- Wissenssoziologische Diskursanalyse
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Die Wissenssoziologische Diskursanalyse (WDA) ist ein von Reiner Keller entwickeltes sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm[1] zur Analyse gesellschaftlicher Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken. Die WDA knüpft dazu an zentraler Stelle an die Wissenssoziologie Bergers und Luckmanns an, deren Mitte der 1960er Jahre erschienenes Werk „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“[2] zu den meistzitierten und meistgelesenen sozialwissenschaftlichen Publikationen überhaupt zählt. Etwa zur gleichen Zeit publizierte der französische Sozialphilosoph Michel Foucault „Die Ordnung der Dinge“[3] und wurde – zunächst in Frankreich, später im englischsprachigen Raum und mit großer Verspätung auch in Deutschland – zu einem der bekanntesten Denker der jüngeren Geschichte[4]. In der Fortführung von Berger und Luckmann etablierte sich in Deutschland die hermeneutische Wissenssoziologe und im Anschluss an Foucault entstanden zahlreiche diskursanalytische Ansätze. Reiner Kellers Forschungsprogramm der Wissenssoziologische Diskursanalyse verbindet beide Theorietraditionen, um die diskursive Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit unter einer weiteren Perspektive zu untersuchen, als dies mit dem Bezug zu nur jeweils einer Tradition möglich ist, da die hermeneutische Wissenssoziologie ihren Blick sehr stark auf die Individuen und deren "kleine Lebenswelten" richtet und die diskurstheoretischen Arbeiten umgekehrt das Wirken der Diskurse häufig ohne den Bezug zu den Akteuren untersuchen.
Inhaltsverzeichnis
Theoretische Grundlage der Wissenssoziologische Diskursanalyse
Kellers systematische Verknüpfung der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie Berger und Luckmanns (und dessen Fortführung im Programm der hermeneutischen Wissenssoziologie) mit den diskurstheoretischen Überlegungen Foucaultscher Provenienz ermöglicht es, sowohl die Entstehung und Zirkulation gesellschaftlichen Wissens („Wahrheit“) als auch die Handlungen der Individuen und deren Identitätskonstruktionen in den Blick zu nehmen und zu fragen, in welchem Machtverhältnis sie stehen. So kann man bspw. analysieren, wie in öffentlichen Diskursen (z.B. Medien) und in Spezialdiskursen (z.B. Wissenschaften) das Wissen über „Umweltbewusstsein“ produziert wird und welche Folgen dies für die Menschen hat, die sich als „umweltbewusste“ Individuen begreifen. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse geht davon aus, dass die diskursiv erzeugten Wahrheiten („Umweltbewusstsein“) jedoch keineswegs eine vollständig determinierende Wirkung auf die („umweltbewussten“) Individuen haben, vielmehr eigenen sich die Subjekte die an sie herangetragenen Wahrheiten mehr oder weniger eigensinnig an und gehen kreativ und auch widerständig mit den diskursiven Vorgaben um.
Durch den Einbau der Diskursperspektive in die neuere Wissenssoziologie wird deren theoretisches Gerüst für den Blick auf die Konstitutionsbedingungen von überindividuellen Wissensordnungen erweitert. Mit dem Verständnis von Diskursen als gegenstandskonstituierenden Aussagepraktiken und mit dem Vorschlag, Diskurse als ‘Kämpfe' und ‘Wahrheitsspiele' (Foucault) bzw. als ‘Definitionswettkämpfe' (Symbolischer Interaktionismus) zwischen sozialen Akteuren zu begreifen, erhalten machttheoretische Überlegungen eine zentrale Bedeutung. Im Unterschied zur engeren Foucaultschen Tradition betont die Wissenssoziologische Diskursanalyse jedoch die Kreativität der in Diskurse verstrickten sozialen Akteure.
Forschungspraxis
Mit der Verankerung der Wissenssoziologische Diskursanalyse in der qualitativen Sozialforschung besteht die Möglichkeit, das breite und bewährte Arsenal der empirischen Forschungsmethoden zu nutzen, um zu gesicherten Erkenntnissen über die jeweiligen Untersuchungsgegenstände zu gelangen. Ein weiterer Vorteil der Konzeption der WDA als Forschungsprogramm besteht darin, keinem starren oder dogmatisches System von theoretischen Vorgaben folgen zu müssen, vielmehr besteht die Möglichkeit, im Sinne der eigenen Forschungsfragen Modifikationen und Erweiterungen vorzunehmen. Damit ist sicherlich auch die Attraktivität und die Verwendung des Forschungsprogramms bei sehr unterschiedlichen Untersuchungsgegenständen zu erklären – das Spektrum reicht dabei über die Forschungsarbeit zu Geschlechterdispositiven in der Schule (Jäckle 2008), die an der sozialwissenschaftlichen Problemforschung orientierte Untersuchung von ‘Satanismus’ (Schmied-Knittel 2008) und die Analyse der kulturellen Einbettung von Deutungsmustern sozialer Bewegungen (Ullrich 2008) bis hin zu konversationsanalytisch inspirierten Analysen von Bewerbungsdiskursen und -gesprächen (Truschkat 2008).
Einzelnachweis
- ↑ Vgl. dazu Keller 2005, 2006, 2007a/b, 2008a, 2009
- ↑ Berger/Luckmann 1969
- ↑ Foucault 1974
- ↑ Keller 2008b
Literatur
- Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main 1969
- Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main 1974
- Reiner Keller: Wissenssoziologische Diskursanalyse als interpretative Analytik. In: Reiner Keller u.a.(Hrsg.): Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung. Konstanz 2005, S.49-75
- Reiner Keller: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen. 3.,aktualisierte Auflage. Wiesbaden 2007a
- Reiner Keller: Diskurse und Dispositive analysieren. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse als Beitrag zu einer wissensanalytischen Profilierung der Diskursforschung. In: Forum Qualitative Sozialforschung 8(2), Art. 19 [46 Absätze] 2007b
- Reiner Keller: Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. 2. Auflage. Wiesbaden 2008a
- Reiner Keller: Michel Foucault. Konstanz 2008b
- Reiner Keller: Wissenssoziologische Diskursanalyse. In: Reiner Keller u.a.(Hrsg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden 2006, S.115-146
- Reiner Keller: Der Müll der Gesellschaft. Eine wissenssoziologische Diskursanalyse. In: Reiner Keller u.a. (Hrsg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 2: Forschungspraxis. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden 2009, S.197-232
Anwendungen der WDA
- Sebastian Bechmann: Gesundheitssemantiken der Moderne. Eine Diskursanalyse der Debatten über die Reform der Krankenversicherung. Berlin 2007
- Gabriele Christmann: Dresdens Glanz, Stolz der Dresdner. Lokale Kommunikation, Stadtkultur und städtische Identität. Wiesbaden 2004
- Monika Jäckle: Schule als Geschlechterdispositiv. Wiesbaden 2008
- Reiner Keller: Müll - Die gesellschaftliche Konstruktion des Wertvollen. Opladen 1998
- Ina Schmied-Knittel: Satanismus und ritueller Missbrauch - eine wissenssoziologische Diskursanalyse. Würzburg 2008
- Inga Truschkat: Kompetenzdiskurse und Bewerbungsgespräche. Eine Dispositivanalyse (neuer) Rationalitäten sozialer Differenzierung. Wiesbaden 2008
- Peter Ullrich: Die Linke, Israel und Palästina. Nahostdiskurse in Großbritannien und Deutschland. Berlin 2008
Weblinks
- Netzwerk Wissenssoziologische Diskursanalye: Interdisziplinärer Zusammenschluss von Forschern, die mit der WDA arbeiten.
- Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS)
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