Geschlechtervertrag

Geschlechtervertrag

Der Geschlechtervertrag bezeichnet in der feministisch orientierten Politikwissenschaft und Soziologie einen fiktiven Vertrag zwischen den Geschlechtern, der die Beziehungen zwischen beiden regelt und Frauen und Männern unterschiedliche Rechte und Pflichten zuweist.

Inhaltsverzeichnis

Ideengeschichte

Von Seiten der feministischen Theoriebildung wurde Kritik an der Vertragstheorie und dem liberalen Paradigma des Gesellschaftsvertrages laut. Carole Pateman stellte in ihrem 1988 erschienenen Buch The sexual contract dar, dass der Gesellschaftsvertrag, wie er in Abwandlungen von Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau postuliert wurde, nicht universell sei, sondern einen Vertrag unter Männern darstelle. Laut Pateman regelt er die Beziehungen zwischen Männern und schließt Frauen seit jeher aus der öffentlichen Sphäre aus.[1]

Dem gesellschaftlichen Grundvertrag liegt laut Pateman stets eine zweite Komponente, ein verdeckter Geschlechtervertrag, zu Grunde.[1] [2] Die moderne, gesellschafts-legitimierende, bürgerliche Vertragsidee basiere durch diesen verdeckten Geschlechtervertrag auf geschlechtsspezifischen Ausgrenzungen und Ausschließungen.[1]

Pateman kritisierte, dass der Geschlechtervertrag in der politischen Ideengeschichte nicht sichtbar gemacht worden sei.[2]

Beschreibung

Dem Konzept des Geschlechtervertrags liegt die Annahme zu Grunde, dass es „in allen modernen Gesellschaften einen historisch gewachsenen sozio-kulturellen Konsens über die jeweilige Ausprägung der Verkehrsformen der Geschlechter, ein gemeinsam von Männern und Frauen getragenes Leitbild und Lebensmuster über die ‘richtige’ Form der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die Familienform und die Art und Weise der Integration der beiden Geschlechter in die Gesellschaft über den Arbeitsmarkt und/oder über die Familie gibt“.[3]

Die Historikerin Yvonne Hirdman entwickelte zur Beschreibung der Positionen der Geschlechter in der schwedischen Gesellschaft ein Modell, das auf Geschlechtersystemen und Geschlechterverträgen basiert. Der Geschlechtervertrag ist laut Hirdman ein tradiertes aber veränderbares Übereinkommen über den Ort, die Tätigkeiten und die Eigenschaften von Männern und Frauen [4] und definiert zugleich die Beziehungen zwischen den Bereichen der Produktion und Reproduktion.[5]

Rezeption

Patemans Veröffentlichung wurde Ausgangspunkt zahlreicher Werke innerhalb der feministischen Theorie und wurde auch außerhalb dieser in der Politikwissenschaft weit rezipiert. Die Politikwissenschaftlerin Kathrin Braun sah Patemans Analyse als „die wohl einflussreichste politische Ideengeschichte innerhalb der feministischen Wissenschaft“ an.[6]

Bezüglich des Geschlechtervertrags wird auf eine zunehmende Vielfalt an Ausprägungen hingewiesen. Den meisten europäischen Staaten wird die Förderung und Aufrechterhaltung jeweils eines bestimmten Modells zugeschrieben. Die Politik der Europäischen Union hingegen wird als Förderung eines auf egalitärer Rollenteilung basierenden Modells interpretiert. In der Praxis sei jedoch von einer Vielfalt an Geschlechterverträgen innerhalb der Bevölkerung zu sprechen.[7]

Siehe auch

Literatur

Einzelnachweise

  1. a b c Evi Genetti: Das Geschlecht des modernen Staates. Überlegungen zur neueren Staatsdebatte. Abgerufen am 28. November 2009.
  2. a b Ellen Krause: Einführung in die politikwissenschaftliche Geschlechterforschung, ISBN 3-8100-3541-6, Leske + Budrich, S. 86-102. Darin: S. 87
  3. Sabine Schenk: Neu- oder Restrukturierung des Geschlechterverhältnisses in Ostdeutschland? In: Berliner Journal für Soziologie, Jg.5 (1995), H. 4, S. 475-488, 1995, Seite 478. Zitiert nach Geschlechtervertrag und Geschlechterarrangements in den neuen Bundesländern. Abgerufen am 28. November 2009.
  4. Hildegard Theobald: Frauen in leitenden Positionen in der Privatwirtschaft. Eine Untersuchung des schwedischen und deutschen Geschlechtervertrages. Mai 1998, abgerufen am 28. November 2009 (PDF, ISSN 1011-9523). S. 6
  5. Heidi Gottfried, Jacqueline O‘Reilly: Der Geschlechtervertrag in Deutschland und Japan: Die Schwäche eines starken Versorgermodells. Juli 2000, abgerufen am 28. November 2009 (PDF, ISSN 1011-9523). S. 4 f
  6. Ellen Krause: Einführung in die politikwissenschaftliche Geschlechterforschung, ISBN 3-8100-3541-6, Leske + Budrich, Opladen 2003, S. 86-102. Darin: S. 86
  7. Ann-Kristin Juntti-Henriksson: “May I buy strayberries?” A study of control of money and household spending in marriage in the northermost borderland of Sweden. August 2003, abgerufen am 29. November 2009 (PDF, engl.). S. 5

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