Vier-Seiten-Modell

Vier-Seiten-Modell

Das Vier-Seiten-Modell (auch Nachrichtenquadrat, Kommunikationsquadrat oder Vier-Ohren-Modell) von Friedemann Schulz von Thun ist ein Modell der Kommunikationspsychologie, mit dem eine Nachricht unter vier Aspekten oder Ebenen beschrieben wird: Sachinhalt, Selbstoffenbarung, Beziehung und Appell. Diese Ebenen werden auch als „vier Seiten einer Nachricht“ bezeichnet. Hintergrund ist die von Paul Watzlawick formulierte Erkenntnis, dass sich zwischenmenschliche Beziehungen anhand von Kommunikation beobachten lassen.[Einzelnachweis 1][Anmerkung 1] Das Ziel, für das dieses Modell verwendet wird, ist die Beschreibung von durch Missverständnissen gestörter Kommunikation und weiter gehend die Therapie problematischer, gestörter und pathologischer zwischenmenschlicher Beziehungen.[Einzelnachweis 2]

Mit dem Vier-Seiten-Modell kombiniert Schulz von Thun zwei psychologische und sprachtheoretische Analysen. Der Psychologe Paul Watzlawick postulierte, dass jede Aussage unter einem Inhaltsaspekt und einem Beziehungsaspekt verstanden werden könne (zweites Axiom)[Einzelnachweis 3]. Der Sprachtheoretiker Karl Bühler beschrieb im Organon-Modell sprachliche Zeichen anhand dreier semantischer Funktionen: Ausdruck, Appell und Darstellung.[Einzelnachweis 4] Solche Modelle sind in der Linguistik auch als Modelle der Sprachfunktionen geläufig.

Inhaltsverzeichnis

Die vier Seiten einer Nachricht

Graphische Darstellung des Vier-Seiten-Modells

Das übergeordnete Ziel bei dieser Modellbildung besteht darin, zu beobachten, zu beschreiben und zu modellieren, wie zwei Menschen sich durch ihre Kommunikation zueinander in Beziehung setzen. Dabei wendet Schulz von Thun sich den Äußerungen (den „Nachrichten“) zu. Diese können aus vier unterschiedlichen Richtungen angesehen und unter vier unterschiedlichen Annahmen gedeutet werden – dies sind die vier Aspekte oder Ebenen, die Schulz von Thun als „Seiten einer Nachricht“ bezeichnet:[Einzelnachweis 5]

  1. Auf die Sache bezogener Aspekt: die beschriebene Sache („Sachinhalt“, „Worüber ich informiere“)
  2. Auf den Sprecher bezogener Aspekt: dasjenige, was anhand der Nachricht über den Sprecher deutlich wird („Selbstoffenbarung“, „Was ich von mir selbst kundgebe“, siehe auch: Ich-Botschaft)
  3. Auf die Beziehung bezogener Aspekt: was an der Art der Nachricht über die Beziehung offenbar wird („Beziehung“, „Was ich von dir halte oder wie wir zueinander stehen“)[Anmerkung 2]
  4. Auf die beabsichtigte Wirkung bezogener Aspekt: dasjenige, zu dem der Hörer veranlasst werden soll („Appell“, „Wozu ich dich veranlassen möchte“)

Auf diese Weise kann die „Nachricht als Gegenstand der Kommunikationsdiagnose“ verwendet werden[Einzelnachweis 6][Anmerkung 3]. Störungen und Konflikte kommen zustande, wenn Sprecher und Hörer die vier Ebenen unterschiedlich deuten und gewichten. Das führt zu Missverständnissen und in der Folge zu Konflikten. Ein bekanntes, von Schulz von Thun in seinem Hauptwerk Miteinander Reden zuerst verwendetes Beispiel ist ein Paar im Auto vor der Ampel. Die Frau sitzt am Steuer, und der Mann sagt „Du, die Ampel ist grün!“ Die Frau antwortet: „Fährst du oder fahre ich?“.[Einzelnachweis 7] Die Äußerung kann in dieser Situation auf den vier Ebenen folgendermaßen verstanden werden: als Hinweis auf die Ampel, die gerade auf Grün geschaltet hat (Sachebene); als Aufforderung, loszufahren (Appell-Ebene), als Absicht des Beifahrers, der Frau am Steuer zu helfen, oder auch als Demonstration der Überlegenheit des Beifahrers über die Frau (Beziehungsebene); als Hinweis darauf, dass der Beifahrer es eilig hat und ungeduldig ist (Selbstoffenbarung). (Auch innerhalb jeweils einer Ebene sind unterschiedliche Deutungen möglich.) So kann der Beifahrer beispielsweise das Gewicht der Nachricht auf den Appell gelegt haben. Die Fahrerin könnte die Aussage des Beifahrers dagegen überwiegend als Herabsetzung oder Bevormundung auffassen. Dies wäre ein Beispiel für ein Missverständnis, das die Kommunikation stört, und das als Konflikt empfunden werden kann.

In Bezug auf den Hörer und seine Gewohnheiten erweitert Schulz von Thun das Vier-Seiten-Modell zu einem „Vier-Ohren-Modell“. Je ein Ohr steht für die Deutung einer der Aspekte: Das „Sach-Ohr“, das „Beziehungs-Ohr“, das „Selbstoffenbarungs-Ohr“ und das „Appell-Ohr“.[Einzelnachweis 8]

Sachebene / Sachinhalt

Auf der Sachebene vermittelt der Sprecher Daten, Fakten und Sachverhalte. Aufgaben des Sprechers sind Klarheit und Verständlichkeit des Ausdrucks. Mit dem „Sach-Ohr“ prüft der Hörer die Nachricht mit den Kriterien der Wahrheit (wahr/unwahr), der Relevanz (von Belang/belanglos) und der Hinlänglichkeit (ausreichend/ergänzungsbedürftig). In einem eingespielten Team verläuft dies meist problemlos.

Selbstoffenbarung

Jede Äußerung bewirkt eine nur teilweise bewusste und beabsichtigte Selbstdarstellung und zugleich eine unbewusste, unfreiwillige Selbstenthüllung (siehe Johari-Fenster). Jede Nachricht kann somit zu Deutungen über die Persönlichkeit des Sprechers verwendet werden. Das „Selbstoffenbarungs-Ohr“ des Hörers lauscht darauf, was in der Nachricht über den Sprecher enthalten ist (Ich-Botschaften).

Beziehungsebene

Auf der Beziehungsebene kommt zum Ausdruck, wie Sprecher und Hörer sich zueinander verhalten, und wie sie sich einschätzen. Der Sprecher kann – durch die Art der Formulierung, seine Körpersprache, Tonfall und anderes – Wertschätzung, Respekt, Wohlwollen, Gleichgültigkeit, Verachtung in Bezug auf den Anderen zeigen. Abhängig davon, was der Hörer im „Beziehungs-Ohr“ wahrnimmt, fühlt er sich entweder akzeptiert oder herabgesetzt, respektiert oder bevormundet.

Appell

Wer sich äußert, will in der Regel auch etwas bewirken. Mit dem Appell will der Sprecher den Hörer veranlassen, etwas zu tun oder zu unterlassen. Der Versuch, Einfluss zu nehmen, kann offen oder verdeckt sein. Offen sind Bitten und Aufforderungen. Verdeckte Veranlassungen werden als Manipulation bezeichnet. Auf dem „Appell-Ohr“ fragt sich der Empfänger: „Was soll ich jetzt denken, machen oder fühlen?“

Beispiel für eine durch Missverständnisse gestörte Kommunikation

Um Kommunikation zu beschreiben, die durch Missverständigung auf den verschiedenen Ebenen gestört wird, beschreibt Schulz von Thun als Beispiel die folgende Situation: Ein Mann und eine Frau sitzen beim Abendessen. Der Mann sieht Kapern in der Soße und fragt: „Was ist das Grüne in der Soße?“ Die Frau antwortet gereizt: „Mein Gott, wenn es dir hier nicht schmeckt, kannst du ja woanders essen gehen!“[Einzelnachweis 9]

Der Mann sagt: „Was ist das Grüne in der Soße?“ und meint damit auf den verschiedenen Ebenen:

Sachebene: Da ist was Grünes.
Selbstoffenbarung: Ich weiß nicht, was es ist.
Beziehung: Du wirst es wissen.
Appell: Sag mir, was es ist!

Die Frau versteht den Mann auf den verschiedenen Ebenen folgendermaßen:

Sachebene: Da ist was Grünes.
Selbstoffenbarung: Mir schmeckt das nicht.
Beziehung: Du bist eine miese Köchin!
Appell: Lass nächstes Mal das Grüne weg!

Nachrichten und darin enthaltene Botschaften

Nachrichten enthalten für Schulz von Thun explizite und implizite Botschaften. Beispiele für explizite Botschaften sind auf der Sachebene: „Es ist sehr heiß draußen“; auf der Ebene der Selbstoffenbarung: „Ich schäme mich“; auf der Beziehungsebene: „Du gefällst mir“, auf der Ebene der Beeinflussung: „Hol ein Bier!“. Implizit können die gleichen Botschaften beispielsweise aus dem folgenden Verhalten interpretiert werden: Jemand betritt den Raum und wischt sich die feuchte Stirn ab; jemand weicht dem Blick des anderen aus; jemand umarmt sein Gegenüber; jemand sagt, das Bier sei alle.[Einzelnachweis 10]

Nachrichten können als kongruent und inkongruent angesehen werden. Kongruent sind Nachrichten, wenn sie in sich stimmig sind, wenn also alle Signale auf allen Ebenen kompatibel sind. Von inkongruenten Nachrichten spricht man, wenn sprachliche und nichtsprachliche Signale widersprüchlich sind.[Einzelnachweis 11] An den vorgenannten Beispielen anknüpfend wären Nachrichten unstimmig, wenn der die Hitze Beklagende mit hochgeschlagenem Mantelkragen einträte, der vermeintlich Beschämte sein Gegenüber unverfroren mustert, der Sympathie Bekundende deutlich Distanz hält oder der einen Mangel an Bier Beklagende noch einige Flaschen neben sich auf dem Boden stehen hat.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Watzlawick stellt bezüglich zwischenmenschlicher Beziehungen fest: „Das Medium dieser Manifestationen ist die menschliche Kommunikation“, Paul Watzlawick, Janet H. Beavin, Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern, Stuttgart, Toronto 1969, S. 22.
  2. Dies geht aus den Untertiteln bekannter Werke hervor: Formen, Störungen, Paradoxien bei Watzlawick; Störungen und Klärungen bei Schulz von Thun.
  3. Paul Watzlawick, Janet H. Beavin, Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern, Stuttgart, Toronto 1969, S. 53 ff.
  4. Bühler, Karl: Sprachtheorie: die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart, New York 1982 (erste Auflage 1934)
  5. Zum Folgenden siehe Schulz von Thun, Friedemann: „Die Anatomie einer Nachricht“, in: Miteinander Reden. 1: Störungen und Klärungen, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 25-30
  6. Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander Reden. 1: Störungen und Klärungen, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 31
  7. Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander Reden. 1: Störungen und Klärungen, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 25
  8. Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander Reden. 1: Störungen und Klärungen, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 44 f.
  9. Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander Reden. 1: Störungen und Klärungen, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 62 f.
  10. Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander Reden. 1: Störungen und Klärungen, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 33 f.
  11. Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander Reden. 1: Störungen und Klärungen, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 35.

Anmerkungen

  1. Es ging Paul Watzlawick um die Hinwendung der Psychologie vom Einzelnen zur Beziehung zwischen Mehreren.
  2. Oft sind Situationen gemeint, in denen die Beziehungen gestört sind. Schulz von Thun verdeutlicht den Beziehungsaspekt an problematischen Situationen bei Paaren.
  3. Schulz von Thun verwendet die umgangssprachlichen Bezeichnungen „Sender“ und „Empfänger“. Diese werden hier durch die etwas genaueren Begriffe Sprecher und Hörer ersetzt.

Literatur

Weblinks


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