Tabakbeschluss

Tabakbeschluss

Unter dem Namen Tabakbeschluss ist in der Rechtswissenschaft eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutzbereich der Religionsfreiheit, Art. 4 GG, bekannt. Dabei führt das Gericht einen „abendländischen Kulturvorbehalt“ ein, auf den es in späteren Entscheidungen aber nicht mehr rekurriert.

Tabakbeschluss
Logo des Bundesverfassungsgerichts auf seinen Entscheidungen
verkündet
8. November 1960
Fallbezeichnung: Verfassungsbeschwerde gegen Entscheidung des Bundesgerichtshofes
Fundstelle: BVerfGE 12, 1
Aussage
Die Glaubensfreiheit umfasst auch die Werbung für den eigenen Glauben wie die Abwerbung von einem fremden Glauben. Das Grundrecht schützt aber nur solche Tätigkeiten, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet haben.
Richter
Erster Senat
Angewandtes Recht
Art. 4 Grundgesetz

Sachverhalt

Der Beschwerdeführer, ein Kunstgeschichtler und Graphiker, war Anhänger des Bundes für Gotterkenntnis (Mathilde Ludendorff) e. V. In der NS-Zeit war er Mitglied der SS wegen deren „antichristlichen Charakters“; nach dem Krieg kam er unter falschem Namen bei der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) unter. Wegen Spionage für DDR-Nachrichtendienste wurde der Beschwerdeführer vom Bundesgerichtshof wegen versuchten Landesverrates zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt.

Dort warb er unter seinen Mitgefangenen für den Kirchenaustritt. Einzelnen von ihnen versprach er dafür Tabak, wovon der Tabakbeschluss seinen Namen herleitet. Als der Beschwerdeführer um bedingte Entlassung ersuchte, lehnte der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 28. Dezember 1955 ab. Als Begründung verwies das Gericht auf die Vorkommnisse in der Strafhaft; darin trete „ein solcher Grad von gemeiner Gesinnung und moralischer Niedertracht zu Tage, daß nicht erwartet werden kann, er werde in Zukunft ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben führen“ (6. Strafsenats des Bundesgerichtshofs – StE 22/52 (AK 115/55)). Der Beschwerdeführer rügte daraufhin die Verletzung seiner Religionsfreiheit.

Entscheidung

Das Bundesverfassungsgericht wies die Verfassungsbeschwerde als unbegründet zurück. Zwar umfasse die in Art. 4 GG gewährleistete Religionsfreiheit die Glaubensabwerbung auch dann, wenn sie nicht mit einer Werbung für einen anderen Glauben einhergehe. Offen ließ das Gericht dabei das Verhältnis zum Grundrecht der Meinungsfreiheit.

In dem vorliegenden Fall sah das Gericht aber den Schutzbereich der Religionsfreiheit dennoch nicht als eröffnet an. Dazu führte es aus, das Grundgesetz habe nicht irgendeine, wie auch immer geartete freie Betätigung des Glaubens schützen wollen, sondern nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat (so genannte „Kulturadäquanzformel“).

Wenn auch eine Abgrenzung schwierig sei, weil der weltanschaulich neutrale Staat den Inhalt der Religionsfreiheit nicht näher bestimmen dürfe, so liege doch im Fall des Beschwerdeführers ein Missbrauch vor, den der Staat zu verhindern habe. Aus dem Aufbau der grundrechtlichen Wertordnung, insbesondere der Würde der Person, ergebe sich nämlich, dass Missbrauch namentlich dann vorliege, wenn die Würde einer anderen Person verletzt werde. Dies liege wegen der unlauteren Methoden bzw. sittlich verwerflichen Mittel durch Ausnutzung der besonderen Verhältnisse des Strafvollzuges vor; der Beschwerdeführer genieße daher nicht den Schutz des Artikels 4 GG. Folglich sei der Beschwerdeführer nicht in Grundrechten verletzt.

Beurteilung

Der Tabakbeschluss ist eine frühe Entscheidung zu der auch heute noch kontrovers beurteilten Frage, welches Verhalten das Grundrecht der Religionsfreiheit schützt (so genannter sachlicher Schutzbereich). Dabei zeichnet sich bereits ein weites Verständnis der Religionsfreiheit ab, indem auch die Abwerbung ohne Werbung für einen anderen Glauben geschützt sein soll. Diese Tendenz setzte sich insbesondere in der späteren Entscheidung zur Aktion Rumpelkammer („Lumpensammlerfall“) fort.

Eingeschränkt wird der Schutzbereich aber durch die „Kulturadäquanzformel“, die im Schrifttum auf starke Kritik gestoßen ist. Teils wird sie als Verstoß gegen die weltanschauliche Neutralität des Staates betrachtet, teils wegen ihrer Unbestimmtheit („gewisse übereinstimmende sittliche Grundanschauungen“) abgelehnt. Auch die Beschränkung auf die „heutigen Kulturvölker“ wird kritisiert. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat sich zwar nicht ausdrücklich von der Formel distanziert, hat sie aber seit dem Tabakbeschluss auch nicht mehr verwendet. Daraus wird allgemein der Schluss gezogen, dass das Gericht von ihr Abstand genommen hat.

Rechtshinweis Bitte den Hinweis zu Rechtsthemen beachten!

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем написать реферат

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Kulturadäquanz — ist vom Ursprung her ein juristischer Terminus, der aus den Substantiven Kultur und dem vom Adjektiv adäquat (angemessen, entsprechend) abgeleiteten juristischen Fachbegriff Adäquanz gebildet ist. Das Erfordernis der Kulturadäquanz wurde im sog.… …   Deutsch Wikipedia

  • 8. November — Der 8. November ist der 312. Tag des Gregorianischen Kalenders (der 313. in Schaltjahren), somit bleiben 53 Tage bis zum Jahresende. Historische Jahrestage Oktober · November · Dezember 1 2 …   Deutsch Wikipedia

  • Religionsfreiheit in Deutschland — Die Religionsfreiheit ist in Deutschland ein durch das Grundgesetz garantiertes Grundrecht. Kraft europäischen Rechts ist die Religionsfreiheit in Deutschland durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleistet. Völkerrechtlich… …   Deutsch Wikipedia

  • Paritätsgrundsatz — Der Paritätsgrundsatz (auch „Paritätsprinzip“ oder „religionsrechtliche Parität“) ist ein im Staatskirchenrecht entwickeltes Gleichbehandlungsgebot der verschiedenen Religions und Weltanschauungsgemeinschaften. Als Bevorzugungs und… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”