkrieg die Fischer-Kontroverse auslöste. Fritz Fischer wurde in The Encyclopedia of Historians and Historical Writing als der wichtigste deutsche Historiker des 20. Jahrhunderts bezeichnet.[1]

Inhaltsverzeichnis

Leben

Geboren im oberfränkisch-bayerischen Ludwigsstadt, besuchte Fritz Fischer von 1917 bis 1926 die humanistischen Gymnasien in Ansbach und Eichstätt. Er studierte ab 1927 zunächst in Erlangen und dann in Berlin etwa bei den Kirchenhistorikern Erich Seeberg und Hans Lietzmann sowie bei dem Pädagogen und Philosophen Eduard Spranger evangelische Theologie, Geschichte, Philosophie und Pädagogik. 1934 wurde Fischer mit einer später auch mit einem Preis der Schleiermacher-Stiftung ausgezeichneten Dissertation über Ludwig Nicolovius. Rokoko, Reform, Restauration von der Theologischen Fakultät der Universität Berlin zum Lic. theol. promoviert. Doch bereits 1936 stellte Fischer einen Antrag auf Umhabilitierung in die Philosophische Fakultät, da „sein leidenschaftliches Interesse […] der politischen Geschichte“ gehöre und „in der Beschäftigung mit ihr auch seine besondere Begabung“ liege.[2]

Fischers wichtigste Anregungen stammten vom Verfassungshistoriker Fritz Hartung, vom Bismarckinterpreten Arnold Oskar Meyer, von Hermann Oncken und Wilhelm Schüßler. Auf Empfehlung Onckens wandte sich Fischer seinem zweiten und bis heute geistig sehr stark in ihm nachwirkenden großen Forschungsthema zu: Moritz August von Bethmann Hollweg und der deutsche Protestantismus.[3]

Bereits in den frühen Jahren der Weimarer Republik engagierte sich Fischer in der völkischen Jugendbewegung, wo er Mitglied eines rechtsradikalen Freikorps, des Bund Oberland, war. 1933 trat er der SA, 1937 der NSDAP bei. 1939 wurde er Stipendiat des NS-Historikers Walter Frank.[4]

Unter dem Einfluss seines akademischen Lehrers, des mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden Berliner Kirchenhistorikers Erich Seeberg, bezog Fischer im Kirchenkampf nach 1933 Stellung zugunsten der Deutschen Christen und ihrer Bestrebungen zur Errichtung einer geeinten „Reichskirche“ auf völkischer Grundlage.[5] Im selben Jahr begann er seinen Militärdienst, wurde aber 1942 zum außerordentlichen Professor in Hamburg ernannt und hielt noch während des Krieges Vorträge über „das Eindringen des Judentums in Kultur und Politik“.[4] Gegen Kriegsende befand er sich bis 1946 in Kriegsgefangenschaft.

Zwar hat Fischer, anders als etwa Karl Dietrich Erdmann, sich nachträglich nicht zum entschiedenen Gegner des NS-Regimes stilisiert, doch hat er wiederholt betont, kein Anhänger der Nazis gewesen zu sein. Die angestrebte Laufbahn eines Hochschullehrers, schrieb Bernd Jürgen Wendt, sein Schüler und Nachfolger auf dem Hamburger Lehrstuhl, habe ihm „eine gewisse formale Anpassung“ abgefordert. Doch: „Im rauschhaften politischen Massentaumel der Dreißigerjahre ist Fischer sicher distanziert unpolitisch geblieben.“[5]

In einem Brief vom Oktober 1941 an Erich Botzenhart, Walter Franks Stellvertreter, bedauerte es der zum Kriegsdienst eingezogene Stipendiat des Instituts, den „großen Ostfeldzug“ nicht mitmachen zu können. Doch er freue sich, „im Winter wieder einige Vorträge vor den Batterien halten“ zu dürfen. Die Themen waren „das Eindringen des Judentums in Kultur und Politik Deutschlands in den letzten 200 Jahren, und: das Eindringen des jüdischen Blutes in die englische Oberschicht, und: die Rolle des Judentums in Wirtschaft und Staat der USA“.[5]

Für Fischers Distanzierung von nationalsozialistischem Gedankengut können verschiedene persönliche Ursachen benannt werden: Die Bündelung dieser vielgestaltigen Impulse der vierziger und fünfziger Jahre, die bildungsmäßige Verwurzelung und damit Fähigkeit zum kritischen Denken, die Reflexion der „deutschen Katastrophe“ und ihrer Ursachen in kritischer Auseinandersetzung mit dem lutherischen Erbe und dem preußisch-deutschen Machtstaatsgedanken und süddeutscher sozialer Krisen, die bewusste Hinwendung zur politischen Verantwortung des Historikers und die Begegnung mit der angelsächsischen Welt, ihren wissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden (1950–1955), nicht zuletzt aber auch der Eindruck des erregenden Beitrages von Ludwig Dehio auf dem Historikertag 1951 Deutschland und die Epoche der Weltkriege ließ in Fritz Fischer den Entschluss reifen, Deutschlands Stellung im Zeitalter des Imperialismus neu zu überdenken.[3]

1948 trat Fischer seine schon 1942 bewilligte Stelle als Extraordinarius an der Universität Hamburg an, die er bis zur Emeritierung 1973 behielt. Er bildete in dieser Zeit eine ganze Reihe von Historikern aus, die gemäß Fischers Position in der Fischer-Kontroverse in der Regel als progressiv oder politisch eher linksorientiert gelten. Zu Fischers Schülern zählen unter anderem Helga Timm, Imanuel Geiss, Bernd Jürgen Wendt, Volker Ullrich, Joachim Radkau, Gabriele Hoffmann, Rainer Postel und Peter Borowsky.

Im Alter von 91 Jahren starb Fritz Fischer 1999 in Hamburg. Seine Privatbibliothek befindet sich heute an der Universität Rostock.

Sein Nachlass ist im Bundesarchiv in Koblenz.[5]

Kontroverse

Mit seinem 1961 erschienenen Buch Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914–1918 löste Fischer mit der nach ihm benannten Fischer-Kontroverse eine der wichtigsten historiografischen Debatten der westdeutschen Nachkriegszeit aus.[4] Das Buch erlebte in den folgenden drei Jahren zwei weitere Auflagen und wurde damit zu einem Bestseller. Obwohl dieses Werk die gesamte Zeit des Ersten Weltkrieges behandelte, waren es vor allem die ersten beiden Kapitel, die den Anlass zur Diskussion gaben. Hierin behandelte Fischer vor allem die Julikrise und den Kriegsausbruch von 1914.

Fischer vertrat – im Gegensatz zur eher apologetischen zeitgenössischen deutschen Forschungsdiskussion – die These, dass der Erste Weltkrieg durch die imperialistischen Weltmachtsbestrebungen des Deutschen Reiches ausgelöst worden war. Im Buch schrieb er, den Begriff Kriegsschuldfrage bewusst vermeidend:

„Bei der angespannten Weltlage des Jahres 1914, nicht zuletzt als Folge der deutschen Weltpolitik, musste jeder begrenzte (lokale) Krieg in Europa, an dem eine Großmacht beteiligt war, die Gefahr eines allgemeinen Krieges unvermeidbar nahe heranrücken. Da Deutschland den österreichisch-serbischen Krieg gewollt, gewünscht und gedeckt hat, und, im Vertrauen auf die deutsche militärische Überlegenheit, es im Jahre 1914 bewusst auf einen Konflikt mit Russland und Frankreich ankommen ließ, trägt die deutsche Reichsführung einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges.[6]

Seine wissenschaftlichen Kontrahenten, darunter die Historiker Hans Herzfeld, Gerhard Ritter, Egmont Zechlin und Karl Dietrich Erdmann, vertraten dagegen die Ansicht, das Deutsche Reich habe 1914 aus einem Gefühl der Defensive gehandelt und trage keineswegs die Hauptschuld. Die zentrale Frage im Disput lautete: Sollte deutsche Politik vor dem und im Ersten Weltkrieg als intentionales Handeln einzelner Personen untersucht werden, oder sollte sie als spezifische, zwar nach innen diffus gerichtete, doch nach außen gebündelt und zielbestimmt wirkende Verhaltensweise eines Nationalstaats zu Zeiten globaler Interdependenz im Zeichen des Imperialismus erforscht werden?[7]

Für die westdeutsche Gesellschaft der 1960er Jahre war diese Auseinandersetzung auch politisch hochbrisant, da sie auf die Debatte über das Ziel der Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaats Einfluss nahm, die Forscher in zwei politische Lager spaltete. Die eher konservative Richtung sah das Deutsche Kaiserreich insgesamt positiv und im Versailler Vertrag und insbesondere in der Behauptung der Kriegsschuld Deutschlands ein großes Unrecht, das mit Schuld am Aufstieg des Nationalsozialismus gewesen sei, während die eher linksliberale Richtung, zu der auch Fischer tendierte, die deutsche Hauptverantwortung für den Kriegsausbruch hervorhob und auf die Kontinuität obrigkeitsstaatlicher Traditionen hinwies. Auf dem 26. Deutschen Historikertag 1964 in Berlin setzte sich Fischers Interpretation weitgehend durch.[8]

Für März 1964 lud das Goethe-Institut Fischer auf eine Vortragsreise in die Vereinigten Staaten ein. Die Tatsache, dass das Auswärtige Amt die schon bewilligten Fördergelder Ende Januar doch zurückzog, weitete sich zu einem Skandal über die Beschneidung der öffentlichen Meinungsfreiheit aus. Der Freiburger Historiker Gerhard Ritter hatte durch mehrere Briefe an den damaligen Bundesaußenminister Gerhard Schröder den Rückzug der Fördergelder bewirkt. Ritter nannte es „verheerend“, dass Fischer mit seinen Thesen als Repräsentant der deutschen Geschichtswissenschaft auftrete. Gegen die Absage der Vortragsreise protestierten einige amerikanische Historiker, darunter von NS-Regime aus Deutschland vertriebene, öffentlich. Schließlich finanzierten amerikanische Unterstützer – hauptsächlich Universitäten – Fischers USA-Reise.

1965 erweiterte Fischer seine Argumentation im Buch Weltmacht oder Niedergang, 1969 in Krieg der Illusionen. Vergleicht man seine Position mit der in früheren Jahren, so stellt man eine Radikalisierung fest. Schrieb er in der ersten Auflage von Griff nach der Weltmacht von einem „erheblichen Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges“, so versucht er in Krieg der Illusionen die gesamte Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges als geplante Aktion des deutschen Reiches darzustellen.

Werke (Auswahl)

  • Moritz August von Bethmann Hollweg und der Protestantismus. Religion, Rechts- und Staatsgedanke, Ebering, Berlin 1938.
  • Ludwig Nicolovius: Rokoko, Reform, Restauration. Stuttgart: W. Kohlhammer 1939 (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte 19)
  • Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918., Droste, Düsseldorf 1961.
  • Weltmacht oder Niedergang. Deutschland im Ersten Weltkrieg. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main, 1965.
  • Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914. Droste, Düsseldorf 1969.
  • Der erste Weltkrieg und das deutsche Geschichtsbild. Beiträge zur Bewältigung eines historischen Tabus, Droste, Düsseldorf, 1977, ISBN 3-7700-0478-7.
  • Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871–1945., Droste, Düsseldorf 1979.
  • Juli 1914. Wir sind nicht hineingeschlittert. Rowohlt, Reinbek 1983, ISBN 3-499-15126-X.
  • Hitler war kein Betriebsunfall. Aufsätze. C. H. Beck, München 1992.
  • Ludwig Nicolovius. Rokoko, Reform, Restauration, Hänel-Hohenhausen, Egelsbach, 1992, ISBN 3-89349-078-7 (3 Mikrofiches; Neuausgabe der Examensarbeit von 1934 zum Lic.theol.).

Literatur

  • Lothar Wieland: Der deutsche Griff nach der Weltmacht. Die Fischer-Kontroverse in historischer Perspektive. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 37, 1992, S. 742–752.
  • Klaus Große Kracht: Fritz Fischer und der deutsche Protestantismus. In: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte, Band 10, Heft 2, 2003, S. 224–252.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. John Moses: Fischer, Fritz. In: Kelly Boyd (Hrsg.): The Encyclopedia of Historians and Historical Writing. Band 1, Dearborn, London 1999, ISBN 1-884964-33-8, S. 386f.
  2. Fischer an Rem durch Rektor vom 29. Januar 1936, HUB UA, UK PA 63, Band 1, Blatt 9ff. (Zit.: Blatt 9).
  3. a b Imanuel Geiss, Bernd Jürgen Wendt (Hrsg.): Fritz Fischer zum 65. Geburtstag. In: Deutschland in der Weltpolitik. Düsseldorf 1973, S. 10.
  4. a b c Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. 2. Auflage, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2005, S. 152.
  5. a b c d Volker Ullrich: Griff nach der Wahrheit. Der berühmte Historiker Fritz Fischer im Zwielicht. In: Die Zeit, Nr. 4, 15. Januar 2004.
  6. Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918. Droste, Düsseldorf 1961, S. 97.
  7. Arnold Sywottek: Die Fischer-Kontroverse. Ein Beitrag zur Entwicklung des politisch-historischen Bewusstseins in der Bundesrepublik. In: Deutschland in der Weltpolitik, S. 19.
  8. Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Band 2: Vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung. München 2000, S. 247.

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