Sozialgeographie

Sozialgeographie

Die Sozialgeographie (auch Sozialgeografie) sieht sich selbst als "Brückenwissenschaft" zwischen der Soziologie und der Geographie. Von der wissenschaftlichen Disziplin her ist sie der Geographie zuzuordnen und ist ein Teilgebiet der Humangeographie.

Inhaltsverzeichnis

Hauptfragen

Kernthematik der Sozialgeographie ist die Beziehung von Gesellschaft und Raum. Dabei sind vor allem zwei Fragestellungen interessant (vgl. Werlen (1995)):

  1. Wie organisieren sich Gesellschaften in räumlicher Hinsicht?
  2. Welche Rolle spielen die räumlichen Bedingungen für die Existenz einer Gesellschaft?

Disziplingeschichte

Die Ursprünge der Sozialgeographie sind in Frankreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu finden und gehen auf die Le Play-Schule (Pierre Guilleaume Fréderic Le Play) und den Geographen Elisée Reclus zurück. Erstmals benutzt wurde der Begriff der géographie sociale bei einer Besprechung von Reclus erstem Band der Nouvelle géographie universelle (1911) von Paul de Rousiers, einem Mitglied der Le Play-Schule. Reclus übernahm diesen Begriff.

Das Aufkommen der Sozialgeographie wurde maßgeblich durch die industrielle Revolution mit begünstigt. Durch den damit verbundenen Verstädterungsprozess kam es zu einer räumlichen Konzentration der Bevölkerung. Durch den damit verbundenen Berufswechsel aus der Landwirtschaft in industrielle Berufe innerhalb einer Fabrik kommt es zu einer sozialen Konzentration.

Die deutschsprachige Sozialgeographie war lange Zeit - wie die Geographie allgemein - von geodeterministischen Vorstellungen geprägt. Lage, Raum und Grenzen wurden so zu sozialen Wirkfaktoren. Als wichtiger Vertreter muss Friedrich Ratzel (1844-1904) genannt werden, der den Naturdeterminismus in der Sozialgeographie verankerte- also der Grundstein für die "Blut-und-Boden"-NS-Ideologie: Für einen Boden kann es auch nur ein Volk geben. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmte die Landschafts- bzw. Länderkunde die Anthropogeographie und prägte die Wahrnehmung der Geographie im Wissenschaftsbetrieb als vornehmlich deskriptive Disziplin ohne theoretische Basis.

Erst mit dem Eingang funktionalen Denkens in die Sozialgeoraphie erfuhr diese eine Weiterentwicklung. Die stärkste Phase der Sozialgeographie in Deutschland war von den 60ern bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, verbunden mit der Entstehung zahlreicher geographischer Disziplinen an den Universitäten (u.a. Raum und Raumplanung) und Beeinflussung der Inhalte in den Schulen. Dazu trug vor allem die Münchner Schule der Sozialgeographie mit Jörg Maier, Karl Ruppert, Reinhard Paesler und Schaffer, als deren wichtigsten Vertreter, bei. Im Mittelpunkt ihrer Forschung stehen die sieben Daseinsgrundfunktionen: Gesellschaft, Wohnen, Arbeit, Versorgen, Erholen, Bilden und am Verkehr teilnehmen. Anhand dieser Funktionen lassen sich alle Muster menschlicher Mobilität nachvollziehen. Auch lassen sich viele geographische Disziplinen ihnen direkt zuordnen.

Aktuelle Diskussionen

Trotz der großen innovativen Kraft der Sozialgeographie kam es nicht zu einer vollständigen Neuorientierung der Humangeographie. Mit einer der Gründe hierfür sind die schwer einzusehenden Methoden der Sozialgeographie und die Schwierigkeit an verwertbare Daten zu kommen. So lässt sich gesellschaftliche Raumwirksamkeit nur schwer messen. Die Notwendigkeit und Bedeutung einer sozialgeographischen Betrachtungsweise wird jedoch anerkannt.

Die sozialen Beziehungen von Einzelpersonen, die zwischenmenschliche Interaktion, die individuelle Raumwahrnehmung und -bewertung, wie auch die entsprechenden Verhaltensmuster einer großen Bevölkerungsgruppe weisen vielfältige Beziehungen zum Raum auf. Raum im geographischen Sinne kann dazu beitragen, bestimmte menschliche Verhaltensweisen zu erklären (beispielsweise Mobilität), wird gleichzeitig aber auch selbst durch menschliches Verhalten verändert (Nutzung, Bebauung) oder verzerrt (Massenverkehr).

Mit dem aus der individuellen Wahrnehmung und Interaktion herleitbaren Verhältnis von Gesellschaft und Raum sowie der räumlichen Organisation menschlicher Gesellschaft befasst sich die Sozialgeographie. Wichtige Interessenfelder sind unter anderem

In neuerer Zeit ist die Sozialgeographie durch handlungstheoretische Ansätze weiterentwickelt worden. Benno Werlen übertrug die Strukturationstheorie des Soziologen Anthony Giddens auf die Sozialgeographie. In diesem Zusammenhang fordert er die Abwendung von einer "handlungsorientierten Raumwissenschaft" und das Betreiben einer "raumorientierten Handlungswissenschaft" (Werlen 2000: 310).

Siehe auch

Literatur

  • Karl Ruppert, Franz Schaffer: Zur Konzeption der Sozialgeographie. In: Geographische Rundschau <Braunschweig>. 21/6/1969, S. 214-221, Westermann, Braunschweig, ISSN 0016-7460
  • Peter Weichhart: Entwicklungslinien der Sozialgeographie. Von Hans Bobek bis Benno Werlen. In: Sozialgeographie kompakt, Band 1, Steiner, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-515-08798-8.
  • Benno Werlen: Sozialgeographie. Eine Einführung. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. UTB 1911, Haupt, Bern / Stuttgart / Wien 2008 (Erstausgabe 2000), ISBN 978-3-8252-1911-6.
  • Karin Wesse: Empirisches Arbeiten in der Wirtschaftsgeographie und Sozialgeographie. UTB 1956, Schöningh, Paderborn / München / Wien / Zürich 1996, ISBN 3-8252-1956-9 (UTB) / ISBN 3-506-99486-7 (Schöningh).

Weblinks


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