Synoptisches Problem

Synoptisches Problem

Das Synoptische Problem betrifft die Erklärung der Übereinstimmungen und Unterschiede der ersten drei Evangelien des Neuen Testaments der Bibel (Matthäus-, Markus- und Lukasevangelium) hinsichtlich Wortlaut, Reihenfolge und Stoffauswahl. Es ist ein klassisches Problem der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft.

Die jeweilige Antwort auf das Synoptische Problem beeinflusst die Auslegung (Exegese) der drei Evangelien in hohem Maße, insbesondere Redaktionsgeschichte und Formgeschichte dieser drei Schriften sowie die Rekonstruktion von Leben und Predigt des historischen Jesus und Aspekten der frühesten Kirchengeschichte (Urchristentum). Die verbreitetste Hypothese ist die so genannte Zweiquellentheorie. Sie nimmt an, dass Lukas und Matthäus das Markusevangelium und eine hypothetische zweite Quelle, die Jesussprüche enthielt, als Vorlagen genutzt haben.

Inhaltsverzeichnis

Der Befund

Im Einzelnen sind folgende Sachverhalte zu erklären:

  • Übereinstimmungen im Wortlaut: Matthäus, Markus und Lukas stimmen bei parallelen Stellen in ca. 50% der Wörter überein, während sie mit Parallelstellen bei Johannes in nur 10% der Wörter übereinstimmen.
  • Auffallende Übereinstimmungen in der Reihenfolge
  • Dreifache gemeinsame Überlieferung: fast das ganze Material von Markus ist in Matthäus enthalten, etwa zwei Drittel davon zudem in Lukas
  • Zweifache gemeinsame Überlieferung: etwa 200 Verse sind bei Matthäus und Lukas, aber nicht bei Markus enthalten.

Um diese Zusammenhänge zu erklären, werden nach wie vor verschiedene Hypothesen diskutiert, unter welchen keine sämtliche Detailprobleme unstrittig hinreichend beantwortet.

Lösungsansätze

Es gibt forschungsgeschichtlich im Wesentlichen vier Ansätze, die dreifache gemeinsame Überlieferung literarkritisch zu erklären:

  • Priorität des Markus: Markus wurde zuerst geschrieben und von Matthäus und Lukas als Vorlage benutzt.
  • Priorität des Matthäus: Matthäus wurde zuerst geschrieben, von Markus als Vorlage benutzt, der dann von Lukas verwendet wurde.
  • Priorität des Lukas: Lukas wurde zuerst geschrieben, von Markus als Vorlage benutzt, der dann von Matthäus verwendet wurde.
  • Griesbachhypothese: Markus, der als dritter kam, kombinierte und kondensierte Matthäus und Lukas.

Um die zweifache gemeinsame Überlieferung zu erklären, gibt es die folgenden Ansätze:

  • Matthäus und Lukas kopierten die zweifache Überlieferung von einer gemeinsamen Quelle.
  • Lukas kopierte die zweifache Überlieferung von Matthäus.
  • Matthäus kopierte die zweifache Überlieferung von Lukas.

Wichtigste Lösungstheorien

In der neutestamentlichen Wissenschaft wurden mehrere Hypothesen als Lösung für das synoptische Problem diskutiert, wobei manche heute nur noch von historischem Interesse sind. Die wichtigsten Lösungstheorien sind:

  • Fragmentenhypothese: Auch Diegesenhypothese genannt, 1817 von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher formuliert. Die Apostel und deren Hörer hätten einzelne Aussprüche und Geschichten über Jesus aufgeschrieben. Die Evangelisten haben diese Fragmente gesammelt und daraus ihr Evangelium zusammengestellt. Heute wird die Theorie nicht mehr vertreten.
  • Traditionshypothese: Danach haben Matthäus, Markus und Lukas jeweils nur (oder hauptsächlich) mündliche Überlieferung verwendet. Diese Theorie erblickte bei Johann Gottfried von Herder das Licht der Welt und wurde von Johann Carl Ludwig Gieseler 1818 ausgearbeitet. Die relative Gleichförmigkeit der mündlichen Tradition wird durch Auswendiglernen (rabbinischer Lehrbetrieb), häufiges Wiederholen und feste Tradentenkreise begründet. Sehr einflussreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der kath. Kirche bis ins 20. Jahrhundert. Noch heute einzelne Vertreter.
  • Zweiquellentheorie (Two-Source-Hypothesis): Diese Hypothese geht davon aus, dass Markus zuerst geschrieben wurde, und Matthäus und Lukas unabhängig voneinander Markus als Vorlage benutzt haben und unabhängig voneinander Material aus einer zweiten Quelle, bezeichnet als Logienquelle oder Q, verwendet haben. Sie ist am breitesten akzeptiert, besonders im deutschen Sprachraum.
  • Griesbachhypothese (Two-Gospel-Hypothesis/Zwei-Evangelien-Theorie): Diese Theorie geht davon aus, dass Matthäus zuerst geschrieben wurde und Lukas Matthäus beim Schreiben seines Evangeliums verwendete. Markus hat dann sein Evangelium geschrieben, das sich auf Matthäus und Lukas stützt, aber die Reden weitgehend weglässt. Diese Theorie wurde zuerst von Johann Jakob Griesbach 1789 beschrieben. Die Neo-Griesbach-Theorie ist in Amerika die stärkste Konkurrenz zur Zweiquellentheorie (W. R. Farmer und seine Schüler).
  • Farrerhypothese: Die Farrer-Hypothese, auch Farrer-Goulder-Hypothese genannt, geht davon aus, dass Markus zuerst geschrieben wurde, von Matthäus übernommen wurde und dann von Lukas verwendet wurde. Die doppelte Überlieferung wird dadurch erklärt, dass Lukas weitere Teile von Matthäus übernommen hat, wodurch die Annahme von Q unnötig wird. Die Farrer-Hypothese gilt in England als ernsthafte Alternative zur Zweiquellentheorie (Goulder, Goodacre).
  • Dreiquellentheorie: Diese Theorie geht davon aus, Matthäus habe Markus und eine Logienquelle verwendet, und Lukas verwendete drei Quellen, nämlich Markus, diese Logienquelle, und Matthäus als Nebenquelle. Infolgedessen kann man nicht zwangsläufig diese Logienquelle mit Q gleichsetzen. (E. Simons, H. J. Holtzmann, R. Morgenthaler, R. H. Gundry)
  • Die Augustinische Theorie: Die Augustinische Theorie sieht Matthäus als erstes Evangelium, Markus verwendete und kürzte Matthäus, Lukas, als letzter, verwendete Markus und Matthäus. Die Augustinische Hypothese war die traditionelle synoptische Theorie und wurde bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts von vielen katholischen Theologen vertreten. Heute wird sie nur noch begrenzt unterstützt.
  • Die Theorie der Jerusalem-Schule: Diese Theorie geht davon aus, dass Lukas zuerst geschrieben wurde. Markus basierte auf Lukas und Matthäus verwendete dann Markus. Außerdem verwendeten Matthäus und Lukas unabhängig voneinander eine unbekannte Redenquelle, als Anthologie bezeichnet. Die Theorie der Jerusalem-Schule ist unter einer Gruppe von Theologen in Jerusalem populär. Diese Gruppe, die fließend Hebräisch spricht, geht das synoptische Problem vom potenziellen semitischen Original aus an und hat entdeckt, dass Lukas oft dem Semitischen näher ist als Markus.

Außer der Fragmenten- und der Traditionshypothese sind alle diese Lösungsansätze Benutzungshypothesen, die von einer literarischen Abhängigkeit ausgehen, d. h. annehmen, dass den späteren Evangelisten die Werke der früheren schriftlich vorlagen.

Literatur

Einleitungen in das NT

  • Walter Schmithals: Einleitung in die drei ersten Evangelien. de Gruyter, Berlin 1985 (ausführliche Einleitung zur synoptischen Frage, enthält auch Forschungsgeschichte)
  • Udo Schnelle: Einleitung in das Neue Testament. 5., neubearb. Aufl. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005. ISBN 3-8252-1830-9
  • Ingo Broer: Einleitung in das Neue Testament. Bd. 1: Die synoptischen Evangelien, die Apostelgeschichte und die johanneische Literatur. Die neue Echter-Bibel, Ergänzungsband 2/I zum NT. Echter, Würzburg 1998
  • Werner Georg Kümmel: Einleitung in das Neue Testament 21., erg. Aufl. Quelle & Meyer, Heidelberg 1983. (S. 13-53 zur synoptischen Frage)
  • Ferdinand R. Prostmeier: Kleine Einleitung in die synoptischen Evangelien. Herder, Freiburg i.Br. u.a. 2006 (Studienbuch, das in den aktuellen Forschungsstand einführt)
  • Donald A. Carson, Douglas J. Moo: Einleitung in das Neue Testament. Brunnen: Gießen 2010 (konservativ), ISBN 978-3-7655-9541-7

Einzelstudien zur synoptischen Frage

  • Thomas R. W. Longstaff / Page A. Thomas: The Synoptic Problem: A Bibliography, 1716-1988. New Gospel Studies 4, Mercer, Macon 1988 (Spezialbibliografie auf 235 S.!)
  • Robert H. Stein: The Synoptic Problem. An Introduction. Baker, Grand Rapids 1987 (gute Einführung)
  • Armin D. Baum: Der mündliche Faktor und seine Bedeutung für die synoptische Frage. Analogien aus der antiken Literatur, der Experimentalpsychologie, der Oral Poetry-Forschung und dem rabbinischen Traditionswesen. A. Francke: Tübingen 2008 [unterstützt Traditions-Hypothese] ISBN 978-3-7720-8266-5
  • Christopher M. Tuckett: The Revival of the Griesbach Hypothesis. An Analysis and Appraisal. Society for New Testament Studies, Monograph Series 44. University Press, Cambridge 1983 (aus der Sicht der Zweiquellentheorie)
  • Arthur J. Bellinzoni (Hrsg.): The Two-Source Hypothesis. A Critical Appraisal. Mercer, Macon 1985 (Sammelband mit Artikeln aus 60 Jahren für und gegen Mk-Priorität und für und gegen Q; aus der Sicht der Griesbachhypothese)
  • Robert Morgenthaler: Statistische Synopse. Gotthelf Verlag, Zürich, 1971 (Dreiquellentheorie)
  • Bo Reicke: Die Entstehungsverhältnisse der synoptischen Evangelien. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Reihe II: Principat, Bd. 25.2, de Gruyter, Berlin 1984, S. 1758-1791 (Traditionshypothese)
  • Eta Linnemann: Gibt es ein synoptisches Problem? 4., veränd. Aufl., Verlag für Theologie und Religionswissenschaft, Nürnberg 1999. ISBN 3-933372-15-1 (eine Form der Traditionshypothese)

Weblinks


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