Der Mythos der Maschine

Der Mythos der Maschine

Der Mythos der Maschine ist ein Sachbuch des nordamerikanischen Forschers und Schriftstellers Lewis Mumford, das erstmals (in zwei Bänden) 1967/70 in den USA erschien. Die deutsche Ausgabe gibt den Titel verkürzt als Mythos der Maschine wieder. Ihr Untertitel deutet bereits die Spannweite und den kritischen Blickwinkel von Mumfords umfangreicher Untersuchung an: Kultur, Technik und Macht. Anhänger der Megamaschine – die Bezeichnung wurde von Mumford geprägt – werfen dem Werk des vor allem als Städtehistoriker und Architekturkritiker bekannten Autors gerne Kulturpessimismus vor; Gegner der Megamaschine handeln es als Geheimtipp.

Inhaltsverzeichnis

Grundzüge

Unter Megamaschine versteht Mumford das ganze System moderner westlicher Wirtschafts- und Lebensweise, das für ihn einen beängstigenden totalitären Anspruch vorbringt, von der Vorliebe für Kriege einmal abgesehen. Die Hauptvertreter der Megamaschine sind – man beachte die Entstehungszeit des Buches: eine „Globalisierung“ war noch unbekannt – der nordamerikanische und der sowjetische Imperialismus. Sie fußt auf dem mechanistischen Weltbild, das sich im Lauf der Renaissance durchsetzt: alle Dinge sind beherrschbar, weil und insofern sie quantifizierbar, nämlich messbar, vorhersagbar, wiederholbar sind. Geschichte, Kultur, Moral und das Subjekt überhaupt mit seinen Ängsten, Hoffnungen, Kraftquellen müssen dabei notwendig unter die Räder kommen, weil sie nicht quantifizierbar sind. Wie sich versteht, ist der Kapitalismus die gefundene Wirtschaftsform für eine Megamaschine. Mehrwert, höher, schneller, weiter – das sind ihre Devisen. Die Frage, welches Glück oder Unglück mit diesem Streben einhergehe – also die Frage nach der Qualität – klammert sie rigoros aus. Mumford arbeitet den zerstörerischen Charakter des westlichen „Fortschritts“ heraus, der sich bekanntlich unaufhaltsam beschleunigt. „Nur die destruktiven Prozesse sind schnell, nur die Entropie kommt ohne Mühe.“[1] Dem hält Mumford ein organisches Weltbild entgegen, mit dem das vielbeschworene „Wachstum“ der westlichen Marktwirtschaften nicht das Geringste zu tun hat. Zu einer Zeit, da es noch weitgehend Fremdwort ist, handelt Mumford ausführlich von Ökologie. Was er vernachlässigt, ist die Eigentumsfrage.

Tempel und Wolkenkratzer

Durch die zunächst verblüffende Parallele, bereits in den Bauzeiten ägyptischer Pyramiden und mesopotamischer Tempel den Vorläufer der modernen Megamaschine zu sehen, macht Mumford allerdings klar, dass weder Kapitalismus noch der sogenannte Fortschritt zum alleinigen Sündenbock taugen. Das Streben, „sich die Erde untertan zu machen“, ist älter als das Alte Testament. Andererseits legt Mumford zahlreiche Indizien für die Annahme vor, es habe vor den großen autoritären Königreichen (und außerhalb von ihnen) „Bremsen“ gegen dieses Streben geben. Er weist sie bis ins europäische Mittelalter und unser 19.Jahrhundert nach (Romantik, Lebensphilosophie, William Morris). „Sand im Getriebe“[2] einer Megamaschine sind vor allem selbstorganisierte dezentrale Strukturen, Handwerk und Polytechnik, umfassende Bildung statt Spezialistentum, Autonomie. Als Mumford seine Untersuchung abschloss, befand sich die weltweite Studentenrevolte auf ihrem Höhepunkt, die sich zumindest streckenweise die „Große Verweigerung“[3] auf die Fahnen geschrieben hatte: eben der Megamaschine gegenüber, die sich laut Mumford einem jahrtausendealten Prozess der Enteignung der Menschen von ihren Lebensgrundlagen verdankt. Allerdings sah Mumford auch schon das Aufgehen jener Rebellion in Kulturindustrie[4] voraus.[5]

Massenorganisationen

Neben Parallelen zur Frankfurter Kritischen Theorie kann Mumfords Arbeit eine Verwandtschaft mit Friedrich Georg Jüngers bahnbrechendem Werk Die Perfektion der Technik von 1953 bescheinigt werden. Möglicherweise kannte Mumford das vollständige Werk des deutschen Philosophen nicht. In seinem Literaturverzeichnis führt er lediglich eine auf Englisch erschienene Frühfassung The Failure of Technology von 1949 an. Auch für Jünger besteht die Megamaschine nicht nur aus Stahl oder Elektronik. Sie ist auch Propagandamaschine. Sie besitzt auch die bedeutende Fähigkeit Massen zu organisieren, was sich – für Mumford – schon beim Pyramidenbau oder bei den Feldzügen Alexander des Großen bewährte. Mumford ächtet Technik keineswegs generell. Er lehnt vor allem die moderne Großtechnik ab, die den Menschen zum Anhängsel der Maschine – und Spielball von „Experten“ macht, die nur noch technische Lösungen kennen. Sollte Mumford Des Teufels Wörterbuch seines Landsmanns Ambrose Bierce gelesen haben, dürfte ihm dessen Definition des Erfinders gefallen haben: „Einer, der Räder, Hebel und Federn einfallsreich kombiniert und das für Kultur hält.“[6] Mumford weist immer wieder auf die sozialen und geistigen Errungenschaften hin, die bei vielen Historikern – schon von der Betrachtung der Altsteinzeit an – unter den Tisch fallen, weil sie nicht so widerstandsfähig und handlich sind wie ein Faustkeil oder wie eine Dampfwalze. Nebenbei raubt Mumford dem modernen Menschen die Einbildung, die Industrialisierung sei dessen Errungenschaft. Sie verdankt sich vielmehr zahlreichen Erfindungen, die zwischen 1300 und 1800 gemacht wurden, so Wassermühle, Kanal, Segelschiff, Taschenuhr oder Erfindungen im Bergbau.[7] Den Sprung zur Groß- und Massenproduktion ermöglichte die explodierende Geldwirtschaft. Was Mumford vielleicht unterschätzt, ist die herausragende Rolle der Normierung, in der sich Geld beziehungsweise Tauschwert und Maschine glänzend treffen.[8]

Fülle

Mumford ist überaus belesen. Sein Werk lohnt schon allein deshalb die Lektüre, weil er eine Fülle an Zitaten, Portraits[9] und vor allem Fakten anführt, die oft bis ins Detail gehen. Mumford kennt Hund und Schwein als frühgeschichtliche Abfallvertilger, die Töpfe und Pfannen der mittelalterlichen Hausfrau, das genaue Volumen einer Raumkapsel und so weiter. Weniger stark ist Mumford als Dramaturg und Stilist. Er neigt zu Wiederholungen – sowohl seiner Urteile wie landläufig gern gebrauchter Wörter. Den Einsatz der Konjunktion dass betreibt er bis zum Exzess.

Wirkung

Die deutsche Übersetzung erschien zunächst 1974 im Europaverlag, dann 1977 bei S. Fischer in Frankfurt/Main. Diese Ausgabe erzielte bis 1986 sechs Auflagen (31.000 Exemplare). In der Brockhaus Enzyklopädie in Gestalt der 19.Auflage – der betreffende Band 15 erschien 1991 – ist Mumford befremdlicherweise überhaupt nicht vertreten. In Oesterdieckhoffs Lexikon der soziologischen Werke schreibt Arndt Emmert, neben Renewal of Life und The City sei der Mythos der Maschine Mumfords bedeutendstes Werk. In der Soziologie werde es allerdings nur spärlich bis gar nicht rezipiert, wohl wegen seines kulturpessimistischen Tonfalls. Von „entscheidender Bedeutung“ sei sein Einfluss auf Futurologie und Technologiekritik. Neil Postman habe Mumfords Technikkritik „kenntnisreich“ und „engagiert“ genannt.[10] Suchmaschinen liefern auf Eingabe des Buchtitels (im November 2010) um 20.000 Treffer. Danach wird das Buch durchaus öfter in Publikationen und Hochschulseminaren erwähnt oder verwertet.

Einzelnachweise

  1. Mumford, Ausgabe Frankfurt/Main November 1977, S. 782
  2. Günter Eich in seinem Hörspiel Träume, 1951
  3. Herbert Marcuse
  4. Adorno/Horkheimer
  5. Mumford S. 760 ff
  6. Ambrose Bierce: Des Teufels Wörterbuch, Ausgabe Zürich 1987, S. 33
  7. Etwa Schienen (für Loren), die zunächst aus Holz, zumeist Eiche, angefertigt wurden; s. Walter Porzig, Das Wunder der Sprache (1950), Ausgabe 1986 S. 31
  8. Auf diesen Aspekt geht beispielsweise Henner Reitmeier in seiner Betrachtung Öl fürs Herz ein, in: Die Brücke Nr. 143, 2007
  9. Besonders bemerkenswert: Charles Darwin, S. 776 ff
  10. Zitiert nach dieser Webseite, abgerufen 24. November 2010

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