Stuttgarter Stadt-Glocke

Stuttgarter Stadt-Glocke
Kopfzeile der Stuttgarter Stadt-Glocke

Die Stuttgarter Stadt-Glocke war eine Zeitung, die von 1844 bis 1848 als Tag- und Nachtblatt in Stuttgart erschien.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Am 22. Dezember 1844 kam das erste Exemplar der Stuttgarter Stadt-Glocke, die täglich außer montags erscheinen sollte, heraus. Sie erreichte schon nach dem ersten Monat eine Auflage von über 1000 Exemplaren. Verleger war der Stadtrat und Buchdrucker Johann Gottfried Munder (* 1802).

Die Stuttgarter Stadt-Glocke verbreitete Fortsetzungsgeschichten historischen und vaterländischen Inhalts, angekündigt als Sagen oder Erzählungen, die mündlich oder schriftlich von früheren Generationen überliefert worden seien. Tatsächlich waren die Texte jedoch frei erfunden, was der Leserschaft indes offenbar nicht immer klar war: Der fiktive Held der ersten Serie war Anton Webercus, ein angeblich mehr als hundertjähriger Mann, der in Tagebuchform die Sittengeschichte des 18. Jahrhunderts niedergeschrieben haben sollte. Webercus, der angeblich am 1. April beim Abzählen von 500 Wäscheklammern gestorben war, fand Eingang in die Allgemeine Deutsche Biographie.[1]

Der Autor dieser Erzählungen bearbeitete nach und nach alle wichtigen Epochen der württembergischen Geschichte und nutzte als Handlungsorte für seine Sagen bekannte Stellen in und um Stuttgart. Ihn sicher zu identifizieren ist bislang nicht gelungen. Wurde beispielsweise die Sage vom Postmichel oft dem Bruder des Verlegers, dem Pfarrer Wilhelm Friedrich Munder (1799–1851), zugeschrieben, so gibt es für diese Annahme keinen Beleg außer einer ihrerseits unbelegten Behauptung Julius Hartmanns in der ADB.[2] Zweifelhaft wird diese vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Johann Gottfried Munder 1844 eine Gedichtsammlung unter dem Titel Poetische Versuche eines Buchdruckers in seinen Feierstunden herausbrachte, in der neben dem Postmichelthema auch weitere Stoffe, die später in der Stuttgarter Stadt-Glocke bearbeitet wurden, auftauchen. Möglicherweise war also der Verleger selbst, der im Zuge des Revolutionsgeschehens 1848/49 nach Amerika ausgewandert sein soll,[3] der Verfasser der Fortsetzungsgeschichten.

Nachwirkung

Relief auf dem Esslinger Postmichelbrunnen: Der kopflose Reiter

Nicht nur die hohen Auflagen und der Eintrag des fiktiven Herrn Webercus in der ADB zeugen von der regen Aufnahme der Stuttgarter Stadt-Glocke beim Publikum. Eduard Mörike etwa berief sich in seinem 1853 erschienenen Stuttgarter Hutzelmännlein auf eine angebliche Esslinger Hauschronik. Diese „Quelle“ war aber ebenfalls eine Erfindung, die durch die Stuttgarter Stadt-Glocke verbreitet worden war. Wörter wie „Morgenatz“ oder „Wiegentag“, die Mörike unter Berufung auf die Marchthalersche Hauschronik verwendet, gehen also offenbar auf einen der beiden Brüder Munder zurück.[4]

1849 kam das historische Unterhaltungsbuch Die Glocke bei Munder heraus, in dem zahlreiche Erzählungen aus der Stadt-Glocke wieder erschienen. Württemberg wie es war und ist, ein Volksbuch aus den Jahren 1854/55, das zahlreiche Auflagen erlebte, enthielt wiederum etliche dieser Erzählungen. Auch Friedrich Nick übernahm 1875 in seinem Stuttgarter Chronik und Sagenbuch (sic!) mehrere der Munderschen Texte wortwörtlich. Wilhelm Seytter verwendete sie in Unser Stuttgart 1904 erneut, ebenso tauchten sie im Sagenband der Württembergischen Volksbücher des Lehrer-Unterstützungs-Vereins 1905 wieder auf. Hedwig Lohß griff mit ihren 1936 und 1960 erschienenen Alt-Stuttgarter Sagen und Geschichten vorwiegend auf Nick zurück. Karl Gerok wiederum verwendete etliche Stoffe aus der Stuttgarter Stadt-Glocke für seine Gedichte.[5]

Die größte Bekanntheit erreichte wohl die angebliche Sage vom Postmichel. 1916 wurde in Esslingen der durch eine Stiftung finanzierte Postmichelbrunnen aufgestellt, zu dessen Gunsten extra ein Vorgängerbrunnen transloziert werden musste. Die Sage vom unschuldig hingerichteten Postmichel, der nach seinem Tod dem Scharfrichter und dem wahren Mörder des Amandus Marchthaler als kopfloser Reiter erscheint, wird auf den Reliefs des Brunnentroges veranschaulicht.[6]

Kritik

Im 20. Jahrhundert wurde an der Verbreitung „unechter“ Sagen heftige Kritik geübt. Bei Nick etwa erscheint eine Erzählung über einen angeblichen Moritzturm der Stuttgarter Leonhardskirche, der überhaupt nicht existiert: Erfunden wurde er, weil in den Annales Suevici des Martin Crusius, die hier offenbar als einzige Quelle herhalten mussten, ein Eintrag über den Augsburger Moritzturm durch ein Versehen des Druckers in den Abschnitt über Stuttgart geraten war. Daher wurde für Nicks Buch der Titel Stuttgarter Lügen-Chronik vorgeschlagen. Der Esslinger Stadtarchivar P. Eberhardt bezeichnete, erzürnt über den Postmichel-Kult in seiner Stadt, Munder abwertend als „Sagenfabrikant“.[7]

Einzelnachweise

  1. In einem Korrekturhinweis gab Julius Hartmann an, der Name Webercus’ laute richtig „Weberous“, der Mann sei jedoch aus der ADB zu streichen, da er vom Bruder des Verlegers erfunden worden sei.
  2. Den Namen des Pfarrers gibt J. Hartmann mit Wolf Friedrich Munder an. Der richtige Name dürfte jedoch Wilhelm Friedrich Munder gewesen sein, vgl. etwa Unterlagen des Landesarchivs.
  3. Klaus Graf, Sagen rund um Stuttgart, Braun Verlag 1995, ISBN 3-7650-8145-0, S. 56.
  4. Graf, S. 58
  5. Graf, S. 59
  6. Andrea Steudle u. a., Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Kulturdenkmale in Baden-Württemberg. Band 1.2.1. Stadt Esslingen am Neckar, Ostfildern 2009, ISBN 978-3-7995-0834-6, S. 101 und 113 f.
  7. Graf, S. 60

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