Biomacht

Biomacht

Der Begriff der Bio-Macht (französisch: le biopouvoir) geht auf Michel Foucault zurück und bezeichnet insbesondere die Problematisierung des modernen menschlichen Subjekts in der systemischen Produktion von Machtwirkungen auf Körper und Leben.

Bei Foucault reagiert die Bio-Macht auf das „Auftreten der Bevölkerung“ als ökonomisches und politisches Problem. Es entstehen Kontrolltechnologien der Macht, die Fortpflanzung, Geburten- und Sterblichkeitsrate, Gesundheitsniveau, Lebensdauer und Langlebigkeit mit allen ihren Variablen zum Gegenstand haben. Das Ziel der Bio-Macht bei Foucault ist die Regulation der Bevölkerung.

Giorgio Agamben, der die Analyse von Foucault fortschreiben will, versteht die Bio-Macht als Herrschaft des Souveräns über das „nackte Leben“. Das Leben selbst steht bei der Macht auf dem Spiel. Während Foucault Biomacht ausgehend von einem Normalzustand analysiert, wählt Agamben die Position des Ausnahmezustandes.

Inhaltsverzeichnis

Biomacht bei Michel Foucault

Foucault entwickelt den Begriff „Bio-Macht“ in „Sexualität und Wahrheit 1“, um damit eine neue Art von Machtmechanismus zu beschreiben: Während sich die Macht vorher über den Tod herleitete, entwickelt sich seit dem 17. Jahrhundert eine Macht, deren zentraler Fokus das Leben ist: „Man könnte sagen, das alte Recht [des Souveräns, d.V.] sterben zu machen oder leben zu lassen, wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen.“ [Hervorheb. im Original, d.V.] (Foucault 1977, 165)

Dieser neuen „Lebensmacht“ liegen auch neue Funktionsprinzipien zugrunde: „Diese Macht ist dazu bestimmt, Kräfte hervorzubringen, wachsen (zu) lassen und zu ordnen, anstatt sie zu hemmen, zu beugen oder zu vernichten.“ (Foucault 1977, 163). Für Foucault ist die logische Folge einer Machttechnologie, die sich auf das Leben richtet, die Normalisierungsgesellschaft. Weil es darum geht, das Leben zu sichern und auf eine bestimmte Art und Weise zu organisieren, werden die Subjekte an einer Norm gemessen, sie werden an ihr ausgerichtet und müssen vor ihr bestehen. „Statt die Grenzlinie zu ziehen, die die gehorsamen Untertanen von den Feinden des Souveräns scheidet, richtet sie [die Bio-Macht, d.V.] die Subjekte an der Norm aus, indem sie sie um diese herum anordnet. (…) Eine Normalisierungsgesellschaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie.“ (Foucault 1977, 172)

Die neue Macht ist um zwei Pole organisiert: Einerseits richtet sie sich auf den individuellen Körper (auf seine Zurichtung vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Zustände, die Steigerung seiner Nützlichkeit und die Ausnutzung seiner Kräfte), auf der anderen Seite auf den „Gattungskörper“ (die Regulierung der Bevölkerung). Auch das Selbstverhältnis der Individuen ändert sich: „Der abendländische Mensch lernt allmählich, was es ist, eine lebende Spezies in einer lebenden Welt zu sein, einen Körper zu haben, sowie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und kollektive Gesundheit, die man modifizieren, und einen Raum, in dem man sie optimal verteilen kann.“ (Foucault 1977, 170)

Ein extrem wichtiger Eingriffspunkt der neuen Macht ist die Sexualität. Er erlaubt den Zugang zum Individuum und über ihn funktioniert auch die Kontrolle der Bevölkerung. Er wird zu einer Angelegenheit des Staates und dem Gesundheitswesen sowie den Regeln einer Normalität untergeordnet. Foucault fasst unter anderem diese Entwicklungen unter dem Begriff des Sexualitätsdispositives zusammen. Damit sind machtstrategische Verknüpfungen von Diskursen und Praktiken gemeint, die sich rund um das Thema der Sexualität zu dieser Zeit bilden. Das Sexualitätsdispositiv wird zunächst im Bürgertum wirksam, das bald damit begann „seinen eigenen Sex als wichtige Sache, zerbrechlichen Schatz, unbedingt zu erkennendes Geheimnis zu betrachten.“ (Foucault 1977, 145)

Foucault geht davon aus, dass es bei der neuen Sexualpolitik nicht um Askese ging, sondern vielmehr um eine Konzentration auf den Körper, seine Gesundheit und seine Funktionen. Während das Symbol des Adels das Blut war, bediente sich das Bürgertum der neuen Technologie des Sexes zur Selbstaffirmation. Das Bürgertum „hat sich einen Körper gegeben, den es zu pflegen, zu schützen, zu kultivieren, vor allen Gefahren und Berührungen zu bewahren und vor den anderen zu isolieren galt, damit er seinen eigenen Wert behalte.“ (Foucault 1977, 148)

Es entsteht eine Klasse, die in der Sexualität den Zugang zur eigenen Identität, zum Körper und zur Selbsterkenntnis verortet. Der Sexualität scheint eine Wahrheit inne zu wohnen, die es zu erkennen gilt. Außerdem erhält die Gesundheit eine gesellschaftliche Aufwertung, es ist auf einmal von Bedeutung, sich um die eigene Gesundheit zu kümmern, sich gesund zu erhalten und diese Auffassung ist bis heute eng verknüpft mit dem Verständnis von Subjektivität. Die Sorge um die Sexualität war untrennbar mit der Sorge um die Gesundheit verbunden. Dieser Sorge inhärent ist die Abgrenzung vom Unerwünschten, von allem was bedrohlich, fremd und anders ist.

Technologien des Selbst

In den auf diesen Band folgenden Arbeiten in dem auf mehrere Bände angelegten Werk „Sexualität und Wahrheit“ ändert Foucault sein Konzept, er nimmt eine theoretische Verschiebung in Hinblick auf das Subjekt vor. Es geht nicht mehr in erster Linie um die Funktionsweisen der Diskurse, die auf das Subjekt einwirken, vielmehr entwickelt er unter Rückgriff auf die griechisch-römische Antike den Begriff der Technologien des Selbst. „Darunter [unter Selbsttechnologien, d.V.] sind gewusste und gewollte Praktiken zu verstehen, mit denen die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht.“ (Foucault 1993, 18)

Es handelt sich also um konkrete Handlungsstrategien und Lebensgestaltungsmöglichkeiten, mit denen sich das Subjekt selbst konstituieren kann.

Das Individuum wendet auf sich selbst Praktiken an, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, was jeweils im Zusammenhang mit seiner historisch und gesellschaftlich spezifischen Verortung steht, also Konsequenz der Macht ist, die im alltäglichen Leben spürbar ist (indem sie z.B. wirkt durch Einteilung der Individuen in Kategorien und der Verknüpfung von bestimmten Wahrheiten mit diesen). Somit hat „[das] Wort Subjekt (…) einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein.“ (Foucault 1994, 246f)

Das, was das Individuum als sein „Selbst“ wahrnimmt, als seine Identität, ist immer schon entstanden vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Verhältnisse:
„Identität ist (…) ein Vollzug – eine bewusste und unbewusste Tätigkeit in Auseinandersetzung mit kulturellen Deutungsmustern und Artefakten, die körperliche Erfahrung hervorrufen, die als Ausdruck des natürlichen Leibes interpretiert werden.“ (Duttweiler 2003, 32)

Um das Verhältnis von Subjektivierungsprozessen (die mit dem theoretischen Konzept der Technologien des Selbst nun konkreter erfassbar sind) und Machtmechanismen klären zu können, führt Foucault außerdem den Begriff der „Regierung“ ein: „Jenseits einer exklusiven politischen Bedeutung verweist Regierung (…) auf zahlreiche und unterschiedliche Handlungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf die Lenkung, Kontrolle, Leitung von Individuen und Kollektiven zielen und gleichermaßen Formen der Selbstführung wie Techniken der Fremdführung umfassen.“ (Lemke u.a. 2000, 10)

Siehe auch

Literatur

  • Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002
  • Giorgio Agamben: Ausnahmezustand, Frankfurt am Main 2004
  • Michel Foucault: Leben machen und sterben lassen. Die Geburt des Rassismus. In: Bio-Macht, DISS-Texte 25, Duisburg 1992
  • Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main 1977
  • Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, 3. Aufl. Frankfurt am Main 1993
  • Petra Gehring: Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-593-38007-2.
  • Margret Jäger / Siegfried Jäger / Ina Ruth / Ernst Schulte-Holtey / Frank Wichert (Hrsg.): Biomacht und Medien. Wege in die Bio-Gesellschaft. ISBN 3-927388-59-9.
  • Agnes Heller, Ferenc Feher: Biopolitik. Frankfurt am Main 1995, ISBN 3-593-35308-3.
  • Magiros, Angelika: Kritik der Identität. „Bio-Macht“ und „Dialektik der Aufklärung“. Zur Analyse (post-)moderner Fremdenfeindlichkeit – Werkzeuge gegen Fremdenabwehr und (Neo-)Rassismus. 2004, ISBN 3-89771-734-4.
  • Stefanie Duttweiler: Body-Consciousness – Fitness – Wellness – Körpertechnologien als Technologien des Selbst, In: Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich: Selbsttechnologien – Technologien des Selbst, Heft 87, Kleine Verlag März 2003
  • Thomas Lemke: Biopolitik zur Einführung, Hamburg: Junius 2007, ISBN 978-3-88506-635-4. (Rezension )
  • Thomas Lemke, Susanne Krasmann, Ulrich Bröckling: Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-518-29090-8.
  • Gerburg Treusch-Dieter: „Ihr werdet sein wie Gott“. Transpflanzungen im Menschenpark.- In: Theo Steiner(Hrsg.), genpool. biopolitik und körperutopien, Wien (Passagen Verlag) 2002, S. 107ff.
  • Macht, Leben, Widerstand. Zeitschrift Fantômas Nr. 2 (2002) [1]
  • Das regierte Leben – Die Bedeutung der Biopolitik nach Foucault. Zeitschrift Phase 2.17 (2005)
  • Röteln, Die (Hrsg.), 'Das Leben lebt nicht'. Postmoderne Subjektivität und der Drang zur Biopolitik, ISBN 3-935843-52-6.

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