Tiermärchen

Tiermärchen

Das Tiermärchen ist als spezielle Form des Märchens ein eigenes folkloristisches Genre, in dem anthropomorphisierte Tiere als Helden der Erzählung auftreten.

Inhaltsverzeichnis

Wissenschaftliche Definitionsversuche

Es liegt keine einheitliche und damit verbindliche wissenschaftliche Definition für das Tiermärchen vor. Dennoch werden einige Merkmale als typisch und international gültig für das Genre angesehen. Das wichtigste dieser Merkmale sind die tierischen Protagonisten, wie es unter anderem Mizuyo Ashiya in Bezug auf das japanische Tiermärchen,[1] Isidor Levin in Bezug auf das tadschikische Tiermärchen beschreiben[2] und Jack Haney für das russische Tiermärchen beschreibt:

“Animal tales are stories in which human beings are not the main actors. Animals, less commonly birds and fish, are the chief 'movers and shakers'. ”

Tiermärchen sind Erzählungen, in denen die Hauptfiguren keine Menschen sind. Tiere, weniger häufig auch Vögel und Fische, sind die Hauptakteure.[3]

Auch Wilhelm Solms geht in seiner Analyse der Grimmschen Tiermärchen von dem tierischen Personal aus, fügt jedoch noch weitere Merkmale an:

„1. Die Hauptfiguren oder Träger der Handlung, also die Helden und zumeist auch ihre Gegenspieler, sind jeweils Tiere. 2. Das Geschehen wird in einem schwankhaften Ton berichtet, der den Zuhörer erheitert. 3. Die Erzählungen sind Variationen desselben Themas: der Kleine vermag durch Mut und Klugheit dem Großen zu widerstehen oder ihn sogar zu überwinden.[4]

Die beiden letzten Charakteristika sind jedoch offenbar nicht absolut universal gültig. So ist laut Ashiya der Ton japanischer Tiermärchen „dem Charakter der Einwohner entsprechend meistens leicht, gutmütig, heiter und einfach.“[5] Haney spricht den russischen Tiermärchen sogar jede Heiterkeit ab:

“The tales are told in neither comic nor tragic fashion but in that matter-of-fact, accepting way that has often been ascribed to the Russian peasant. ”

Die Märchen sind weder in einem komischen noch in einem tragischen Stil erzählt, sondern auf diese sachliche, pragmatische Art, die den russischen Bauern häufig zugeschrieben wird.[6]

Und er formuliert auch Solms dritten Punkt ins Negative, wenn er von "duplicity" („Falschheit“) als dem Thema russischer Tiermärchen spricht, die "the length to which the actors in the tale will go to obtain their daily needs" („die Extreme, zu denen die Akteure der Märchen gehen, um ihre täglichen Bedürfnisse zu stillen“) behandelten.[7] Insgesamt jedoch die Merkmale des schwankhaften Tons und des David-gegen-Goliath-Themas in der internationalen Forschung auf Zustimmung, wie etwa die Ausführungen des mongolischen Folkloristen Chorloo zeigen.[8]

Abgrenzung von der Fabel

Das Tiermärchen wird häufig auch von Wissenschaftlern mit der Fabel gleichgesetzt, obwohl sich diese beiden Erzählformen in zwei zentralen Merkmalen deutlich unterscheiden. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass Fabeln zumeist über einen namentlich bekannten Verfasser verfügen. Prominente Beispiele sind Aesop und auch Lessing. Damit gehören Fabeln nicht im eigentlichen Sinne zu folkloristischen Erzählformen bzw. im engeren Sinne dem Märchen, das sich u.a. dadurch auszeichnet, dass „Verfasser, Entstehungszeit, –ort und –zweck unbekannt sind“.[9] Das andere wichtige Unterscheidungsmerkmal ist ihr inhärente und häufig explizit formulierte Moral, aufgrund derer diese literarische Gattung „im Gegensatz zum Märchen von ihrem Schöpfer wie vom Zuhörer als eine um der Nutzanwendung willen erfundene Geschichte empfunden“ wird.[10]

Beliebte Tierfiguren

Tiermärchen werden in jedem Kulturkreis der Erde erzählt. Daher unterscheiden sich die Figuren je nach der realen Fauna, aber auch nach den Lebensumständen der Menschen – Viehzüchter erzählen andere Tiermärchen als Ackerbauern oder Jäger. Da jedoch einige Tierarten fast auf der ganzen Welt verbreitet sind, sind sie auch in den Märchen der unterschiedlichsten Völker zu finde. Hierzu gehören z.B. der Hase, der Wolf und der Fuchs. Dennoch gibt es lokale Anpassungen. Während in vielen Kulturen die Tierfiguren keine Eigennamen haben, heißt der Fuchs in den russischen Tiermärchen Lisabeta Patrikejewna bzw. Iwanowa, ist also weiblich und häufig mit einem Wildkater namens Kotanail Iwanowitsch verheiratet, der der Bürgermeister von Sibirien ist.[11]

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Mizuyo Ashiya: Japanische und Deutsche Tiermärchen, besonders Fuchsmärchen, in ihrem Wesen und nach ihrer volkstumskundlichen Grundlage. Köln 1939, S. 10.
  2. Isidor Levin: Tiermärchen im Tadschikischen. In: Kontakte und Grenzen. Probleme der Volks-, Kultur- und Sozialforschung. Festschrift für Gerhard Heilfurth zum 60. Geburtstag. Hrsg. von seinen Mitarbeitern (Schriftleitung: Hans Friedrich Foltin, Ina-Maria Greverus, Joachim Schwebe; Endredaktion: Hans Friedrich Foltin unter Mitarbeit von Anselm Dworak, Wolfgang Göbel, Joachim Hintze, Dieter Kramer und Ulrich Löber) Göttingen 1969, S. 108f.
  3. Haney, Jack (Ed.): The Complete Russian Folktale. Edited and Translated with an introduction by Jack Haney. New York 1999, S. XX.
  4. Wilhelm Solms: Die Gattung Grimms Tiermärchen. In: Tiere und Tiergestaltige im Märchen. Im Auftrag der Europäischen Märchengesellschaft hrsg. von Arnica Esterl und Wilhelm Solms. Regensburg 1991, S. 195-215. Hier S. 201.
  5. Ashiya: Japanische und deutsche Fuchsmärchen, S. 9.
  6. Haney: An Introduction to the Russian Folktale, S. 8.
  7. Haney: An Introduction to the Russian Folktale, S. 8.
  8. Chorloo: Mongol ardyn javgan ülger [= Kurze Märchen der Mongolen]. Ulaanbaatar 1960, S. 31 + 46. (Studia Folclorica. Tomus 1. Fasciculus 8. Redigit Z. Damdinsüren)
  9. Rölleke: Märchen. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar. Hrsg. von Herald Fricke. Bd. 2, Berlin, New York 2000, S. 513.
  10. Max Lüthi: Märchen. 10., aktualisierte Auflage. Bearbeitet von Heinz Rölleke. Stuttgart 2004, S. 12.
  11. Haney: Russian Animal Tales, S. XXXV.

Weblinks


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