- Sequenze
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Sequenze (italienisch: Plural des Singulars Sequenza) bezeichnet einen Werkzyklus des italienischen Komponisten Luciano Berio (1925–2003). Jeder einzelnen Sequenza sind Verse des italienischen Dichters Edoardo Sanguineti, mit dem er bereits bei dem Werk A-Ronne (1975) zusammengearbeitet hatte, vorangestellt. Die Sequenza III für Frauenstimme „vertont“ einen Text des Schweizer Schriftstellers Markus Kutter.
Inhaltsverzeichnis
Historischer Hintergrund
Seit der Erfindung und Einführung der wohltemperierten Stimmung durch Andreas Werckmeister (1691), der Johann Sebastian Bach in seinen beiden Bänden des Wohltemperierten Klaviers entschlossen zum Durchbruch verholfen hatte, waren das musikalische Denken und die kompositorische Praxis gleichermaßen bestimmt vom Klavier. Hatte die wohltemperierte Stimmung den Komponisten ungeahnte Möglichkeiten der Modulation erschlossen, so stand im Klavier ein Instrument zur Verfügung, indem sich die neue kompositorische Freiheit quasi handgreiflich- materiell manifestierte. Diese Entwicklung fand ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert. Der Kulminationspunkt der harmonisch- tonalen Entwicklung In Wagners Tristan markiert aber zugleich auch den Beginn ihrer Auflösung.
Im 20. Jahrhundert ist die kompositorische Situation gekennzeichnet durch zwei eng miteinander zusammenhängende Prinzipien. Mit dem Brüchigwerden bzw. dem Wegfall der Tonalität entsteht zugleich das Bedürfnis nach neuen Ordnungsprinzipien, wie sie sich in der Zwölftontechnik Arnold Schönbergs und dem sie ablösenden Serialismus dokumentierten. Zur Zeit der Entstehung der Sequenze steht allerdings der Serialismus oder zumindest sein Absolutheitsanspruch längst selbst wieder zur Disposition. Mikrotonalität und Spektralmusik stellen beispielsweise die gesamte chromatische Tonordnung, vielleicht den Gedanken eines vorgeordneten Ordnungssystems der Töne überhaupt in Frage.
Demgegenüber steht die vehement betriebene Suche nach neuen unverbrauchten Ausdrucksmöglichkeiten: hierzu zählt insbesondere auch die Erforschung und Erfindung neuer Spielpraktiken der einzelnen Instrumente, wie sie beispielsweise Schönberg in der Entwicklung der Sprechstimme exemplarisch vorgeführt hatte.
Einerseits muss sich das Klavier selbst einer Umwandlung und Neubewertung unterziehen: hierfür stehen bspw. John Cages Versuche mit dem präparierten Klavier. Vor allem aber geraten nun ausnahmslos alle, auch bisher vernachlässigte Instrumente wieder in das Blickfeld des kompositorischen Interesses.
Auf der Suche nach einer Neudefinition des musikalischen Materials wandelt sich die Rolle des Instruments überhaupt: es ist nicht mehr bloß klangliche Erscheinungsform und Ausdrucksträger des musikalischen Gedankens, sondern wird darüber hinaus in die Funktionen des Materials selbst einbezogen.
Das spieltechnische und klangliche Ausloten der Möglichkeiten der einzelnen Instrumente (und selbstredend ihrer Kombinationen) wird so zu einer kompositorischen Herausforderung von eminenter Wichtigkeit. Dem Reiz dieser Aufgabe hat sich Berio in seinen Sequenze gleich in einen ganzen sukzessiv entstandenen Zyklus angenommen:
- Sequenza I für Flöte (1958)
- Sequenza II für Harfe (1963)
- Sequenza III für Frauenstimme (1965)
- Sequenza IV für Klavier (1966)
- Sequenza V für Posaune (1965)
- Sequenza VI für Viola (1967)
- Sequenza VII für Oboe (1969)
- Sequenza VIII für Violine (1976)
- Sequenza IXb für Klarinette (1980)
- Sequenza IXb für Alt-Saxophon (1981)
- Sequenza X für Trompete in C und Klavierresonanz (1984)
- Sequenza XI für Gitarre (1987/88)
- Sequenza XII für Fagott (1995)
- Sequenza XIII für Akkordeon (1995)
- Sequenza XIV für Cello (2002)
Zum Begriff Sequenza
„Der Titel Sequenzen unterstreicht die Tatsache, daß die Anlage der Stücke fast immer von einer Folge harmonischer Felder ihren Ausgang nimmt, aus denen mit einem Höchstmaß an Charakteristik auch die anderen musikalischen Funktionen hervorgehen.“ (Berio 1998, S. 23)
Der dabei angestrebte Eindruck eines polyphonen Hörens auch bei einstimmigen Instrumenten ist in der Tradition bereits vorgebildet: in Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo oder seinen Cellosuiten macht sich polyphones Denken als linearer Kontrapunkt geltend. Berio erweitert ihn um die Verschränkung spieltechnischer und klanglicher Aspekte.
„Fast alle Sequenzen folgen tatsächlich dem gemeinsamen Ziel, einem dem Wesen nach harmonischen Verlauf auf melodischen Wegen zu verdeutlichen und zu entwickeln. ... Polyphonie wird hier im übertragenen Sinn verstanden, als Vorführung und Überlagerung von Aktionsweisen und von verschiedenen Instrumenten-Charakteren.“ (Berio 1998, S. 23)
Gemeinsames Merkmal aller Sequenzen ist ihr virtuoser Grundzug. Der angesprochene Aspekt instrumentaler Technik umreisst dabei nicht nur die instrumentale Geschäftigkeit im engeren Sinne, sondern soll die gesamte Beziehung zwischen dem Virtuosen und seinem Instrument umfassen.
„Die besten Solisten unserer Zeit - modern in ihrer Intelligenz, ihrer Sensibilität, ihrer Technik - sind auch fähig, sich in einer weiten historischen Perspektive zu bewegen und die Spannungen zwischen den schöpferischen Impulsen von gestern und heute aufzuheben: sie setzen ihre Instrumente als Mittel zur Suche und zum Ausdruck ein. Ihre Virtuosität erschöpft sich nicht in manueller Fertigkeit oder philologischem Spezialistentum. Geschehe es auch bei unterschiedlichen Graden der Bewußtseinsschärfe - sie können sich nur der einzigen Virtuosität widmen, die heute gilt: jener der Sensibilität und Intelligenz. ... Das ist vielleicht auch ein Grund, warum ich in allen meinen Sequenzen nie versucht habe, das Erbgut eines Instruments zu verändern noch es gegen seine eigene Natur einzusetzen.“ (Berio 1998, S. 24f)
Die Motti von Edoardo Sanguineti
- Sequenza 1: und hier beginnt deine Begierde, die der Wahn meiner Begierde ist: / die Musik ist die Begierde der Begierden:
- Sequenza 2: ich habe Ketten von Farben gehört, muskulös und aggressiv: / ich habe deine rauhen, harten Geräusche berührt:
- Sequenza 3: ich will deine Worte: und ich will sie zerstören, in Eile, deine Worte: / und ich will mich zerstören, mich, endlich, wirklich:
- Sequenza 4: ich zeichne mich selbst gegen deine vielen Spiegel, ich verändere mich mit meinen Adern, / mit meine Füßen: ich schließe mich in alle deine Augen:
- Sequenza 5: ich frage dich: warum, warum? und ich bin die trockene Grimasse eines Clowns / warum willst du wissen, frage ich dich, warum ich dich frage, warum?
- Sequenza 6: meine launenhafte Wut ist deine fahle Ruhe gewesen / mein Lied wird dein langsames Schweigen sein
- Sequenza 7: Dein Profil ist eine meiner tobenden Landschaften, auf Distanz gehalten / es ist ein falsches Feuer der Liebe, die gering: tot ist
- Sequenza 8: ich habe für dich meine Stimmen vervielfacht, meine Worte, meine Vokale / und ich schreie, jetzt, dass du mein Vokativ bist
- Sequenza 9a: du bist unbeständig und unbeweglich, mein fragiles Fraktal / du bist diese, meine zerbrochene Form, die zittert
- Sequenza 9b: meine fragile Form, du bist unbeständig und unbeweglich: / du bist es, jenes mein zerbrochenes Fraktal, das zurückkehrt und das zittert:
- Sequenza 10: beschreibe meine Grenzen, und umschließe mich in Echos, in Reflexen / auf lange und unbefange, werde du mir mich, du, für mich
- Sequenza 11: ich finde dich wieder, mein kindischer, unbeständiger Pseudo-Tanz / ich schließe dich in einen Kreis: und ich unterbreche dich, zerbreche dich
- Sequenza 12: ich bewege mich leise, leise, ich enthülle dich, ich erkunde deine Gesichter, ich ertaste dich, nachdenklich: / ich drehe dich und drehe hin und her, dich verändernd, zitternd: ich quäle dich, schrecklich:
- Sequenza 13: und so tröstet uns ein Akkord, der uns freundlich schließt, schlicht: / die Katastrophe ist mittendrin, ist im Herzen: aber sie bleibt dort eingezäunt, verschanzt:
Von dieser ästhetischen Position aus wird verständlich, warum Berio den einzelnen Sequenzen Gedichtzeilen von Edoardo Sanguineti als Motti vorangestellt hat. Der Brauch, Instrumentalkompositionen erläuternde Titel voran- (oder etwa im Fall der beiden Bände der Préludes von Debussy) nachzustellen, ist geläufige Praxis. Besonders Robert Schumann hat in seinen Klavierwerken ausgiebig davon Gebrauch gemacht, wenn es ihm darum ging, den poetischen Gehalt eines Stückes hervorzuheben, um beim Interpreten und Zuhörer der Vorstellung des Mechanisch-Etüdenhaften entgegenzuwirken und die Stücke als poetische Gebilde und autonome Kunstwerke auszuweisen. Dabei hat er auch von der Möglichkeit ganzer Verse (etwa in dem den Davidsbünlertänzen op. 6 vorangestellten Motto) Gebrauch gemacht. Die von Berio verwendeten Verszeilen Edoardo Sanguinetis stehen darüber hinaus in einem inhaltlichen Zusammenhang und zeigen so Berios Bestreben, die einzelnen Sequenzen auch untereinander zu verklammern. Damit wird zumindest ein innerer Zusammenhalt unterstrichen, vielleicht sogar die Möglichkeit der zyklischen Aufführung anvisiert.
Text von Markus Kutter zu Sequenza III (für Frauenstimme)
Give me
a few words
for a woman
to sing a truth
allowing us
to build
a house
without worrying
before night comesLiteratur
- Berio, Luciano: Sequenze. In: CD-Begleit-Textheft (Booklet) zur Gesamtaufnahme der Sequenze bei DGG, Hamburg 1998
- Janet K. Halfyard: Berio´s Sequenzas Essays on Performance, Composition and Analysis, ASHGATE 2007
Diskografie
- Gesamtaufnahme Sequenze 1 - 13 mit Solisten des Ensemble Intercontemporain bei DGG
Kategorie:- Kammermusikalisches Werk
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