Borelsche Algebra

Borelsche Algebra

Die borelsche σ-Algebra ist ein Begriff aus der Mathematik, der ein Scharnier zwischen den Zweigen Topologie und Maßtheorie bildet. Jeder Topologie lässt sich in eindeutiger Weise eine σ-Algebra zuordnen, die man die zugehörige borelsche σ-Algebra nennt.

Der Begriff ist nach dem Mathematiker Émile Borel benannt.

Inhaltsverzeichnis

Definition

Für einen gegebenen topologischen Raum Ω ist die borelsche σ-Algebra definiert als die kleinste σ-Algebra, die die offenen Mengen von Ω enthält. Die Elemente dieser σ-Algebra heißen Borelmengen.

Bemerkungen

  • Eine σ-Algebra auf einer Grundmenge Ω ist eine Menge von Teilmengen, die die Grundmenge enthält und die bezüglich Komplementbildung und abzählbarer Vereinigung abgeschlossen ist. Eine Grundmenge zusammen mit einer auf ihr erklärten σ-Algebra heißt auch Messraum.
  • Dass genau eine solche kleinste σ-Algebra existiert, wird im Absatz über den σ-Operator gezeigt.
  • Eine borelsche σ-Algebra ermöglicht es somit, einen topologischen Raum in kanonischer Weise mit der zusätzlichen Struktur eines Messraums auszustatten. Im Hinblick auf diese Struktur heißt der Raum dann auch Borel-Raum.
  • In der Literatur hat sich folgende von Hausdorff eingeführte Bezeichnung für manche einfache Klassen von Borelmengen durchgesetzt:[1],[2],[3]
- mit \operatorname F_\sigma werden alle Vereinigungen von abzählbar vielen abgeschlossenen Mengen bezeichnet,
- mit \operatorname G_\delta - alle Durchschnitte von abzählbar vielen offenen Mengen,
- mit \operatorname F_{\sigma\delta} - alle Durchschnitte von abzählbar vielen \operatorname F_\sigma-Mengen,
- mit \operatorname G_{\delta\sigma} - alle Vereinigungen von abzählbar vielen \operatorname G_\delta-Mengen,
- mit \operatorname F_{\sigma\delta\sigma} - alle Vereinigungen von abzählbar vielen \operatorname F_{\sigma\delta}-Mengen,
- mit \operatorname G_{\delta\sigma\delta} - alle Durchschnitte von abzählbar vielen \operatorname G_{\delta\sigma}-Mengen
usw.
Alle \operatorname F_\sigma, \operatorname G_\delta, \operatorname F_{\sigma\delta}, \operatorname G_{\delta\sigma}, \operatorname F_{\sigma\delta\sigma}, \operatorname G_{\delta\sigma\delta},...-Mengen sind Borelmengen. Dieses Schema ermöglicht aber nicht, alle Borelmengen zu beschreiben, weil die Vereinigung von allen diesen Klassen im Allgemeinen bezüglich der Axiome einer σ-Algebra noch nicht abgeschlossen ist.[4]
  • In der deskriptiven Mengenlehre bezeichnet man die offenen Mengen auch als \Sigma^0_1-Mengen, die \operatorname F_\sigma-Mengen als \Sigma^0_2-Mengen, die \operatorname G_{\delta\sigma}-Mengen als \Sigma^0_3-Mengen, etc. Komplemente von \Sigma^0_n-Mengen heißen \Pi^0_n-Mengen; so sind etwa die \Pi^0_2-Mengen genau die \operatorname G_\delta-Mengen.
  • Die Klasse der Borelmengen ist eine Unterklasse der Klasse der suslinschen (oder auch "analytischen") Mengen.[2]

Beispiele

Die borelsche σ-Algebra auf den reellen Zahlen

Die Menge \R der reellen Zahlen wird üblicherweise mit der Topologie ausgestattet, die durch die offenen Intervalle (a,b) mit rationalen Endpunkten aufgespannt wird. Obwohl man in Einzelfällen auch andere Topologien auf \R betrachtet, gilt diese als die kanonische Topologie auf \R, und die aus ihr abgeleitete borelsche σ-Algebra wird schlicht als die borelsche σ-Algebra auf \R bezeichnet. Sie enthält (aufgrund der Abgeschlossenheit einer σ-Algebra bezüglich der Komplementbildung) außer den offenen auch die abgeschlossenen Intervalle.

Die borelsche σ-Algebra von \R enthält nicht alle Teilmengen von \R. In der Maßtheorie zeigt man, dass alle Borelmengen Lebesgue-messbar sind; die umgekehrte Aussage gilt jedoch nicht, es gibt Lebesgue-messbare Mengen die keine Borelmengen sind. Diese Mengen unterscheiden sich jedoch nur um eine Menge vom Lebesgue-Maß 0 von einer Borelmenge.

Es lässt sich sogar darüber hinaus (wieder ohne Verwendung des Auswahlaxioms) eine surjektive Abbildung von den reellen Zahlen auf die Borelmengen angeben; daraus folgt, dass die borelsche σ-Algebra im Sinne der Kardinalzahlen echt kleiner als die Potenzmenge von \R ist. Mit Hilfe des Auswahlaxioms kann man daraus folgern, dass die borelsche σ-Algebra gleichmächtig zur Menge der reellen Zahlen selbst ist.

Die borelsche σ-Algebra auf endlichdimensionalen reellen Vektorräumen

Auf den endlichdimensionalen Vektorräumen \R^n wird die kanonische Topologie von den n-dimensionalen Quadern (a_1,b_1)\times\dotsb\times (a_n,b_n) mit rationalen Koordinaten ai und bi aufgespannt. Sie ist gleichzeitig die n-fache Produkttopologie der kanonischen Topologie auf \R. Die von ihr erzeugte borelsche σ-Algebra heißt analog zum eindimensionalen Fall die borelsche σ-Algebra auf \R^n.

Auf diese Art ist auch elegant die borelsche σ-Algebra der komplexen Zahlen erklärt: Man nutzt einfach die Vektorraumisomorphie zwischen \mathbb C und \R^2.

Anwendung

Die Menge Ω zusammen mit der borelschen σ-Algebra ist ein Messraum und liegt den Borel-Maßen als solcher zugrunde. Alle Elemente der borelschen σ-Algebra (die selbst Mengen sind) werden Borel-messbar genannt; nur diesen werden durch ein Borel-Maß Werte zugeordnet.

Einzelnachweise

  1. Koepke, P., Kanovei V., Deskriptive Mengenlehre in Hausdorffs Grundzügen der Mengenlehre, 2001, uni-bonn.de (pdf)
  2. a b Alexandroff P.S., Lehrbuch der Mengenlehre, Verlag Harri Deutsch, Frankfurt am Main, 1994, ISBN 3-8171-1365-X
  3. Natanson I.P., Theorie der Funktionen einer reellen Veränderlichen, Verlag Harri Deutsch, Frankfurt am Main, 1977, ISBN 3-87144-217-8 (auch in digitaler Form auf russisch bei INSTITUTE OF COMPUTATIONAL MODELLING SB RAS, Krasnojarsk)
  4. Bei \R^n z.B. ist es erst unter Zuhilfenahme von transfiniten Ordinalzahlen möglich, dieses System auf solche Weise fortzusetzen, dass alle Borelmengen von ihm erfasst werden (s. bairesche Klassen: Verbindung zu den borelschen Mengen). Es gibt aber auch topologische Räume, in denen bereits allein die \operatorname F_\sigma- und \operatorname G_\delta-Mengen die ganze Klasse der Borelmengen ausschöpfen, wie z.B. in einem T1-Raum mit abzählbar vielen Punkten. Mehr zu diesem Thema kann in Hausdorffs Mengenlehre (1927) nachgelesen werden.

Literatur

  • Sashi Mohan Srivastava: A course on Borels sets. Springer-Verlag, 1998, ISBN 0-387-98412-7

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